VwGH 2012/22/0114

VwGH2012/22/011419.9.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der A, vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Universitätsstraße 8/2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 10. Mai 2012, Zl. 155.479/11-III/4/11, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §68 Abs1;
MRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;
AVG §68 Abs1;
MRK Art8;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid bestätigte die belangte Behörde die in erster Instanz ausgesprochene Zurückweisung des von der Beschwerdeführerin, einer türkischen Staatsangehörigen, am 25. Oktober 2010 eingebrachten Antrages auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt" gemäß § 41a Abs. 9 und § 44b Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

In ihrer Begründung wies die belangte Behörde zunächst darauf hin, dass infolge des In-Kraft-Tretens des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011 (FrÄG 2011; 1. Juli 2011) der noch davor gestellte Antrag der Beschwerdeführerin nach den damit geänderten Bestimmungen als auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" nach § 41a Abs. 9 NAG gerichtet zu werten sei.

Der Beschwerdeführerin seien seit dem Jahr 2000 mehrfach Aufenthaltstitel erteilt worden. Zuletzt habe sie über eine bis 4. Dezember 2009 gültige "Aufenthaltsbewilligung - Studierender" verfügt. Wegen nicht ausreichenden Studienerfolgs sei der Verlängerungsantrag vom 13. November 2009 im Instanzenzug abgewiesen worden. Einer dagegen gerichteten Beschwerde habe der Verwaltungsgerichtshof am 24. Juni 2010 (zur Zl. 2010/21/0125) keine Folge gegeben.

Mit Bescheid vom 2. Mai 2010 habe die Bundespolizeidirektion Leoben gegen die Beschwerdeführerin eine Ausweisung wegen unrechtmäßigen Aufenthalts erlassen. Diese - von der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark bestätigte - Ausweisung sei seit 11. Oktober 2010 rechtskräftig und durchsetzbar. (Einem Antrag auf Gewährung der Verfahrenshilfe zur Bekämpfung des die Ausweisung verfügenden letztinstanzlichen Bescheides wurde vom Verwaltungsgerichtshof zur Zl. VH 2010/21/0190 nicht stattgegeben. Die Erhebung einer Beschwerde gegen den Ausweisungsbescheid ist beim Verwaltungsgerichtshof nicht verzeichnet.)

Der verfahrensgegenständliche, am 25. Oktober 2010 eingebrachte Antrag sei vom Landeshauptmann von Wien in erster Instanz mit Bescheid vom 4. Februar 2011 gemäß § 43 Abs. 2 und § 44b Abs. 1 Z 1 NAG zurückgewiesen worden sei.

Im erstinstanzlichen Verfahren habe die Beschwerdeführerin vorgebracht, ihr Studium ordnungsgemäß fortführen zu wollen. Sie wäre in Österreich verlobt und beabsichtige, nach Abschluss des Studiums die Ehe zu schließen. Es bestünden sowohl private als auch familiäre Bindungen zum Bundesgebiet und zwar zum Verlobten und zu den zwei Brüdern der Beschwerdeführerin, die samt deren Familien in Österreich lebten. Auch lebten noch andere Verwandte im Bundesgebiet. Die Beschwerdeführerin spräche sehr gut Deutsch, wäre unbescholten und im Bundesgebiet integriert. Im Jahr 2010 hätte sie sieben Prüfungen abgelegt, davon fünf mit positivem Erfolg.

Zu diesem Vorbringen - so die belangte Behörde in ihren rechtlichen Erwägungen - sei auszuführen, dass die gegen die Beschwerdeführerin erlassene Ausweisung am 11. Oktober 2010 rechtskräftig geworden sei. Zur Frage, ob ein maßgeblich geänderter Sachverhalt gemäß § 44b Abs. 1 NAG vorliege, sei der Zeitraum zwischen der seit 11. Oktober 2010 rechtskräftig erlassenen Ausweisung und der Entscheidung der Behörde erster Instanz - mit Bescheid vom 4. Februar 2011 - heranzuziehen. Es sei aber nicht erkennbar, dass die - oben wiedergegebenen - vorgebrachten Umstände einen maßgeblich geänderten Sachverhalt dargestellt hätten. Sohin habe die Behörde erster Instanz zu Recht die Antragszurückweisung ausgesprochen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde erwogen:

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass im gegenständlichen Fall das NAG in der Fassung des BGBl. I Nr. 112/2011 zur Anwendung kommt.

Gemäß § 41a Abs. 9 NAG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen (§ 44a NAG) oder auf begründeten Antrag (§ 44b NAG), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zu erteilen, wenn 1. kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG vorliegt, 2. dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, und 3. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 14a NAG) erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine Erwerbstätigkeit ausübt.

Liegt kein Fall des § 44a Abs. 1 NAG vor, sind gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG Anträge gemäß § 41a Abs. 9 oder § 43 Abs. 3 NAG als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Ausweisung rechtskräftig erlassen wurde, und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 NAG ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.

Die Beschwerdeführerin lässt unbestritten, dass sie von der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark mit dem seit 11. Oktober 2010 rechtskräftigen Bescheid vom 6. Oktober 2010 ausgewiesen wurde. Ihr Antrag nach § 41a Abs. 9 NAG - dass der von ihr gestellte Antrag nach In-Kraft-Treten des FrÄG 2011 als solcher zu werten war, bleibt in der Beschwerde unbeanstandet und stellt sich hier als unbedenklich dar - war daher gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG zurückzuweisen, es sei denn, es wäre im Hinblick auf maßgebliche Sachverhaltsänderungen seit der ergangenen Ausweisung eine Neubeurteilung im Hinblick auf Art. 8 EMRK erforderlich. Dabei haben nach der Erlassung der erstinstanzlichen Entscheidung eingetretene Umstände keinen Einfluss auf die Beurteilung, ob die auf § 44b Abs. 1 Z 1 NAG gegründete Antragszurückweisung von der Behörde erster Instanz zu Recht vorgenommen wurde.

Der Sache nach ist der Zurückweisungsgrund des § 44b Abs. 1 Z 1 NAG der Zurückweisung wegen entschiedener Sache (§ 68 Abs. 1 AVG) nachgebildet. Die zu § 68 Abs. 1 AVG entwickelten Grundsätze für die Beurteilung, wann eine Änderung des Sachverhalts als wesentlich anzusehen ist, können daher auch für die Frage, wann maßgebliche Sachverhaltsänderungen im Sinn des § 44b Abs. 1 Z 1 NAG vorliegen, herangezogen werden.

Demnach ist eine Sachverhaltsänderung dann wesentlich, wenn sie für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die rechtskräftige Entscheidung gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann. Die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheides (bezogen auf § 44b Abs. 1 Z 1 NAG: eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK) muss also zumindest möglich sein; in dieser Hinsicht hat die Behörde eine Prognose zu treffen. Dabei ist die Wesentlichkeit der Sachverhaltsänderung nach der Wertung zu beurteilen, die das geänderte Sachverhaltselement in der seinerzeitigen Entscheidung erfahren hat (vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom 13. September 2011, Zlen. 2011/22/0035 bis 0039).

Die belangte Behörde geht im angefochtenen Bescheid davon aus, dass eine in diesem Sinn maßgebliche Sachverhaltsänderung nicht eingetreten sei. Dieser Ansicht tritt die Beschwerde nur insofern entgegen, als sie darauf verweist, dass die Beschwerdeführerin am 6. Juni 2012 ihren Verlobten geheiratet habe. Dabei handelt es sich allerdings mit Blick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (21. Mai 2012) um eine im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unbeachtliche Neuerung (§ 41 Abs. 1 VwGG). Nach dem oben Gesagten zum für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt hätte dieses Sachverhaltselement aber auch bei der Prüfung, ob die Behörde erster Instanz zu Recht die Antragszurückweisung ausgesprochen hat, keine Beachtung finden können. Vielmehr wären infolge der gegebenen Rechtslage die zeitlich nach der hier maßgeblichen Entscheidung der Behörde erster Instanz liegenden neuen Umstände durch Stellen eines - darauf Bezug nehmenden - weiteren Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels geltend zu machen.

In erster Linie wendet sich die Beschwerde aber ohnedies gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 44b Abs. 1 Z 1 NAG.

Dazu ist zunächst festzuhalten, dass in keiner Weise ersichtlich ist, dass die belangte Behörde § 13 Abs. 3 AVG zur Anwendung gebracht hätte. Das sich darauf beziehende Vorbringen geht sohin ins Leere.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 23. Mai 2012, Zl. 2012/22/0035, ausführlich dargelegt, weshalb keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen bestehen, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Frage, ob einem Fremden nach Art. 8 EMRK ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, an das Ergebnis der diesbezüglichen Beurteilung im aufenthaltsbeendigenden Verfahren anknüpft. Aus dem engen Zusammenhang der Berücksichtigung humanitärer Gründe im Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung und im Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels folgt nämlich eine Verknüpfung, welche das Ergebnis der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Ausweisungsverfahren auch für die auf Art. 8 EMRK gestützte Erteilung eines (humanitären) Aufenthaltstitels - jedenfalls bei gleich gebliebenen Umständen - als relevant erscheinen lässt. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Begründung dieses Erkenntnisses verwiesen.

Es stellt sich nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes aber auch nicht als verfassungswidrig dar, wenn die Zulässigkeit eines Antrages nach § 41a Abs. 9 NAG nur an das Vorliegen eines für die Beurteilung nach Art. 8 EMRK maßgeblich geänderten Sachverhalts geknüpft wird und nicht jede Änderung im Tatsächlichen bereits die Zulässigkeit einer Antragstellung herbeiführt. Auch einer Antragszurückweisung gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG hat nämlich eine Beurteilung im Hinblick auf Art. 8 EMRK voranzugehen. Dies ist zwar nur im Rahmen der Prognose, ob die seit Erlassung der rechtskräftigen Ausweisung eingetretenen Sachverhaltsänderungen eine andere Beurteilung nicht als ausgeschlossen erscheinen lassen, vorzunehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Oktober 2011, Zl. 2011/22/0065). Bei dieser Prognose sind aber die nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände jedenfalls soweit einzubeziehen, als im Rahmen der Prognose zu beurteilen ist, ob diese Umstände dergestalt sind, sodass nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann, dass im Hinblick auf früher maßgebliche Erwägungen eine andere Beurteilung nach Art. 8 EMRK nunmehr geboten sein könnte. Mit anderen Worten: eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK muss sich zumindest als möglich darstellen (vgl. nochmals das bereits oben erwähnte Erkenntnis Zlen. 2011/22/0035 bis 0039). Auch eine solche Beurteilung ist letztlich nur unter Bedachtnahme auf den gesamten vorliegenden Sachverhalt möglich.

Vor diesem Hintergrund ist der Auffassung der Beschwerdeführerin, es liege eine paradoxe und daher verfassungswidrige Rechtslage vor, weil jene Fremde, die einen Anspruch nach Art. 8 EMRK auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hätten, aus formalen Gründen nie zur Prüfung dieses Anspruches gelangen könnten, der Boden entzogen.

Da somit bereits der Inhalt der Beschwerde erkennen lässt, dass die behauptete Rechtsverletzung nicht vorliegt, war die Beschwerde gemäß § 35 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung abzuweisen.

Wien, am 19. September 2012

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