AlVG §46
B-VG Art.133 Abs4
Koordinierung Soziale Sicherheit Art.65
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs5
AlVG §44
AlVG §46
B-VG Art.133 Abs4
Koordinierung Soziale Sicherheit Art.65
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs5
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2015:L503.2112213.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Vorsitzenden und die fachkundigen Laienrichter Mag. ENZLBERGER und Mag. SIGHARTNER über die Beschwerde von XXXX gegen den Bescheid des AMS Linz vom 30.07.2015, GZ: LGSOÖ/Abt.4/2015-0566-4-000561-12, zu Recht erkannt:
A.)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und der Bescheid des AMS Linz vom 30.07.2015, GZ: LGSOÖ/Abt.4/2015-0566-4-000561-12, gem. § 28 Abs 1 und Abs 5 VwGVG aufgehoben.
II. In Erledigung der Beschwerde wird der Bescheid des AMS Linz vom 06.07.2015 zur Versicherungsnummer XXXX gem. § 28 Abs 1 und Abs 5 VwGVG aufgehoben.
B.)
Die Revision ist gem. Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Mit Bescheid vom 6.7.2015 wies das AMS den Antrag des Beschwerdeführers (im Folgenden kurz: "BF") vom 25.6.2015 auf Arbeitslosengeld gemäß § 44 in Verbindung mit § 46 Abs 1 AlVG mangels Zuständigkeit der regionalen Geschäftsstelle infolge des Fehlens eines Wohnsitzes beziehungsweise eines gewöhnlichen Aufenthaltsorts zurück.
Begründend führte das AMS - neben der Wiedergabe der zitierten Gesetzesbestimmungen -(lediglich) aus, der BF habe seinen Lebensmittelpunkt in Rumänien.
2. Im Akt befindet sich eine mit dem BF vor dem AMS am 25.6.2015 aufgenommene Niederschrift zur Feststellung des Wohnsitzes, des Aufenthaltsorts und der Pendelbewegungen während des aufrechten Beschäftigungsverhältnisses des BF.
Dabei gab der BF zu Protokoll, er habe zirka ein Jahr lang bei einer Firma in P. in Österreich gearbeitet; weiters habe er davor von 2005 bis Mitte 2013 in Italien gearbeitet und habe davor in Rumänien gelebt. Aus dem jeweiligen Beschäftigungsstaat sei er zweimal pro Jahr während des Urlaubs in seine Heimat zurückgekehrt. Dies treffe insbesondere auch auf seine Beschäftigung in Österreich zu, er sei eben zweimal pro Jahr in seine Heimat gefahren. Sein Arbeitsort und sein Wohnort in Österreich seien damals circa fünf Kilometer auseinander gelegen.
Im Übrigen sei er verheiratet, habe auch in Rumänien eine Unterkunft, konkret ein Haus und würden seine Gattin und die beiden gemeinsamen Kinder in Rumänien leben. Er habe einen Pkw mit rumänischem Kennzeichen.
Weiters befindet sich im Akt ein vom BF am 25.7.2015 gestellter Antrag auf Notstandshilfe.
Schließlich befindet sich im Akt ein Ausdruck zum bisherigen Bezugsverlauf des BF, aus dem insbesondere ein arbeitslosenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis des BF vom 12.12.2013 bis zum 29.1.2015 als Arbeiter in Österreich hervorgeht; vom 4.2.2015 bis zum 31.5.2015 hatte der BF bereits Arbeitslosengeld bezogen.
3. Mit Schreiben vom 22.7.2015 erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid des AMS vom 6.7.2015. Darin bringt der BF vor, er habe für die Dauer seines Arbeitsverhältnisses bis Februar 2015 in einer Firmenwohnung in W. (Oberösterreich) gewohnt; seither wohne er in Linz. In Rumänien habe er ein Haus, welches von seinen Angehörigen bewohnt werde, die er zweimal pro Jahr besuche. Anfang Juni habe er dem AMS wahrheitsgemäß bekannt gegeben, dass er für die Dauer einer Woche seine Familie in Rumänien besuche und habe für diesen Zeitraum auch kein Arbeitslosengeld erhalten.
Anlässlich der Antragstellung betreffend Notstandshilfe am 25.6.2015 sei nunmehr seitens des AMS unrichtigerweise festgestellt worden, dass er keinen Anspruch mehr auf eine Geldleistung habe, da er weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthaltsort in Österreich habe.
Entgegen der Meinung des AMS habe er allerdings sehr wohl einen Wohnsitz in Linz und lege zum Beweis dafür die Meldebestätigung des Magistrats vom 16.7.2015 vor. Auch sei sein gewöhnlicher Aufenthaltsort an dieser Adresse.
Somit habe ihm das AMS unrichtigerweise den Geldbezug ab dem 25.6.2015 verwehrt und er stelle folglich den Antrag, das Bundesverwaltungsgericht möge den angefochtenen Bescheid aufheben und dahingehend abändern, dass ihm Arbeitslosengeld und im Anschluss daran Notstandshilfe ab dem 25.6.2015 zuerkannt werde.
4. Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 30.7.2015 wies das AMS die Beschwerde des BF im Rahmen einer Beschwerdevorentscheidung ab; unter einem wurde die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 13 Abs 2 VwGVG ausgeschlossen.
Begründend stellte das AMS zunächst den bisherigen Sachverhalt dar. So wurde ausgeführt, der BF sei vom 6.5.2014 bis 2.2.2015 mit einem Nebenwohnsitz in Österreich angemeldet gewesen und habe vom 12.12.2013 bis zum 29.1.2015 eine unselbständige Beschäftigung ausgeübt. Seit dem 2.2.2015 sei der BF mit Hauptwohnsitz in Linz gemeldet.
Im Übrigen habe der BF im bisherigen Verfahren angegeben, er habe vor der gegenständlichen arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigung von 2005 bis Mitte 2013 in Italien gearbeitet und sei davor in Rumänien gewesen. In Rumänien würden sich seine Frau und seine beiden Kinder aufhalten.
Während seiner Beschäftigung in Österreich habe er in einer Firmenwohnung gewohnt, habe Vollzeit gearbeitet und sei nur zweimal pro Jahr in seine Heimat gefahren; dabei habe er die Beziehung zu seiner Familie aufrecht erhalten, indem er jeden Tag mit seinen Angehörigen telefoniert habe.
Derzeit wohne er bei einer Cousine und deren Mann in einer 60 Quadratmeter großen Wohnung. In Rumänien habe er ein 110 Quadratmeter großes Haus, er besitze auch einen Pkw mit rumänischem Kennzeichen.
In rechtlicher Hinsicht verwies das AMS zunächst insbesondere auf § 44 Abs 2 AlVG, wonach dann, wenn aufgrund internationaler Verträge bei einem Wohnsitz im Ausland der Bezug von Arbeitslosengeld im Inland zulässig sei, die regionale Geschäftsstelle zuständig sei, in deren Bezirk der Arbeitslose zuletzt beschäftigt gewesen sei.
So dann verwies das AMS auf Art 65 der VO (EG) Nr. 883/2004 . Es sei zwar richtig, dass der BF mangels zumindest wöchentlicher Heimreise nicht als echter Grenzgänger im Sinne des Artikel 1 lit f der VO zu qualifizieren sei, dies schließe jedoch nicht aus, dass Art 65 Abs 2 der VO dennoch zur Anwendung komme, zumal der letzte Satz dieser Bestimmung auf Arbeitnehmer, die keine Grenzgänger sind, Bezug nehme und daher der gesamte Art 65 Abs 2 denklogisch nicht nur auf Grenzgänger im Sinne des Artikel 1 lit f der VO anwendbar sei.
Nach Art 65 Abs 5 lit a der VO erhalte der Arbeitnehmer Leistungen - und somit Arbeitslosenunterstützung - nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten; diese Leistungen würden vom Träger des Wohnorts gewährt werden.
Mit Urteil vom 11.4.2013, Rs C-443/11 (Jeltes), habe der EuGH zudem klargestellt, dass ein berufliches Naheverhältnis zum Staat der letzten Beschäftigung für die Frage der Zuerkennung von Arbeitslosengeld seit Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004 keine Rolle mehr spiele und sei für die Leistungsgewährung stets der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig. Selbst bei Vorliegen eines "festen Arbeitsplatzes" sei nicht (mehr) zu vermuten, dass der Beschäftigungsstaat für die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes zuständig ist, wenn die sonstigen Umstände klar darauf hinweisen, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen in einem anderen Mitgliedstaat liege (VwGH vom 28.1.2015, 2013/08/0074).
Im Fall des BF ergebe sich, dass dieser vor seiner Antragstellung eine zweijährige Beschäftigung in Österreich ausgeübt habe; davor sei er rund 8 Jahre lang in Italien erwerbstätig gewesen. Seine Familie (Gattin und zwei Kinder) wohne in Rumänien. In Österreich verfüge der BF über keine eigene Wohnung bzw. Zimmer, sondern schlafe auf der Wohnzimmercouch seiner Cousine. In Rumänien besitze er ein eigenes Haus, in dem er gemeinsam mit seiner Familie wohne; sein Pkw sei in Rumänien zugelassen.
Der zitierten Judikatur folgend komme das AMS zur Ansicht, dass der BF - trotz seines beruflichen Naheverhältnisses zu Österreich - seinen Lebensmittelpunkt in Rumänien gehabt habe und diesen weiterhin dort habe; dies vor allem, weil die Beschäftigung in Österreich - im Verhältnis zur langjährigen Tätigkeit des BF in Italien - nur von kurzer Dauer gewesen sei und keine Anhaltspunkte vorliegen würden, dass der BF in Österreich über persönliche oder soziale Bindungen verfüge, die über jene zu seinem Wohnort in Rumänien hinausgehen würden.
Somit sei der Wohnmitgliedstaat Rumänien für die Zuerkennung einer Arbeitslosenunterstützung zuständig und der Antrag des BF auf Arbeitslosengeld vom 25.6.2015 sei daher mangels örtlicher Zuständigkeit zurückzuweisen gewesen.
Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde begründete das AMS wörtlich in Folgender Weise:
"Wurde ein Antrag auf Leistung abgewiesen (zurückgewiesen), kommt die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nicht in Betracht, weil dies zur Folge hätte, dass die Rechtslage so zu beurteilen wäre, als ob über den Antrag noch nicht entschieden worden wäre, wodurch aber auch keine vorläufige Anweisung der beantragten Leistung erfolgen könnte."
5. Mit Schriftsatz vom 6.8.2015 stellte der BF fristgerecht einen Vorlageantrag, in welchem er auf die Begründung seiner Beschwerde gegen den Bescheid des AMS vom 6.7.2015 verwies. Zudem beantragte der BF die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und führte ergänzend aus, er wohne ständig an seiner Adresse in Österreich, gehe dort auch ständig einkaufen und besuche etwa seinen Neffen zwei- bis dreimal wöchentlich in M., was sein Neffe auch bezeugen könne.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF stammt aus Rumänien, wo auch seine Frau und seine beiden Kinder leben. In Österreich übte er vom 12.12.2013 bis zum 29.1.2015 eine unselbständige Erwerbstätigkeit als Arbeiter aus; vom 4.2.2015 bis zum 31.5.2015 bezog der BF Arbeitslosengeld. In Österreich hatte der BF zunächst einen Nebenwohnsitz gemeldet und lebte in einer Firmenwohnung; seit 2.2.2015 hat der BF einen Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet und lebt hier bei einer Cousine. Ungefähr zweimal pro Jahr fuhr bzw. fährt der BF nach Rumänien zu seiner Familie.
2. Beweiswürdigung:
Die getroffenen Feststellungen ergeben sich völlig unstrittig aus dem vorliegenden Verwaltungsakt. Insbesondere ging auch das AMS - den Angaben des BF folgend - davon aus, dass er (lediglich) ca. zweimal pro Jahr nach Rumänien fuhr bzw. fährt.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Stattgebung der Beschwerde
3.1. Allgemeine rechtliche Grundlagen
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gem. § 56 Abs 2 AlVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide einer Geschäftsstelle durch einen Senat, dem zwei fachkundige Laienrichter angehören, je einer aus dem Kreis der Arbeitgeber und aus dem Kreis der Arbeitnehmer. Das Vorschlagsrecht für die Bestellung der erforderlichen Anzahl fachkundiger Laienrichter und Ersatzrichter steht gem. § 56 Abs 4 AlVG für den Kreis der Arbeitgeber der Wirtschaftskammer Österreich und für den Kreis der Arbeitnehmer der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte zu; die vorgeschlagenen Personen müssen über besondere fachliche Kenntnisse betreffend den Arbeitsmarkt und die Arbeitslosenversicherung verfügen.
Gegenständlich liegt somit die Zuständigkeit eines Senats vor.
Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache gem. § 28 Abs 1 VwGVG durch Erkenntnis zu erledigen. Hebt das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid auf, sind die Behörden gem. § 28 Abs 5 VwGVG verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtes entsprechenden Rechtszustand herzustellen.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
3.2. Das AMS hat gegenständlich eine Beschwerdevorentscheidung gemäß § 14 VwGVG erlassen und der BF hat fristgerecht einen Vorlageantrag gemäß § 15 VwGVG gestellt; gemäß § 15 Abs. 1 VwGVG kann jede Partei binnen zwei Wochen nach Zustellung der Beschwerdevorentscheidung bei der Behörde den Antrag stellen, dass die Beschwerde dem Verwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt wird. Anders als in § 64a AVG tritt mit der Vorlage der Beschwerde die Beschwerdevorentscheidung nicht außer Kraft; Beschwerdegegenstand im Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht soll die Beschwerdevorentscheidung sein (EB zur RV 2009 dB XXIV.GP, S. 5).
3.3. Zur Zurückweisung des Antrags des BF auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe durch das AMS:
3.3.1. Die hier einschlägigen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit lauten:
Artikel 1
lit f: "Grenzgänger" [ist] eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt;
Artikel 65
[...]
(2) Eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen. Unbeschadet des Artikels 64 kann sich eine vollarbeitslose Person zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.
Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben.
(3) Der in Absatz 2 Satz 1 genannte Arbeitslose muss sich bei der zuständigen Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats als Arbeitsuchender melden, sich dem dortigen Kontrollverfahren unterwerfen und die Voraussetzungen der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats erfüllen. Entscheidet er sich dafür, sich auch in dem Mitgliedstaat, in dem er zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, als Arbeitsuchender zu melden, so muss er den in diesem Mitgliedstaat geltenden Verpflichtungen nachkommen.
[...]
(5) a) Der in Absatz 2 Sätze 1 und 2 genannte Arbeitslose erhält Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Diese Leistungen werden von dem Träger des Wohnorts gewährt.
b) Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt.
[...] [Hervorhebungen durch das BVwG]
3.3.2. Im gegenständlichen Fall bedeutet dies:
Völlig unstrittig ist und wird dies auch vom AMS selbst betont, dass es sich beim BF - da dieser nur sehr selten (ca. zweimal pro Jahr) nach Rumänien fuhr bzw. fährt - um keinen Grenzgänger im Sinne von Art 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 handelt, wenngleich sein Wohnort im Sinne von Art 1 lit j der genannten VO aufgrund der dort gegebenen, unstrittigen intensiven familiären Bindungen (Frau, Kinder) durchaus Rumänien sein mag. Die Literatur spricht in diesem Zusammenhang auch von einem "unechten Grenzgänger" (siehe z. B. Krapf/Keul, Arbeitslosenversicherungsgesetz, 11 Lfg., Jänner 2015, Rz 476/2 zu § 21 AlVG).
Das AMS begründet nun die gegenständliche Zurückweisung des Antrags des BF damit, dass Art 65 Abs 5 lit a der VO (EG) Nr. 883/2004 vorsehe, dass der Arbeitslose Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats erhalte und dass die Leistungen vom Träger des Wohnorts gewährt werden, sodass diesbezüglich nur Rumänien in Betracht komme.
Dabei übersieht das AMS jedoch, dass sich Art 65 Abs 5 lit a der VO explizit ausschließlich auf "echte" Grenzgänger bezieht, während es für "unechte Grenzgänger" eigene Regelungen in der VO gibt.
Im Hinblick auf "unechte Grenzgänger" besagt nämlich Art 65 Abs 3 dritter Satz (auf den der vom AMS herangezogene Art 65 Abs 5 lit a der VO eben gerade nicht verweist, da sich Art 65 Abs 5 lit a der VO wie gesagt nur auf "echte" Grenzgänger bezieht) Folgendes: "Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben."
Eine weitere Regelung hinsichtlich der "unechten Grenzgänger" enthält zudem Art 65 Abs 5 lit b der VO, der wie folgt lautet:
"Jedoch erhält ein Arbeitnehmer, der kein Grenzgänger war und dem zulasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben, Leistungen gewährt wurden, bei seiner Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat zunächst Leistungen nach Artikel 64; der Bezug von Leistungen nach Buchstabe a ist während des Bezugs von Leistungen nach den Rechtsvorschriften, die zuletzt für ihn gegolten haben, ausgesetzt."
Aus der Zusammenschau dieser beiden Regelungen geht klar hervor, dass der "unechte Grenzgänger" nach eigener Entscheidung in den Wohnmitgliedstaat zurückkehren oder im letzten Staat der Erwerbstätigkeit verbleiben kann. Wenn er nicht in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss er sich gem. Art 65 Abs 3 dritter Satz der VO der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellen und erhält folglich Arbeitslosengeld zu dessen Lasten (so explizit etwa auch Krapf/Keul, Arbeitslosenversicherungsgesetz, 11 Lfg., Jänner 2015, Rz 476/2 zu § 21 AlVG). Wenn der "unechte Grenzgänger" sich dann später für die Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat entscheiden sollte, so erhält er gem. Art 65 Abs 5 lit b zunächst Leistungen nach Art 64 der VO für die Dauer von drei Monaten zu Lasten des Beschäftigungsstaats.
Gänzlich verfehlt ist für gegenständliches Verfahren somit der Hinweis des AMS auf das Erkenntnis des VwGH vom 28.1.2015, Zl. 2013/08/0074, zumal diesem Verfahren eben ein "echter" Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 - das AMS kam den vom VwGH nicht beanstandeten Feststellungen zufolge nämlich zum Ergebnis, dass der damalige Beschwerdeführer jedes Wochenende zu seiner Familie nach Polen fahre - zugrunde lag. Gleiches gilt auch für den Hinweis des AMS auf das Urteil des EuGH vom 11.4.2013, Rs C-443/11 (Jeltes), zumal es sich auch hier um einen "echten" (wenngleich aufgrund besonders enger persönlicher und beruflicher Bindungen im Beschäftigungsstaat "atypischen") Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 handelte.
Im konkreten Fall hat sich der BF - der unbestritten kein Grenzgänger im Sinne von Artikel 1 lit f der VO (EG) Nr. 883/2004 ist und somit als "unechter Grenzgänger" gilt - für einen Verbleib in Österreich entschieden, sodass er sich der Arbeitsverwaltung in Österreich zur Verfügung stellen muss und bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen in Österreich hat. Vor diesem Hintergrund durfte aber der Antrag des BF auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe nicht zurückgewiesen werden, sondern wäre sein Antrag inhaltlich zu beurteilen gewesen.
Da der Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens aber nur die Zurückweisung des Antrags durch das AMS ist und das BVwG abgesehen davon gegenständlich auch nicht selbst beurteilen könnte, ob die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld bzw. Notstandhilfe vorliegen, ist (lediglich) mit einer Behebung der rechtswidrigen Zurückweisung vorzugehen.
Zusammengefasst hat das AMS den Antrag des BF zu Unrecht zurückgewiesen, sodass der Beschwerde stattzugeben und der bekämpfte Bescheid (das heißt zunächst: die bekämpfte Beschwerdevorentscheidung, mit der die Zurückweisung bestätigt wurde) aufzuheben ist (Spruchpunkt I.).
3.4. Mit Spruchpunkt I. wurde seitens des BVwG somit die Beschwerdevorentscheidung behoben. In Ermangelung einer entsprechenden Regelung tritt jedoch der - der Beschwerdevorentscheidung zu Grunde liegende - Erstbescheid vom 6.7.2015 nicht außer Kraft, womit die Beschwerdevorentscheidung diesem lediglich derogiert und dieser bei Behebung der Beschwerdevorentscheidung auch wieder auflebt (vgl. VwGH 21.05.2001, 2001/17/0043). Die Herstellung des rechtskonformen Zustandes erfordert daher den weiteren Schritt der Behebung des Erstbescheides, mit welchem zu Unrecht der Antrag des BF zurückgewiesen wurde.
Aus diesem Grunde war auch der Bescheid des AMS vom 6.7.2015 aufzuheben (Spruchpunkt II.).
3.5. Es ist darauf hinzuweisen, dass das AMS gem. § 28 Abs 5 VwGVG folglich verpflichtet ist, in der betreffenden Rechtssache unverzüglich den der Rechtsanschauung des BVwG entsprechenden Rechtszustand herzustellen, was im konkreten Fall bedeutet, dass über den Antrag des BF auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe inhaltlich zu entscheiden ist.
3.6. Aufgrund dieser Entscheidung erübrigt sich schließlich ein Eingehen auf die im Rahmen der Beschwerdevorentscheidung ausgesprochene Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gem. § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Gem. Art 133 Abs 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, da die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Im Hinblick auf die sogenannten "unechten Grenzgänger" gibt es in Art 65 Abs 2 dritter Satz und Abs 5 lit b der VO (EG) Nr. 883/2004 eine bereits ihrem Wortlaut nach klare Regelung, wonach ein "unechter Grenzgänger" - wenn er nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt - sich der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellen muss und folglich Leistungen zu dessen Lasten erhält.
Absehen von einer Beschwerdeverhandlung:
Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, da bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben war.
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