Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z3
MRK Art8
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021200044.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 3. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Mit Bescheid vom 26. August 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag als unzulässig zurück, sprach aus, dass Kroatien für die Prüfung des Antrags zuständig sei, ordnete die Außerlandesbringung des Revisionswerbers gemäß § 61 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) an und stellte fest, dass dessen Abschiebung nach Kroatien zulässig sei.
3 Mit Erkenntnis vom 3. Oktober 2016 gab das Bundesverwaltungsgericht der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 (erster Satz) BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) statt, hielt fest, dass das Verfahren über den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zugelassen werde, und behob den Bescheid vom 26. August 2016.
4 In der Einvernahme vor dem BFA gab der Revisionswerber zu seinen Fluchtgründen befragt an, sein Bruder und sein Vater hätten schwere Verletzungen erlitten, weil auf sie infolge einer Auseinandersetzung wegen des Diebstahls von drei Fahrzeugen, die aus dem Autohandel der Familie entwendet worden seien, geschossen worden sei. Es sei auch der Hund seines Bruders getötet worden. Die Familie des Revisionswerbers sei von einem verfeindeten und in der Region gefürchteten Stamm, der Verbindungen zum „Islamischen Staat“ habe, mehrfach bedroht worden. Sein Vater werde seit dem 15. März 2015 vermisst.
5 Mit Bescheid vom 22. August 2018 wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
6 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Gericht für nicht zulässig.
7 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung gegen die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts. Die Angaben des Revisionswerbers zur Ursache für den Tod des „Familienhundes“ seien nicht widersprüchlich gewesen. Es sei nachvollziehbar, dass der Revisionswerber, der teilweise sehr konkrete Datumsangaben gemacht und die Ereignisse chronologisch geschildert habe, nicht sämtliche vom Bundesverwaltungsgericht abgefragten Details und Daten habe wissen können. Für die Glaubwürdigkeit des Revisionswerbers spreche zudem, dass dieser als Student in geordneten Verhältnissen seinen Herkunftsstaat, wenn er dort nicht tatsächlich Verfolgung hätte befürchten müssen, nicht verlassen hätte.
11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser ‑ als Rechtsinstanz ‑ zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 22.9.2020, Ra 2020/20/0336, mwN).
12 Dass die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts mit einem derart gravierenden Mangel behaftet wäre, zeigt die Revision nicht auf. Das Verwaltungsgericht hat sich nach Durchführung einer Verhandlung, in der es sich einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen konnte, in einer auf den Einzelfall Bedacht nehmenden Beweiswürdigung mit dem Vorbringen zu den Gründen seiner Flucht auseinandergesetzt. Dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers hat das Bundesverwaltungsgericht unter mehreren Gesichtspunkten die Glaubwürdigkeit abgesprochen und schlüssig aufgezeigt, welche Aspekte im Einzelnen gegen eine dem Revisionswerber in seinem Herkunftsstaat tatsächlich drohende Verfolgung sprächen. Auch mit dem Vorwurf, das Bundesverwaltungsgericht sei in seinen beweiswürdigenden Überlegungen aktenwidrig davon ausgegangen, der Revisionswerber habe erstmals vor dem Verwaltungsgericht eine drohende Verfolgung durch schiitische Milizen behauptet, obwohl er dies bereits in seiner Beschwerde (und demnach erst nach Erlassung des Bescheides vom 22. August 2018) vorgebracht habe, gelingt es der Revision nicht, die Tragfähigkeit der beweiswürdigenden Ausführungen des Gerichts in Zweifel zu ziehen.
13 Der Revisionswerber bemängelt weiters, das Bundesverwaltungsgericht habe näher genannte Berichte zur Situation im Irak unberücksichtigt gelassen. Laut diesen Berichten sei die Lage für Sunniten in Bagdad fragil. Es nähmen dort Milizen Menschen in ihren Wohnhäusern fest und betrieben eigene Haftanstalten, in denen Folterungen und Misshandlungen stattfänden. Die Versorgung für zurückkehrende Personen sei im Irak aufgrund der Covid‑19 Pandemie nach diversen Berichten gefährdet. Es seien die „UNHCR‑Guidelines“, aus denen sich die Untätigkeit irakischer Behörden bei Racheakten im Zuge von Blutfehden ergebe, nicht beachtet worden. Überdies fehlten Feststellungen zur durch die Covid‑19 Pandemie bedingten Situation im Irak und es seien Ermittlungen zu dem „verfeindeten“ Stamm unterblieben.
14 Werden Verfahrensmängel ‑ wie hier Ermittlungs‑, Feststellungs‑ und Begründungsmängel ‑ als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 18.12.2020, Ra 2020/20/0384, mwN). Eine solche konkrete und nachvollziehbare Relevanzdarstellung lässt die Revision vermissen. Das Bundesverwaltungsgericht ging ‑ wie oben dargestellt ‑ auf Basis vertretbarer beweiswürdigender Überlegungen davon aus, dass für den Revisionswerber im Irak keine Gefährdung durch Blutfehden bestehe, weshalb auch einer allfälligen Untätigkeit irakischer Behörden in derartigen Situationen für die Beurteilung des gegenständlichen Falls keine Bedeutung zukäme. Dem angefochtenen Erkenntnis liegt auch nicht die Annahme zugrunde, dass sich der vor seiner Ausreise aus dem Irak seit vielen Jahren mit seiner Familie in Samarra wohnhafte Revisionswerber bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in Bagdad niederlassen werde.
15 Die Revision bringt vor, das Bundesverwaltungsgericht hätte den ‑ in der Verhandlung anwesenden ‑ Bruder des Revisionswerbers vernehmen sowie dessen Verletzungen feststellen müssen.
16 Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 7.9.2020, Ra 2020/20/0148, mwN). Dies ist hier nicht der Fall. Das Absehen von den in der Revision genannten amtswegigen Ermittlungen wirft in der vorliegenden Konstellation keine Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B‑VG auf.
17 Insoweit der Revisionswerber die Ansicht vertritt, sein Verfahren hätte aufgrund des untrennbaren inhaltlichen Zusammenhangs mit jenem seines Bruders unter einem geführt werden müssen, ist dem entgegenzuhalten, dass darauf kein Anspruch bestand. Beim Revisionswerber und seinem Bruder handelt es sich nicht um Familienangehörige im Sinn von § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005. Aus diesem Grund war auch eine gemeinsame Führung der Verfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 nicht geboten.
18 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. VwGH 18.12.2020, Ra 2020/20/0149, mwN).
19 Dass das Bundesverwaltungsgericht bei der nach § 9 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) durchgeführten Interessenabwägung die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aufgestellten Leitlinien nicht beachtet oder diese in unvertretbarer Weise ‑ insbesondere in Bezug auf die Gewichtung der fallbezogen gegebenen Umstände ‑ zur Anwendung gebracht hätte, wird nicht aufgezeigt. Ferner ist nicht ersichtlich, dass die im angefochtenen Erkenntnis erfolgte einzelfallbezogene Abwägung unter Berücksichtigung der in der Revision angeführten Aspekte gemessen am Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofs zu beanstanden wäre.
20 Bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung sind im Ergebnis die tatsächlich bestehenden Verhältnisse maßgebend, sodass es fallbezogen nur von untergeordneter Bedeutung ist, ob die Beziehung des Revisionswerbers zu seinem Bruder als „Familienleben“ im Sinn der Z 2 oder als „Privatleben“ im Sinn der Z 3 des § 9 Abs. 2 BFA‑VG zu qualifizieren ist (vgl. etwa VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0121; 26.6.2019, Ra 2019/21/0016). Im Übrigen ist betreffend die berufliche Integration des Revisionswerbers, die nach seiner Ansicht im angefochtenen Erkenntnis, ohne dass die Ermittlungsergebnisse dafür eine Grundlage geboten hätten, „heruntergespielt“ worden sei, darauf hinzuweisen, dass er in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht selbst angab, dass sein Bruder den in Rede stehenden Friseursalon hauptsächlich führe und dieser die betreffende Tätigkeit vor ca. einem Jahr aufgenommen habe, während der Revisionswerber erst sechs Monate später „nach dem ersten Lockdown“ im Betrieb tätig geworden sei (vgl. Niederschrift vom 7. Dezember 2020, S 18).
21 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 9. März 2021
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