VwGH Ro 2015/21/0026

VwGHRo 2015/21/002615.10.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Revision des J T in W, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. April 2015, Zl. W186 2106212- 1/5E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs3;
32008L0115 Rückführungs-RL;
AufwandersatzV VwGH 2014;
AVG §57 Abs1;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
BFA-VG 2014 §22a Abs3;
BFA-VG 2014 §52 Abs1;
BFA-VG 2014 §52 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs3;
FrPolG 2005 §80 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §48;
VwGVG 2014 §40 idF 2013/I/033;
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs3;
32008L0115 Rückführungs-RL;
AufwandersatzV VwGH 2014;
AVG §57 Abs1;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
BFA-VG 2014 §22a Abs3;
BFA-VG 2014 §52 Abs1;
BFA-VG 2014 §52 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs3;
FrPolG 2005 §80 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §48;
VwGVG 2014 §40 idF 2013/I/033;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Revisionswerber, ein polnischer Staatsangehöriger, war mit rechtskräftigem Bescheid der Landespolizeidirektion Wien vom 5. November 2013 gemäß § 66 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden. Da er über keine Reisedokumente verfügte, erging am 24. Februar 2014 ein Ersuchen um Ausstellung eines Heimreisezertifikates, dem am 11. März 2014 (einlangend bei der Fremdenpolizeibehörde am 13. März 2014) entsprochen wurde. Am 17. März 2014 wurde der Revisionswerber aus Österreich nach Polen abgeschoben.

Nach seiner - neuerlich ohne Reisedokumente erfolgten - Wiedereinreise nach Österreich verhängte das Bezirksgericht Klosterneuburg über ihn mit rechtskräftigem Urteil vom 20. Februar 2015 wegen der Vergehen der sexuellen Belästigung, versuchten Körperverletzung und Sachbeschädigung eine (unbedingte) dreimonatige Freiheitsstrafe. Diese verbüßte der Revisionswerber zur Gänze - unter Anrechnung einer Vorhaft - bis zum 9. April 2015.

Mit Bescheid vom 9. April 2015 verhängte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) über den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG deshalb sowie unter Berücksichtigung davor in der Schweiz und in Liechtenstein begangener Straftaten, derentwegen über ihn eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verhängt worden war (laut eigener Aussage vom 9. April 2015 hatte der Revisionswerber Diebstähle, Einbrüche und Sachbeschädigungen begangen), ein für die Dauer von drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Gemäß § 70 Abs. 3 FPG wurde dem Revisionswerber kein Durchsetzungsaufschub erteilt. Einer allfälligen Beschwerde gegen dieses Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Mit Note vom 9. April 2015 ersuchte das BFA die Bundesministerin für Inneres, "via Vertretungsbehörde die Beantragung eines Heimreisezertifikates zu veranlassen", weil der Revisionswerber nicht im Besitz eines Reisepasses sei.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 9. April 2015 ordnete das BFA gegenüber dem Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 1 FPG die Schubhaft (insbesondere) zum Zweck der Sicherung seiner Abschiebung an.

Begründend verwies es auf den unangemeldeten Aufenthalt des arbeits-, mittel- und unterkunftslosen Revisionswerbers in Österreich, der sich zudem in seinen früheren fremdenpolizeilichen Verfahren unkooperativ verhalten habe. Er verfüge über keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte in Österreich. Zudem vergrößere seine wiederholte erhebliche Delinquenz das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Durchsetzung seiner Abschiebung. Es sei daher die Schubhaft zu deren Sicherung geboten, wäre sonst doch davon auszugehen, dass sich der Revisionswerber dem Verfahren durch Untertauchen entziehen würde. Die bloße Anwendung gelinderer Mittel wäre aufgrund des Fehlens eines festen Wohnsitzes, beruflicher Bindungen sowie finanzieller Mittel nicht ausreichend.

Die gegen den Schubhaftbescheid, die Anordnung der Schubhaft sowie die fortdauernde Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 22. April 2015 gemäß § 76 Abs. 1 FPG iVm § 7 Abs. 1 Z 1 und 3 BFA-VG als unbegründet ab (Spruchpunkt A I). Unter einem stellte es gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 1 FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin vorlägen (Spruchpunkt A II). Weiters wies das BVwG den Antrag des Revisionswerbers auf Kostenersatz gemäß § 35 VwGG ab (Spruchpunkt A III). Den Antrag auf unentgeltliche Beigebung eines Verfahrenshelfers wies es als unzulässig zurück (Spruchpunkt A IV). Schließlich wurde die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für zulässig erklärt (Spruchpunkt B).

Begründend teilte das BVwG die Ansicht des BFA zum Vorliegen erheblicher Fluchtgefahr, die auch für den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses fortdauere. Aufgrund dieses Verfahrensergebnisses scheitere gemäß § 35 Abs. 3 VwGVG das Kostenersatzbegehren des unterlegenen Revisionswerbers. Die von ihm - neben der bereits erfolgten Beistellung eines Rechtsberaters - beantragte unentgeltliche Beigebung eines Verfahrenshelfers sei in Verfahren über Schubhaftbeschwerden vor dem BVwG nicht vorgesehen.

Die Revision wurde mit Spruchteil B im Hinblick auf die unklare Rechtsnatur der Schubhaftbeschwerde (Bescheid- oder Maßnahmenbeschwerde), damit im Zusammenhang stehenden Kostenfragen und die Frage der "Beigebung eines Verfahrenshelfers in Schubhaftverfahren" zugelassen.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet), über die dieser nach Aktenvorlage erwogen hat:

In der Revision wird unter anderem ins Treffen geführt, es hätte sich schon während der Anhaltung des Revisionswerbers in Strafhaft (namentlich zwischen der Urteilsverkündung am 20. Februar 2015 und der Entlassung aus dem Vollzug am 9. April 2015) hinreichend Gelegenheit geboten, dessen Abschiebung durch Einholung eines Heimreisezertifikates vorzubereiten, wobei der dafür erforderliche Zeitaufwand aus den Vorgängen zwischen 24. Februar und 13. März 2014 bekannt gewesen sei. Die Schubhaft erweise sich daher jedenfalls als unverhältnismäßig.

Damit wird der Sache nach zutreffend ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufgezeigt.

Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes darf Schubhaft stets nur "ultima ratio" sein. Dem entspricht nicht nur die in § 80 Abs. 1 FPG ausdrücklich festgehaltene behördliche Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauere, vielmehr ist daraus auch abzuleiten, dass die Behörde (das BFA) schon von vornherein angehalten ist, im Fall der beabsichtigten Abschiebung eines Fremden ihre Vorgangsweise nach Möglichkeit so einzurichten, dass Schubhaft überhaupt unterbleiben kann. Unterlässt sie das, so ist die Schubhaft unverhältnismäßig. Demzufolge erweist sich die Verhängung von Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung im Anschluss an eine Strafhaft regelmäßig als unverhältnismäßig, wenn die Fremdenpolizeibehörde (das BFA) auch zum absehbaren Ende einer Strafhaft hin mit der (versuchten) Beschaffung eines Heimreisezertifikates untätig bleibt. Das muss auch auf den Fortsetzungsausspruch durchschlagen. Eine sich aus (hier nicht naheliegenden) Umständen des Einzelfalles ergebende andere Sicht wäre jedenfalls nachvollziehbar zu begründen gewesen (vgl. zum Ganzen die hg. Erkenntnisse vom 19. Mai 2011, Zl. 2008/21/0527, vom 25. April 2014, Zl. 2013/21/0209, und vom 19. Mai 2015, Ro 2015/21/0008).

Ungeachtet der vom Revisionswerber zwischen 9. Jänner und 9. April 2015 (unter Berücksichtigung der Vorhaft) verbüßten, mit Urteil vom 20. Februar 2015 über ihn verhängten dreimonatigen Freiheitsstrafe ging das BVwG in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses nicht auf den in der Beschwerde erhobenen Einwand ein, das BFA hätte ausreichend Zeit gehabt, die Abschiebung nach Polen bis zur Beendigung der Strafhaft zu organisieren. Ebenso wie das BFA im Schubhaftbescheid hat es auch keine Umstände ins Treffen geführt, die es im vorliegenden Fall ausnahmsweise gestattet hätten, mit dem Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbots und den weiteren Schritten zur Organisation der Abschiebung des Revisionswerbers erst nach dem Ende der Strafhaft zu beginnen.

Schon deshalb sind die mit Spruchpunkt A I bis III vorgenommenen Aussprüche über die Zulässigkeit der Verhängung und Fortsetzung der Schubhaft sowie die damit im Zusammenhang stehende Kostenentscheidung am Maßstab der dargestellten Judikatur inhaltlich rechtswidrig.

Aber auch Spruchpunkt A IV des angefochtenen Erkenntnisses ist mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet. Die Zurückweisung des vom Revisionswerber gestellten Antrages auf Beigebung eines Verfahrenshelfers erweist sich nämlich aus den im hg. Erkenntnis vom 3. September 2015, Ro 2015/21/0032, Punkte 3.1. bis 3.4. der Entscheidungsgründe, näher dargestellten Überlegungen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, als verfehlt.

Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren im Umfang eines ERV-Zuschlages von EUR 3,60 war abzuweisen, weil dieser im Pauschalbetrag der genannten Verordnung bereits enthalten ist.

Von der Durchführung der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 15. Oktober 2015

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