VwGH 2012/22/0119

VwGH2012/22/011920.8.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der C, vertreten durch Dr. Helmut Klementschitz, Rechtsanwalt in 8011 Graz, Friedrichgasse 6, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 3. November 2011, Zl. 159.744/2-III/4/11, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §68 Abs1;
FrÄG 2011;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §65b idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §66;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §43 Abs3;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2013:2012220119.X00

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid bestätigte die belangte Behörde gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 iVm § 41a Abs. 9 "bzw." § 43 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) die in erster Instanz mit Bescheid vom 12. Juli 2011 erfolgte Zurückweisung des Antrages der Beschwerdeführerin, einer Staatsangehörigen von Ghana, ihr aus humanitären Gründen einen Aufenthaltstitel zu erteilen.

Begründend führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerin sei am 20. Juni 2005 unrechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist und habe am selben Tag einen Asylantrag gestellt. Ihrem Asylbegehren sei in erster Instanz keine Folge gegeben worden. Gegen sie sei auch eine Ausweisung erlassen worden. Ihrer dagegen erhobenen Beschwerde sei vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 24. Jänner 2011 nicht Folge gegeben und somit auch die gegen sie ergangene Ausweisung bestätigt worden.

Der am 16. Februar 2011 von der Beschwerdeführerin gestellte Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" gemäß (dem im Antragszeitpunkt geltenden) § 44 Abs. 3 NAG sei infolge der am 1. Juli 2011 in Kraft getretenen Novelle des NAG "gleichzusetzen mit einem Antrag gemäß § 41a Abs. 1 Z 9" (gemeint: § 41a Abs. 9) "bzw. § 43 Abs. 3 NAG".

Zu diesem Antrag habe die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark darauf verwiesen, dass bereits im Ausweisungsverfahren vom Asylgerichtshof die geltend gemachte sprachliche, berufliche, soziale und gesellschaftliche Integration der Beschwerdeführerin berücksichtigt worden wäre. Insbesondere wäre auch auf die Eheschließung mit einem österreichischen Staatsbürger Bedacht genommen worden. Die Ehe würde jedoch ohne Hinzutreten weiterer berücksichtigungswürdiger Faktoren, wie Sprachkenntnis sowie berufliche und soziale Integration, nicht ausreichen, um einen Anspruch auf einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet begründen zu können.

In ihrer dazu erstatteten Stellungnahme - so die belangte Behörde in ihrer Begründung weiter - habe die Beschwerdeführerin neuerlich auf ihre Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger, der monatlich durchschnittlich EUR 1.300,-- verdiene, hingewiesen. Sie habe außerdem ausgeführt, dass sie voll integriert wäre und sehr gut Deutsch spräche. Ein "Sprachzeugnis" habe sie allerdings nicht vorgelegt.

Die belangte Behörde folgerte schließlich, dass dem Vorbringen der Beschwerdeführerin ein - seit Erlassung der Ausweisung bis zu der mit erstinstanzlichem Bescheid vom 12. Juli 2011 erfolgten Zurückweisung ihres Antrages - maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht entnommen werden könne. Die in erster Instanz ausgesprochene Zurückweisung sei somit zu bestätigen.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 27. Juni 2012, B 1459/11-8, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Im vorliegenden Fall kommt im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (8. November 2011) das NAG idF BGBl. I Nr. 38/2011 (Fremdenrechtsänderungsgesetz 2011 - FrÄG 2011) zur Anwendung.

Gemäß § 41a Abs. 9 NAG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen (§ 44a NAG) oder auf begründeten Antrag (§ 44b NAG), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zu erteilen, wenn

1. kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG vorliegt,

2. dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, und

3. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 14a NAG) erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine Erwerbstätigkeit ausübt.

§ 43 Abs. 3 NAG sieht vor, dass im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen (§ 44a NAG) oder auf begründeten Antrag (§ 44b NAG), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine "Niederlassungsbewilligung" zu erteilen ist, wenn 1. kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt und

2. dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist.

Liegt kein Fall des § 44a Abs. 1 NAG vor, sind gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG Anträge gemäß § 41a Abs. 9 oder § 43 Abs. 3 NAG als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Ausweisung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 NAG ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.

Die Beschwerdeführerin lässt unbestritten, dass sie vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 24. Jänner 2011 rechtskräftig ausgewiesen wurde. Ihr Antrag - ungeachtet dessen, dass die belangte Behörde offen ließ, ob es sich dabei nach der hier maßgeblichen Rechtslage um einen solchen nach § 41a Abs. 9 oder § 43 Abs. 3 NAG gehandelt hat - war daher gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG zurückzuweisen, es sei denn, es wäre im Hinblick auf maßgebliche Sachverhaltsänderungen seit der ergangenen Ausweisung eine Neubeurteilung im Hinblick auf Art. 8 EMRK erforderlich gewesen. Dabei haben nach der Erlassung der erstinstanzlichen Entscheidung eingetretene Umstände keinen Einfluss auf die Beurteilung, ob die auf § 44b Abs. 1 Z 1 NAG gegründete Antragszurückweisung von der Behörde erster Instanz zu Recht vorgenommen wurde.

Der Sache nach ist der Zurückweisungsgrund des § 44b Abs. 1 Z 1 NAG der Zurückweisung wegen entschiedener Sache (§ 68 Abs. 1 AVG) nachgebildet. Die zu § 68 Abs. 1 AVG entwickelten Grundsätze für die Beurteilung, wann eine Änderung des Sachverhalts als wesentlich anzusehen ist, können daher auch für die Frage, wann maßgebliche Sachverhaltsänderungen im Sinn des § 44b Abs. 1 Z 1 NAG vorliegen, herangezogen werden.

Demnach ist eine Sachverhaltsänderung dann wesentlich, wenn sie für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die rechtskräftige Entscheidung gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann. Die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheides (bezogen auf § 44b Abs. 1 Z 1 NAG: eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK) muss also zumindest möglich sein; in dieser Hinsicht hat die Behörde eine Prognose zu treffen. Dabei ist die Wesentlichkeit der Sachverhaltsänderung nach der Wertung zu beurteilen, die das geänderte Sachverhaltselement in der seinerzeitigen Entscheidung erfahren hat (vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom 19. September 2012, 2012/22/0114, mit Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 13. September 2011, Zlen. 2011/22/0035 bis 0039).

Auch einer Antragszurückweisung gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG hat eine Beurteilung im Hinblick auf Art. 8 EMRK voranzugehen. Dies ist zwar nur im Rahmen der Prognose, ob die seit Erlassung der rechtskräftigen Ausweisung eingetretenen Sachverhaltsänderungen eine andere Beurteilung nicht als ausgeschlossen erscheinen lassen, vorzunehmen. Bei dieser Prognose sind aber die nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände jedenfalls soweit einzubeziehen, als zu beurteilen ist, ob es angesichts dieser Umstände nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann, dass im Hinblick auf früher maßgebliche Erwägungen eine andere Beurteilung nach Art. 8 EMRK nunmehr geboten sein könnte.

Mit anderen Worten: eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK muss sich zumindest als möglich darstellen. Eine solche Beurteilung ist letztlich nur unter Bedachtnahme auf den gesamten vorliegenden Sachverhalt möglich (vgl. auch dazu das bereits erwähnte Erkenntnis vom 19. September 2012, in dem der Verwaltungsgerichtshof zudem verfassungsrechtliche Bedenken des dortigen Beschwerdeführers nicht geteilt hat).

Dies bedeutet aber nun auch, dass die Behörde bei ihrer Beurteilung, ob ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG zurückzuweisen ist, auch Änderungen der Rechtslage, wenn diese auf die Beurteilung nach Art. 8 EMRK Einfluss haben können, zu berücksichtigen hat. Ist nämlich eine Rechtslagenänderung dergestalt, dass bestimmten Sachverhalten schon nach der (späteren) Bewertung des Gesetzgebers im Rahmen der Beurteilung nach Art. 8 EMRK ein anderes Gewicht (zugunsten) eines Fremden zukommen soll als zuvor, kann nicht mehr davon gesprochen werden, die früher im Ausweisungsverfahren erfolgte Beurteilung nach Art. 8 EMRK könnte auch für spätere Beurteilungen immer noch entscheidungsmaßgeblich sein. Demgemäß hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung immer betont, dass aus dem engen Zusammenhang der Berücksichtigung humanitärer Gründe im Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung und im Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels eine Verknüpfung folgt, welche das Ergebnis der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Ausweisungsverfahren jedenfalls bei gleich gebliebenen Umständen - was nicht nur den gleichen Sachverhalt, sondern auch die gleiche maßgebliche Rechtslage bedeutet - auch für die auf Art. 8 EMRK gestützte Erteilung eines (humanitären) Aufenthaltstitels als relevant erscheinen lässt (vgl. statt vieler wiederum das schon angeführte Erkenntnis vom 19. September 2012).

Für den hier gegenständlichen Fall bedeutet dies Folgendes:

Die gegen die Beschwerdeführerin erlassene Ausweisung wurde nach der Rechtslage des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) und des FPG vor dem FrÄG 2011 erlassen, nach der im Fall des Ehepartners eines österreichischen Staatsbürgers, der sein ihm unionsrechtlich zustehendes Recht auf Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen hat, die Erlassung einer Ausweisung bloß wegen des unrechtmäßigen Aufenthalts grundsätzlich als zulässig anzusehen war.

Im für die gegenständliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides der erstinstanzlichen Behörde war allerdings bereits das FrÄG 2011, mit dem (u.a.) das FPG, das NAG und das AsylG 2005 geändert wurden, in Kraft getreten.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 18. Oktober 2012, Zl. 2012/22/0111, darauf hingewiesen, dass die Niederlassungsbehörde (ab Inkrafttreten des FrÄG 2011) bei ihrer Beurteilung nach Art. 8 EMRK auch zu berücksichtigen hat, dass seit der mit dem FrÄG 2011 geänderten Rechtslage infolge der Bestimmung des § 65b FPG die Ausweisung eines Ehegatten eines österreichischen Staatsbürgers, selbst wenn letzterer sein ihm unionsrechtlich zustehendes Recht auf Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen hat, nur aus den in § 66 FPG genannten Gründen zulässig ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 15. Mai 2012, Zl. 2011/18/0255). Stellt sich nach der gemäß dieser Bestimmung vorzunehmenden Beurteilung eine Ausweisung trotz des (allfälligen) unrechtmäßigen Aufenthalts als nicht zulässig dar, kann nicht gesagt werden, dem unrechtmäßigen Aufenthalt könne bei der im Sinn des Art. 8 EMRK vorzunehmenden Interessenabwägung (noch) ein derartiges Gewicht beigemessen werden, sodass es gerechtfertigt wäre, deswegen den begehrten Aufenthaltstitel zu versagen.

Dieser Änderung der Rechtslage kommt die Eignung zu, im Rahmen der im vorliegenden Fall anzustellenden Beurteilung, ob die Antragszurückweisung nach § 44b Abs. 1 Z 1 NAG gerechtfertigt ist, einen solchen Einfluss auszuüben, die es geboten erscheinen lässt, neuerlich eine umfassende inhaltliche Beurteilung nach Art. 8 EMRK vornehmen zu müssen. Sohin erweist sich die Antragszurückweisung als nicht dem Gesetz entsprechend.

Nach dem Gesagten hat die belangte Behörde ihren Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Er war daher aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 20. August 2013

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