VwGH Ra 2022/14/0195

VwGHRa 2022/14/019527.7.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in den Revisionssachen 1. der R K, und 2. des N K, der Minderjährige vertreten durch seine Mutter R K, diese vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juni 2022, 1. L518 1438444‑4/4E, und 2. L518 1438445‑3/4E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG 2014 §21 Abs3
BFA-VG 2014 §21 Abs6a
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z5
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
B-VG Art133 Abs4
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022140195.L00

 

Spruch:

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Begründung

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers. Beide Revisionswerber sind Staatsangehörige Armeniens und stellten am 5. Jänner 2013 ‑ gemeinsam mit den weiteren Familienmitgliedern ‑ ihre ersten Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den sie im Wesentlichen damit begründeten, dass sie aus Syrien stammten und dort Krieg herrsche.

2 Diese Anträge wurden vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnissen vom 16. Juni 2017 im Beschwerdeverfahren vollinhaltlich abgewiesen (die dagegen erhobenen Revisionen wurden mit hg. Beschluss vom 14.11.2017, Ra 2017/20/0266 bis 0270, zurückgewiesen), wobei im Ermittlungsverfahren die armenische Staatsangehörigkeit der Revisionswerber und der übrigen Familienmitglieder zutage kam und der Entscheidung zugrundegelegt wurde.

3 Begründend führte das BVwG ‑ soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren von Interesse ‑ aus, die Revisionswerber hätten die Behörden über ihre Identität und Herkunft getäuscht. Ihr wahrer Herkunftsstaat sei Armenien, Asyl sei ihnen nicht zuzuerkennen gewesen. Hinsichtlich des Herkunftsstaates Armenien hätte auch nicht die Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK erkannt werden können.

4 In weiterer Folge reisten die Revisionswerber aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Deutschland aus und stellten dort am 11. Jänner 2021 ebenso Anträge auf internationalen Schutz. Sie wurden jedoch am 30. Juni 2021 gemäß den Bestimmungen der Dublin III‑VO nach Österreich rücküberstellt, wo sie am selben Tag die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.

5 Mit Urteil vom 16. November 2021 erkannte das Landesgericht Klagenfurt die Erstrevisionswerberin für schuldig, sie habe „gefälschte griechische Reisepässe [...] im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechts und einer Tatsache, nämlich der Identitätsfeststellung, gebraucht.“ Das Landesgericht Klagenfurt verurteilte die Erstrevisionswerberin wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs. 2, 224 StGB rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, die unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

6 Mit Bescheiden vom 8. April 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerber ‑ und der übrigen Familienmitglieder ‑ jeweils gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte ihnen jeweils keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung, stellte jeweils fest, dass ihre Abschiebung nach Armenien zulässig sei, sprach jeweils aus, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe, und erließ gegen sie jeweils befristete Einreiseverbote.

7 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das BVwG die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

8 Begründend kam das Gericht zum Ergebnis, dass es dem nunmehr vorgebrachten neuen Fluchtvorbringen einer Blutrache zwischen den Familien der Erstrevisionswerberin und ihres Ehemannes an einem glaubhaften Kern mangle. Hinsichtlich der psychischen Erkrankung der Erstrevisionswerberin hätten sich in Bezug auf die Voraussetzungen für die Gewährung des Status der subsidiär Schutzberechtigten ebenso keine entscheidungsrelevanten Sachverhaltsänderungen ergeben, weil die medizinische Behandlung in Armenien gewährleistet sei und aus näher dargestellten Erwägungen keine außergewöhnlichen Umstände vorlägen, die im Zusammenhang mit einer Abschiebung die Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuteten. Betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung kam das BVwG zu dem Schluss, dass eine Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK zu Lasten der Revisionswerber ‑ und der übrigen Familienmitglieder ‑ ausfalle.

9 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

10 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

11 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

12 Die Revisionen bringen zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das BVwG habe die Anträge auf internationalen Schutz zu Unrecht wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, obwohl sich die gesundheitliche Situation der Erstrevisionswerberin geändert habe. So sei sie nach einem Suizidversuch stationär behandelt worden und unter anderem seien eine schwere depressive Störung mit Selbstmordgedanken und ein posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) diagnostiziert worden.

13 Im Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz entspricht es der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung ‑ nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen ‑ berechtigen und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, dem Relevanz zukommt (vgl. VwGH 4.5.2021, Ra 2021/14/0136, mwN).

14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder suizidgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 25.4.2022, Ra 2022/20/0044, mwN).

15 Im vorliegenden Fall befasste sich das BVwG mit dem Gesundheitszustand der Erstrevisionswerberin und gelangte auf der Grundlage entsprechender Feststellungen ‑ wie bereits die belangte Behörde ‑ zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass die Behandlung von posttraumatischem Belastungssyndrom (PTBS) und Depressionen in Armenien auf gutem Standard gewährleistet sei und kostenlos erfolge. Im gegenständlichen Fall seien keine Hinweise hervorgekommen, dass die Erstrevisionswerberin vom Zugang zu medizinischer Versorgung in Armenien ausgeschlossen wäre.

16 Die Revisionen, die diesen Erwägungen nichts Stichhaltiges entgegensetzen, vermögen nicht aufzuzeigen, dass sich das BVwG von den dargestellten Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entfernt hätte. Abgesehen davon wird nicht dargelegt, dass die vorgebrachte Krankheit jene vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der Rechtssache Paposhvili gegen Belgien beschriebene Schwere und Intensität aufweist, welche dazu führen könnte, dass bei einer Abschiebung die hohe Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten würde (vgl. VwGH 7.4.2022, Ra 2022/14/0074, mwN).

17 Die Revisionen zeigen daher nicht auf, dass in Bezug auf die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten eine relevante Sachverhaltsänderung im Vergleich zur Entscheidung über die ersten Anträge auf internationalen Schutz eingetreten wäre.

18 Die Revisionen bringen zur Begründung ihrer Zulässigkeit darüber hinaus vor, dass das BVwG von der Rechtsprechung zur Verhandlungspflicht nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG abgewichen sei.

19 Dem ist entgegenzuhalten, dass die Verhandlungspflicht im Zulassungsverfahren ‑ wozu auch Beschwerden gegen eine vor Zulassung des Verfahrens ausgesprochene Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz nach § 68 AVG zählen ‑ besonderen Verfahrensvorschriften, nämlich § 21 Abs. 3 und Abs. 6a BFA‑VG, folgt (vgl. VwGH 5.8.2020, Ra 2020/14/0103, mwN). Dass das BVwG von den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Leitlinien zur Verhandlungspflicht im Zulassungsverfahren abgewichen wäre (vgl. dazu grundsätzlich VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072), vermögen die Revisionen nicht aufzuzeigen.

20 Soweit die Revisionen außerdem vorbringen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, ist darauf hinzuweisen, dass daraus aber noch keine „absolute“ (generelle) Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten ist. In eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann auch eine beantragte Verhandlung unterbleiben (vgl. dazu erneut VwGH 7.4.2022, Ra 2022/14/0074, mwN).

21 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. VwGH 20.10.2021, Ra 2021/14/0304, mwN).

22 Das BVwG hat die Art und Dauer des Aufenthalts der Revisionswerber in Österreich einbezogen und sodann zu Recht in seine Erwägungen miteinfließen lassen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn ‑ wie hier ‑ integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 20.10.2021, Ra 2021/14/0283, mwN). Weiters berücksichtigte das BVwG, dass durch die gemeinsame Ausreise der Familie der Revisionswerber die Rückkehrentscheidungen keinen Eingriff in das Recht auf Familienleben darstellten. Es würdigte darüber hinaus alle für die Interessenabwägung maßgeblichen Umstände, insbesondere den Grad der Integration, die Bindungen zum Herkunftsstaat, die mangelnde Unbescholtenheit der Erstrevisionswerberin und das Kindeswohl.

23 Zu der in den Revisionen weiters aufgebrachten Frage des anpassungsfähigen Alters hinsichtlich des Zweitrevisionswerbers ist zur Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA‑VG und den dabei zu beachtenden Aspekten (vgl. VwGH 9.3.2022, Ra 2022/14/0044, mwN) festzuhalten, dass sich das BVwG zutreffend darauf gestützt hat, dass dem Zweitrevisionswerber durch die gemeinsame Ausreise die wichtigsten Bezugspersonen erhalten bleiben und in seinem Alter angenommen werden könne, dass er sich wieder in die Gesellschaft des Herkunftsstaates integrieren könne. Wie aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ersichtlich, führt auch der überwiegende oder gänzliche Schulbesuch in Österreich nicht zu einem Überwiegen der privaten Interessen am Verbleib in Österreich (vgl. dazu erneut VwGH 9.3.2022, Ra 2022/14/0044, mwN). Vor diesem Hintergrund gelingt es den Revisionen nicht aufzuzeigen, dass die Interessenabwägung vom BVwG unvertretbar und entgegen den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien vorgenommen worden wäre.

24 In den Revisionen werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revisionen waren daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 27. Juli 2022

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