VwGH Ra 2017/12/0099

VwGHRa 2017/12/009921.11.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Zens und Hofrätin Mag.a Nussbaumer-Hinterauer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Artmann, über die außerordentliche Revision des G Z in W, vertreten durch Dr. Martin Riedl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz Josefs Kai 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. April 2017, Zl. W106 2144446- 1/3E, betreffend Anrechnung von Vordienstzeiten für das Besoldungsdienstalter (vor dem Bundesverwaltungsgericht belangte Behörde: Landespolizeidirektion Wien), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs2;
GehG 1956 §12;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z3;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017120099.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber steht seit 1. September 2016 als Inspektor in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Bund.

2 Mit Bescheid der Landespolizeidirektion Wien vom 5. Oktober 2016 wurden ihm gemäß § 12 des Gehaltsgesetzes 1956, BGBl. Nr. 54 (im Folgenden: GehG), auf sein Besoldungsdienstalter drei Jahre, fünf Monate und 24 Tage angerechnet.

3 Nicht angerechnet wurden vom Revisionswerber geleistete freiwillige Waffenübungen, Milizübungen, Ausbildungsdienste und Auslandseinsatzpräsenzdienste.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber anwaltlich vertreten Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin vertrat er die Auffassung, dass die oben angeführten nicht angerechneten Zeiten (u.a.) aus dem Grunde des § 12 Abs. 3 GehG zu berücksichtigen gewesen wären. Er beantragte dazu seine Einvernahme als Partei. In einer Beschwerdeergänzung brachte er vor, er sei während seiner Dienstzeit beim Bundesheer u.a. als Rettungssanitäter und Einsatzfahrer eingesetzt gewesen und habe Personen- und Fahrzeugkontrollen sowie Buspatrouillen und mobile Patrouillen durchgeführt. Dabei habe er sich wesentliche soziale Kompetenzen, insbesondere den Umgang mit Menschen betreffend, aneignen können, die für die später verrichtete Arbeit als Polizeibeamter essentiell seien. Durch diese Tätigkeit sei ein erheblich höherer Arbeitserfolg durch die vorhandene Routine bei seiner "gegenständlichen Tätigkeit" gegeben. Auch hiefür bot er seine Einvernahme als Partei an.

5 Ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis die Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG iVm § 12 GehG als unbegründet ab. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 In den Tatsachenfeststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes heißt es:

"Es kann nicht festgestellt werden, dass die ihm Rahmen seiner geltend gemachten militärischen Tätigkeiten bei den freiwilligen Waffenübungen, Auslandseinsätzen und Milizübungen erworbenen sozialen Kompetenzen zu einer erheblich besseren Verwendbarkeit im Vergleich zu einer durchschnittlichen Berufseinsteigerin oder einem durchschnittlichen Berufseinsteiger führten, zumal der Verwendung im Polizeidienst auch eine zweijährige Ausbildungszeit vorauszugehen hat."

7 In rechtlicher Hinsicht ging das Bundesverwaltungsgericht zunächst davon aus, dass die in Rede stehenden Zeiten keinem der in § 12 Abs. 2 GehG angeführten Anrechnungstatbestände unterfielen.

8 Sodann heißt es:

"Es ist daher weiter zu prüfen, ob die geltend gemachten freiwilligen Waffenübungen, Auslandseinsätze und Milizübungen eine einschlägige Berufstätigkeit gemäß § 12 Abs. 3 GehG darstellen.

Nach den Erläuterungen zu dieser Bestimmung (RV 585 BlgNR 25. GP , S 8) kann eine Berufstätigkeit im Ergebnis nur dann einschlägig sein, wenn sie zu einer erheblich besseren Verwendbarkeit im Vergleich zu einer durchschnittlichen Berufseinsteigerin oder einem durchschnittlichen Berufseinsteiger führt. Dieser Vergleich ist zur Beurteilung stets anzustellen. Eine bloß fachverwandte Vortätigkeit genügt für sich alleine nicht für eine Anrechnung. Maßgeblich ist vielmehr stets die Frage der besseren Verwendbarkeit. Ein Indiz zur Beurteilung der Verwendbarkeit ist dabei vor allem die Frage, ob die Bedienstete oder der Bedienstete deutlich schlechter verwendbar wäre, wenn man sich die zu beurteilende Vordienstzeit wegdenkt - also ob dann z. B. längere fachliche Einarbeitung und Einschulung auf dem neuen Arbeitsplatz notwendig wäre, oder ob die Bedienstete oder der Bedienstete die Aufgaben für einen beachtlichen Zeitraum mangels Routine nur deutlich langsamer oder deutlich fehleranfälliger erfüllen könnte.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Vortätigkeit oder ein Studium dann von besonderer Bedeutung im Sinne des § 12 Abs. 3 GehG, wenn der durch die Vortätigkeit bzw. das Studium verursachte Erfolg der Verwendung als Beamter ohne die Vortätigkeit nur in einem beträchtlich geringeren Ausmaß gegeben wäre. Dabei ist auf den Zeitpunkt des Beginns des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses als Beamter und die Tätigkeit abzustellen, die dieser bei Antritt des Dienstes auszuüben hatte, und nicht auf sonstige vorübergehende oder zukünftige Verwendungen oder auf Tätigkeiten, die der Beamte - etwa in einem dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis vorangegangenen vertraglichen Dienstverhältnis - ausgeübt hatte. Der Beurteilung der besonderen Bedeutung für die erfolgreiche Verwendung ist grundsätzlich nicht mehr als der Zeitraum eines halben Jahres nach Beginn des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses zugrunde zu legen. Es sind die konkret erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu berücksichtigen, wobei wesentlich ist, welche tatsächlichen Tätigkeiten der Beamte zu Beginn seines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses auf Grund seiner Anstellung zu verrichten hatte, mit welchem Erfolg er diese Tätigkeiten besorgt hat und ob (fallbezogen) das Studium für den Verwendungserfolg als Beamter (im Sinn eines ‚Quantensprunges') ursächlich gewesen war. Trifft Letzteres zu und wäre der durch die Vortätigkeit bzw. das Studium verursachte Verwendungserfolg ohne diese Vortätigkeit (das Studium) nur in einem beträchtlich geringeren Maße gegeben gewesen, dann ist die Vortätigkeit (das Studium) für die erfolgreiche Verwendung als Beamter von besonderer Bedeutung im Sinne des § 12 Abs. 3 GehG (vgl. dazu VwGH 11.12.2013, 2013/12/0115, mwN aus der ständigen Judikatur des VwGH).

Im Beschwerdefall gibt es keine Anhaltspunkte, dass der Verwendungserfolg des BF im Polizeidienst im Zeitraum des ersten halben Jahres nach seiner Ernennung zum Inspektor (E2b) durch die während der geltend gemachten militärischen Tätigkeiten erworbenen ‚sozialen Kompetenzen, insbesondere den Umgang mit Menschen betreffend' zu einer erheblich besseren Verwendbarkeit (im Sinn eines ‚Quantensprunges') im Vergleich zu einem durchschnittlichen Berufseinsteiger führte, zumal infolge der Unterschiedlichkeit der militärischen und der exekutiven Tätigkeiten auch die da wie dort erworbenen bzw. zu erwerbenden sozialen Kompetenzen völlig unterschiedliche sind und überdies der Verwendung im Polizeidienst auch eine zweijährige Ausbildung vorauszugehen hat. Es ist davon auszugehen, dass während dieser Vorbereitungszeit auch die für den Polizeidienst erforderlichen spezifischen Kompetenzen erworben werden.

Es ist somit nicht als rechtswidrig zu erkennen, wenn die Behörde die vom BF geltend gemachten militärischen Tätigkeiten nicht als einschlägige Vordienstzeiten im Verständnis des § 12 Abs. 3 GehG idF BGBI I. Nr. 64/2016 berücksichtigte."

9 Die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht wie folgt:

"Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

Gemäß der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK kann eine mündliche Verhandlung unter bestimmten Voraussetzungen unterbleiben, etwa wenn der Fall auf der Grundlage der Akten und der schriftlichen Äußerungen der Parteien angemessen entschieden werden kann (EGMR 12.11.2002, 28.394/95, Döry vs. Schweden; 08.02.2005, 55.853/00, Miller vs. Schweden).

Da sich im vorliegenden Fall der Sachverhalt aus den Akten ergibt bzw. die wesentlichen Fakten als notorisch bekannt anzusehen sind, kann von einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden."

10 Die Revision sei unzulässig, weil die Entscheidung weder von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche noch eine solche Rechtsprechung fehle. Auch sei die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den hier maßgeblichen Fragen nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision vor dem Verwaltungsgerichtshof. Der Revisionswerber macht Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Erkenntnisses sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften mit dem Antrag geltend, der Verwaltungsgerichtshof möge in der Sache entscheiden; hilfsweise wird die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses aus den geltend gemachten Gründen beantragt.

12 Die Landespolizeidirektion Wien erstattete eine Revisionsbeantwortung, in welcher die Abweisung der Revision als unbegründet beantragt wird.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13 In seiner Zulässigkeitsbegründung wirft der Revisionswerber u.a. die Frage auf, ob das Bundesverwaltungsgericht vorliegendenfalls zu Recht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen habe.

14 In der Ausführung der Revision wird auch u.a. die Nichtdurchführung der mündlichen Verhandlung gerügt.

15 Mit diesem Zulassungsgrund zeigt die Revision eine grundsätzliche Rechtsfrage auf, weil das Bundesverwaltungsgericht in Verkennung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vom Fehlen einer Verhandlungspflicht ausgegangen ist:

16 Die hier angefochtene, das Besoldungsdienstalter betreffende Entscheidung der Dienstbehörde erging über "civil rights" im Verständnis des Art. 6 EMRK, weil sie unmittelbare Auswirkungen auf das dem Revisionswerber zustehende Gehalt zeitigt (vgl. zur entsprechenden Situation bei Feststellungen des Vorrückungsstichtages VwGH 9.9.2016, Ro 2015/12/0025, Rn 79).

17 Im vorliegenden Fall lag zunächst kein ausdrücklicher Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vor. Zwar gilt, dass ein Verzicht auf eine nach Art. 6 MRK gebotene mündliche Verhandlung etwa dann anzunehmen ist, wenn ein rechtskundig vertretener Beschwerdeführer keinen Verhandlungsantrag stellt. Dieser Grundsatz erfährt freilich eine Einschränkung, wenn eine anwaltlich vertretene Partei zwar keinen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung stellt, jedoch in ihrem Rechtsmittel Personalbeweise begehrt werden (vgl. zu all dem etwa VwGH 18.9.2015, Ra 2015/12/0012).

18 Zur Beurteilung der für eine Anrechnung gemäß § 12 Abs. 3 GehG maßgeblichen Frage der "Einschlägigkeit" der vom Revisionswerber geleisteten Militärdienste war maßgeblich, ob ihm hiedurch eine fachliche Erfahrung vermittelt wurde, durch die eine fachliche Einarbeitung auf seinem neuen Arbeitsplatz überwiegend unterbleiben konnte oder ein erheblich höherer Arbeitserfolg durch die vorhandene Routine zu erwarten war. Die diesbezügliche Beurteilung ist u.a. auch von Tatsachenfragen abhängig, sodass die nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR zulässigen Ausnahmen von der Verhandlungspflicht gemäß Art. 6 Abs. 1 MRK für nicht übermäßig komplexe Rechtsfragen oder hochtechnische Fragen nicht Platz greifen (vgl. hiezu etwa VwGH 13.9.2017, Ra 2016/12/0118, mwH).

19 Die in diesem Zusammenhang maßgeblichen Tatsachenfragen, insbesondere die vom Revisionswerber erworbene Erfahrung und ihre Nutzbarkeit zu Beginn seines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses können jedenfalls in ihrer Gesamtheit auch nicht als "notorisch" qualifiziert werden (welche konkreten Sachverhaltsfeststellungen das Gericht in diesem Zusammenhang als notorisch qualifiziert, lassen die Entscheidungsgründe des angefochtenen Erkenntnisses offen).

20 Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus den vom Bundesverwaltungsgericht zitierten Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte:

21 In diesem Zusammenhang mag es zutreffen, dass das Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung kein absolutes ist, sondern eine solche unter außerordentlichen Umständen auch unterbleiben kann (vgl. EGMR 8.2.2005, Miller/Schweden, 55853/00, Z 29). Freilich bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass vorliegendenfalls derartige außergewöhnliche Umstände vorliegen könnten. Das eben zitierte Urteil des EGMR kann hiefür schon deshalb nicht ins Treffen geführt werden, weil dort eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 MRK angenommen wurde. Demgegenüber wurde eine solche Verletzung in EGMR 12.11.2002, Döry/Schweden, 28394/95, verneint, wobei hiefür folgende Umstände ausschlaggebend waren:

22 1. Der Verhandlungsantrag wurde nach schlüssigem Verzicht auf eine Verhandlung vor dem erstinstanzlichen Gericht überhaupt erst vor dem Berufungsgericht gestellt.

2. Es handelte sich um eine Streitigkeit sozialversicherungsrechtlicher Natur.

3. Auf der Sachverhaltsebene waren ausschließlich medizinische Sachverständigenfragen strittig, wobei die Partei keine Personalbeweise vor dem Berufungsgericht beantragt hat.

23 Der hier vorliegende Fall ist mit jenem, welcher dem vorzitierten Urteil des EGMR zugrunde lag, in keiner Weise vergleichbar.

24 Wie in VwGH 27.5.2015, Ra 2014/12/0021, dargelegt wurde, führt ein Verstoß des Verwaltungsgerichtes gegen die aus Art. 6 Abs. 1 MRK abgeleitete Verhandlungspflicht auch ohne nähere Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG, sofern sich der Verwaltungsgerichtshof - wie im vorliegenden Fall - nicht veranlasst sieht, in der Sache selbst zu entscheiden.

25 Bei diesem Ergebnis muss auf weiteres Revisionsvorbringen - auch wenn es zum Revisionsgrund der inhaltlichen Rechtswidrigkeit erstattet wird - nicht mehr eingegangen werden (vgl. hiezu die bereits zitierten hg. Erkenntnisse vom 27.5.2015 und vom 13.9.2017).

26 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 21. November 2017

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