VwGH Ra 2017/09/0014

VwGHRa 2017/09/001424.5.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rosenmayr und die Hofräte Dr. Doblinger, Dr. Hofbauer und Mag. Feiel sowie die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schachner, über die außerordentliche Revision des A D in W, vertreten durch Dr. Metin Akyürek, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Köstlergasse 1/23, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 6. Februar 2017, Zl. VGW-041/073/3444/2016-11, betreffend Bestrafung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien, Magistratisches Bezirksamt für den 22. Bezirk), zu Recht erkannt:

Normen

11997E039 EG Art39;
62006CJ0294 Payir VORAB;
62009CJ0014 Hava Genc VORAB;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art6;
AuslBG §28 Abs1;
AuslBG §3 Abs1;
AuslBG §4c Abs1;
AuslBG §4c Abs2;
AuslBG §4c;
EURallg;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vor dem Verwaltungsgericht vom 22. Februar 2016 wurde der Revisionswerber schuldig erkannt, er habe es als unbeschränkt haftender Gesellschafter der A KG (Anonymisierungen durch den Verwaltungsgerichtshof) und damit als gemäß § 9 Abs. 1 VStG zur Vertretung nach außen berufenes Organ zu verantworten, dass die A KG den türkischen Staatsangehörigen G von 14. Juli 2015 bis 17. November 2015 geringfügig beschäftigt habe, für welchen keine der im Einzelnen aufgezählten arbeitsmarktrechtlichen Bewilligungen erteilt oder Bestätigungen ausgestellt gewesen seien. Wegen der dadurch begangenen Verwaltungsübertretung wurde über den Revisionswerber gemäß § 28 Abs. 1 Z 1 lit. a iVm § 3 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) eine Geldstrafe in Höhe von EUR 1.200,-- (Ersatzfreiheitsstrafe ein Tag und sechs Stunden) verhängt.

2 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision für unzulässig.

3 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, G erfülle lediglich die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses des Assoziationsrates Nr. 1/80 (ARB Nr. 1/80). Eine Beschäftigung in der Dauer von drei Jahren bei demselben Arbeitgeber liege unstrittig nicht vor und sei nicht behauptet worden. Auch aus dem gesamten Akteninhalt lasse sich nicht entnehmen, dass G bereits die zeitlichen Voraussetzungen des zweiten Gedankenstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 aufgewiesen hätte. G könne sich daher bei seiner Tätigkeit für die A KG nicht auf eine Berechtigung gemäß Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB Nr. 1/80 berufen, hätte er hierfür doch zunächst die Voraussetzungen des zweiten Gedankenstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 erfüllen müssen. Die A KG hätte sohin für G eine Beschäftigungsbewilligung beantragen müssen.

4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten durch das Verwaltungsgericht und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

5 Gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichts nach § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

7 Der Revisionswerber stützt sich in seinem Vorbringen zur Zulässigkeit der Revision darauf, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es davon ausgehe, G müsse die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich ARB Nr. 1/80 bzw. sogar jene des dritten Gedankenstriches leg. cit. erfüllen, damit der Revisionswerber G ohne Beschäftigungsbewilligung legal beschäftigen dürfe. Eine Beschäftigungsbewilligung stelle lediglich ein deklaratives Bescheinigungsmittel zum Beweis der Berechtigung zur Beschäftigung dar, der Anspruch entstehe bereits unmittelbar aufgrund des ARB Nr. 1/80. Eine Bestrafung gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 28 Abs. 1 AuslBG wegen Beschäftigung eines gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 berechtigten türkischen Arbeitsnehmers komme daher nicht in Betracht.

8 Weiters unterscheide der Verwaltungsgerichtshof nicht, "nach welchem Gedankenstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80" ein türkischer Arbeitnehmer seine Berechtigung ableite. Es sei sohin nicht notwendig, dass G die Voraussetzungen des zweiten bzw. dritten Gedankenstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 erfülle, bereits die Erfüllung der Voraussetzungen des ersten Gedankenstriches leg. cit. genüge, um einen auf Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 gestützten Rechtsanspruch auf Weiterbeschäftigung beim selben Arbeitgeber zu begründen. Aus dem Versicherungsdatenauszug sei ersichtlich, dass G in der Zeit von 12. Juni 2013 bis 13. Juli 2015 ununterbrochen beim Revisionswerber beschäftigt gewesen sei und somit die Voraussetzung der einjährigen ordnungsgemäßen Beschäftigung bei dem gleichen Arbeitgeber erfülle.

9 Mit diesem Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig; sie ist auch berechtigt:

10 § 4c AuslBG, BGBl. Nr. 218/1975 idF BGBl. I Nr. 72/2013, lautet:

"§ 4c. (1) Für türkische Staatsangehörige ist eine Beschäftigungsbewilligung von Amts wegen zu erteilen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 erster und zweiter Unterabsatz oder nach Art. 7 erster Unterabsatz oder nach Art. 7 letzter Satz oder nach Artikel 9 des Beschlusses des Assoziationsrates EWG-Türkei - ARB - Nr. 1/1980 erfüllen.

(2) Türkischen Staatsangehörigen ist von Amts wegen ein Befreiungsschein auszustellen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 dritter Unterabsatz oder nach Art. 7 zweiter Unterabsatz des ARB Nr. 1/1980 erfüllen. Der Befreiungsschein berechtigt zur Aufnahme einer Beschäftigung im gesamten Bundesgebiet und ist jeweils für fünf Jahre auszustellen. Der Befreiungsschein ist zu widerrufen, wenn der Ausländer im Antrag über wesentliche Tatsachen wissentlich falsche Angaben gemacht oder solche Tatsachen verschwiegen hat.

(3) Die Rechte türkischer Staatsangehöriger auf Grund der sonstigen Bestimmungen dieses Bundesgesetzes bleiben unberührt. Für die Verfahrenszuständigkeit und die Durchführung der Verfahren gemäß Abs. 1 und 2 gelten, soweit dem nicht Bestimmungen des ARB Nr. 1/1980 entgegenstehen, die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes."

11 Art. 6 des Beschlusses des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom 19. September 1980, Nr. 1/80, über die Entwicklung der Assoziation (ARB) lautet:

"Artikel 6

(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat

(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.

(3) Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt."

12 Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zufolge ist Voraussetzung für die Inanspruchnahme eines Rechts aus Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 zunächst die Eigenschaft des türkischen Staatsangehörigen als Arbeitnehmer, dass dieser sohin eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübe. Solche Tätigkeiten blieben außer Betracht, die wegen ihres geringen Umfangs völlig untergeordnet und unwesentlich seien (vgl. das Urteil des EuGH vom 24. Jänner 2008, C-294/06 , Payir, Rn 28). In seinem Urteil vom 4. Februar 2010, C-14/09 , Hava Genc, hat der EuGH den Fall der Beschäftigung einer türkischen Staatsangehörigen als Raumpflegerin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 5,5 Stunden beurteilt und dazu ausgeführt, dass aus dem Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür bestehen könne, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich seien. Doch lasse sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus seiner Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit auf Grund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden könne und es somit ermögliche, der Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 39 EG zuzuerkennen. Bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses seien nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub von 28 Tagen, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrages in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie der Umstand, dass ihr Arbeitsverhältnis mit demselben Unternehmen bereits beinahe vier Jahre bestanden habe (Rn 26f des angeführten Urteils; vgl. dazu auch das hg. Erkenntnis vom 26. Juni 2012, 2010/09/0234).

13 Im vorliegenden Fall bejahte das Verwaltungsgericht das

Vorliegen der Voraussetzungen gemäß

Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB Nr. 1/80. Nach seinen

Feststellungen (siehe Seite 6 des angefochtenen Erkenntnisses) war

G wie folgt beschäftigt: "12.6.2013 bis 31.7.2014; (A) KG ... Ab

1.8.2014 bis 30.9.2014 ... als Arbeiter in der Firma des

(Revisionswerbers), ... ab 1.10.2014 ... erneut geringfügig." Das

Verwaltungsgericht hat sich aber mit der Frage des

Beschäftigungsausmaßes nicht näher auseinandergesetzt und keine

Feststellungen getroffen, die es ermöglichen würden, zu

beurteilen, ob im Revisionsfall eine "tatsächliche und echte

Tätigkeit" im Sinne der wiedergegebenen Rechtsprechung des EuGH

vorlag. Indem das Verwaltungsgericht dies unterlassen hat, hat es

das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes

belastet.

14 Erst bei Bejahung der Frage des Vorliegens einer "tatsächlichen und echten" Beschäftigung hätte sich das Verwaltungsgericht mit den weiteren Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 zu befassen gehabt. Zu diesen ist Folgendes festzuhalten:

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass die sich aus Art. 6 ARB Nr. 1/80 ergebenden individuellen Rechte dem türkischen Arbeitnehmer unmittelbar zustehen. Die gemäß Art. 6 ARB Nr. 1/80 bestehenden Rechte können vom Berechtigten unmittelbar geltend gemacht werden, weshalb deren Ausübung die Erteilung einer nach § 4c Abs. 1 AuslBG ausgestellten Beschäftigungsbewilligung oder eines nach § 4c Abs. 2 leg. cit. ausgestellten Befreiungsscheines nicht voraussetzt. Einer Beschäftigungsbewilligung oder einem Befreiungsschein gemäß § 4c AuslBG kommt für die Anerkennung der aus dem ARB Nr. 1/80 erfließenden subjektiven Rechte Beweisfunktion zu und es besteht - bei Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 6 ARB Nr. 1/80 - ein subjektiv-öffentliches Recht auf deren Ausstellung nach dieser Bestimmung. Aus diesem Grund kommt diesfalls auch eine Bestrafung gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 28 Abs. 1 AuslBGwegen Beschäftigung eines gemäß Art. 6 ARB Nr. 1/80 berechtigten türkischen Arbeitnehmers ohne eine solche Bewilligung oder Bestätigung nicht in Betracht (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 18. Dezember 2012, 2010/09/0185, sowie vom 23. Mai 2002, 2000/09/0212, mwN).

16 Sollte im Beschäftigungszeitraum von 12. Juni 2013 bis 13. Juli 2015 eine tatsächliche und echte Tätigkeit bei der A KG im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung des EuGH vorliegen, hätte G im verfahrensgegenständlichen Zeitraum bei Zugrundelegung der Feststellungen des Verwaltungsgerichts die tatbestandlichen Voraussetzungen des ersten Gedankenstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 erfüllt und er hätte sich unmittelbar auf diese Bestimmung berufen können. Die Erfüllung der Voraussetzungen des zweiten oder gar des dritten Gedankenstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 wäre für die rechtmäßige Weiterbeschäftigung des G bei demselben Arbeitgeber, und somit die Einholung einer Bewilligung oder Bestätigung durch den Revisionswerber, nicht erforderlich gewesen.

17 Aus den oben angeführten Gründen war das angefochtene Erkenntnis daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

18 Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

19 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. Mai 2017

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