VwGH Ra 2017/09/0053

VwGHRa 2017/09/005322.2.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rosenmayr und die Hofräte Dr. Doblinger, Dr. Hofbauer, Mag. Feiel sowie die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Harrer, über die außerordentliche Revision des Dipl. Ing. B E in B, vertreten durch Dr. Roland Neuhauser, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Brahmsplatz 7/7, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 11. September 2017, Zl. VGW-171/083/1058/2015-9, betreffend Feststellung als Dienstunfall und Zuerkennung von Versehrtengeld und einer Versehrtenrente nach dem Unfallfürsorgegesetz 1967 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien - Magistratsdirektion Personalstelle Wiener Stadtwerke; weitere Partei: Wiener Landesregierung), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art6;
UFG Wr 1967 §16;
UFG Wr 1967 §6;
VwGG §42 Abs2 Z3;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Stadt Wien hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der im Jahr 1954 geborene Revisionswerber ist Dienstnehmer der Stadt Wien. Am 18. September 2014 geriet er auf dem Weg zu seinem Arbeitsort in einen Verkehrsunfall, bei welchem er schwer verletzt wurde.

2 Mit Bescheid vom 4. Dezember 2014 stellte der Magistrat der Stadt Wien fest, dass dieser Verkehrsunfall am 18. September 2014 keinen Dienstunfall im Sinne von § 2 Z 10 Unfallfürsorgegesetz 1967 (UFG 1967) LGBl. Nr. 8/1969 idF LGBl. Nr. 49/2013 darstelle und dem Revisionswerber (deshalb) weder eine Versehrtenrente noch ein Versehrtengeld nach §§ 6 und 16 UFG 1967 zuzuerkennen sei.

3 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers, worin dieser im Wesentlichen rügte, bislang kein Parteiengehör erhalten zu haben und u.a. die Einvernahme namhaft gemachter Zeugen begehrte, wies das Verwaltungsgericht Wien mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die ordentliche Revision für unzulässig. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung sah das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG ab.

4 Begründend führte das Verwaltungsgericht unter Verweis auf die maßgeblichen Rechtsvorschriften und Zitierung höchstgerichtlicher Judikatur zusammengefasst aus, ein Dienstunfall gemäß § 2 Z 10 lit. c UFG 1967 sei ein Unfall, der sich auf einem mit dem Dienstverhältnis zusammenhängenden Weg von oder nach dem ständigen Aufenthaltsort ereigne, wenn der Beamte wegen der Entfernung seines ständigen Aufenthaltsortes vom Ort der Dienstverrichtung an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft habe. Nach dem dieser Bestimmung vergleichbaren § 175 Abs. 2 Z 1 ASVG komme als "ständiger Aufenthalt" nur ein Ort in Betracht, der, obwohl eine tägliche Reise von und nach der Arbeitsstätte unwirtschaftlich und unzumutbar sei, noch als Mittelpunkt der privaten Lebensinteressen des Arbeitnehmers angesehen werden könne, weil er dem Zusammenleben der Familie und der Durchführung der sonst in der Wohnung erforderlichen Haushaltsverrichtungen diene und häufig und regelmäßig an arbeitsfreien Tagen auch aufgesucht werde. Ob eine Wohnung als Mittelpunkt der privaten Lebensinteressen der betreffenden Person bezeichnet werden könne, hänge von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles ab. Die gegenständliche Adresse, von wo der Revisionswerber am 18. September 2014 den Weg zu seinem Arbeitsplatz angetreten habe, sei nicht sein Hauptwohnsitz und er habe diese auch zusätzlich weder polizeilich noch seiner Dienststelle gemeldet gehabt; ausgehend von seinen Angaben, wonach er das an dieser Adresse befindliche Haus nur vorübergehend in den Sommermonaten benutzt habe, sei das Vorliegen eines ständigen Aufenthaltsortes im Sinn der dargelegten Judikatur zu verneinen. Der auf dem Weg von diesem Ort zur Arbeitsstätte erlittene Unfall sei daher nicht als Dienstunfall mit den entsprechenden Rechtsfolgen zu werten.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision. Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, die außerordentliche Revision zurückzuweisen bzw. diese als unbegründet abzuweisen.

 

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichts nach § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9 Soweit der Revisionswerber in seinem Vorbringen zur Zulässigkeit der Revision im Zusammenhang mit den von ihm gestellten Beweisanträgen und der behaupteten Ergänzungsbedürftigkeit des Ermittlungsverfahrens das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung rügt, erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.

10 Das Verwaltungsgericht kann gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer Verhandlung absehen, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) entgegenstehen.

11 Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher durchzuführen, wenn es um "civil rights" oder "strafrechtliche Anklagen" im Sinne des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Bei einem rechtswidrigen Unterlassen der nach Art. 6 EMRK erforderlichen mündlichen Verhandlung ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. VwGH 29.6.2017, Ra 2017/04/0036; 20.10.2015, Ra 2015/09/0051).

12 Bei dem im Revisionsfall strittigen Anspruch auf Versehrtenrente und Versehrtengeld handelt es sich um ein "civil right" im Verständnis der zitierten Konventionsbestimmung (vgl. zur Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz VwGH 27.4.2015, Ra 2015/11/0004; zu einem Entfall von Bezügen nach § 31 Abs. 4 DPL 1972 VwGH 13.9.2017, Ra 2017/12/0025; zur Bemessung einer Gesamtpension 27.5.2015, Ra 2014/12/0021; sowie zur Zuerkennung einer Beschädigtenrente nach dem Heeresversorgungsgesetz VfSlg. 18.827/2009 bzw. jüngst zur Zuerkennung einer Versehrtenrente VwGH 14.11.2017, Ra 2017/09/0042).

13 Das Verwaltungsgericht hätte sohin nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Da das Verwaltungsgericht dies verkannt hat, hat es das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet; schon deshalb war dieses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Vorbringen in der Revision einzugehen war.

14 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. Februar 2018

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte