Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190060.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte am 6. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, sein Haus und sein Dorf seien von einer ihm unbekannten Volksgruppe, welche er im Laufe des Verfahrens als „Asma Boys“ bezeichnete, niedergebrannt worden. Diese hätten auch viele Menschen umgebracht und den Revisionswerber geschlagen. Außerdem habe er in Nigeria keine Arbeit und kein Geld gehabt.
2 Mit Bescheid vom 22. September 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
5 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe sich nicht mit der Country Guidance von EASO zu Nigeria vom Februar 2019 auseinandergesetzt, wonach zu jenen Akteuren, die in Nigeria Verfolgungshandlungen setzten, auch ‑ im Einzelnen nicht näher bezeichnete ‑ kriminelle Mobs und Banden gehörten. Das BVwG hätte auch durch einen länderkundigen Sachverständigen erheben müssen, ob es in Nigeria eine als „Asma Boys“ bezeichnete Gruppierung gebe, die im fraglichen Zeitraum Überfälle in der Herkunftsregion des Revisionswerbers verübt habe.
8 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Asylbehörden bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Es reicht aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, aufzuzeigen. Dies setzt voraus, dass ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. etwa VwGH 27.8.2019, Ra 2018/14/0001, mwN).
9 Dies gelingt der Revision mit dem Hinweis auf die bloß allgemeinen Ausführungen in der genannten Country Guidance des EASO (vgl. aaO, p. 43: „Human rights violations may also be committed by other non‑State actors, such as mobs and criminal groups, etc.“), ohne einen konkreten Bezug zum vorliegenden Fall herzustellen, nicht. Im Übrigen erachtete das BVwG, welches seiner Entscheidung das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria zu Grunde legte, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers schon im Hinblick auf die nur vage und wenig detailgenaue Schilderung sowie auf Grund von Widersprüchen in Bezug auf die zeitliche Abfolge als nicht glaubwürdig. Die Revision zeigt nicht auf, dass diese Beweiswürdigung fallbezogen unvertretbar wäre (vgl. zur eingeschränkten Prüfungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofes in Bezug auf die Beweiswürdigung etwa VwGH 23.1.2019, Ra 2018/19/0712 bis 0715, mwN).
10 Es entspricht auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Frage, ob auf Basis eines konkret vorliegenden Standes eines Ermittlungsverfahrens ein „ausreichend ermittelter Sachverhalt“ vorliegt oder ob weitere amtswegige Erhebungen erforderlich sind, regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, sondern eine jeweils einzelfallbezogen vorzunehmende Beurteilung darstellt (vgl. VwGH 1.10.2020, Ra 2020/19/0196, mwN). Der Revision gelingt es nicht darzulegen, dass insoweit eine vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifende Mangelhaftigkeit vorliegt, zumal ein allgemeines Recht auf eine fallbezogene Überprüfung des Vorbringens eines Asylwerbers durch Recherche im Herkunftsstaat nicht besteht (vgl. VwGH 13.1.2021, Ra 2020/19/0435 bis 0438, mwN)
11 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit in Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vor, das BVwG habe sich nicht mit den Auswirkungen der COVID‑19‑Pandemie auf die Wirtschafts- und Versorgungslage in Nigeria auseinandergesetzt. Auf Grund von näher genannten Länderinformationen sei damit zu rechnen, dass die Pandemie im Jahr 2021 schwerwiegende Auswirkungen auf die humanitäre Lage vor Ort haben werde.
12 Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 21.10.2020, Ra 2020/19/0288, mwN). Bei der Frage, ob im Fall der Rückführung eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK besteht, kommt es somit nicht darauf an, ob infolge von zur Verhinderung der Verbreitung von SARS‑CoV‑2 gesetzten Maßnahmen sich die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, solange die Sicherung der existentiellen Grundbedürfnisse weiterhin als gegeben anzunehmen ist (vgl. VwGH 20.1.2021, Ra 2020/19/0334, mwN).
13 Das BVwG traf Feststellungen zu COVID‑19 in Bezug auf die Zahl der Krankheitsfälle in Österreich und in Nigeria und den Verlauf einer solchen Erkrankung, vor allem in Hinblick auf Risikogruppen, wobei die Revision nicht vorbringt, dass der Revisionswerber einer solchen Gruppe angehöre. Das BVwG legte seiner Beurteilung zu Grunde, der Revisionswerber sei ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der über Schulbildung und Arbeitserfahrung verfüge, seine Hauptsozialisation in Nigeria erfahren habe und über Sprachkenntnisse verfüge. Vor diesem Hintergrund legt die Revision nicht dar, dass die Beurteilung des BVwG, wonach dem Revisionswerber bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keine Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK drohe, fallbezogen unvertretbar wäre.
14 Schließlich führt die Revision zu ihrer Zulässigkeit aus, die Interessenabwägung sei mangelhaft, weil das BVwG das Familien- und Privatleben des Revisionswerbers, insbesondere seine Lebensgemeinschaft mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten kubanischen Staatsangehörigen, nicht ausreichend gewichtet habe.
15 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN).
16 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn kein revisibler Verfahrensmangel vorliegt und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 5.3.2020, Ra 2020/19/0010 bis 0012).
17 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt. Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen „kann“ und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. etwa VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, mwN).
18 Wie das BVwG zutreffend ausführt, ist es bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens des Fremden im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Diese Überlegungen gelten insbesondere auch für eine Eheschließung mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten Person, wenn dem Fremden zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe die Unsicherheit eines gemeinsamen Familienlebens in Österreich in evidenter Weise klar sein musste und daher umso mehr für eine in einer solchen Situation begründeten Lebensgemeinschaft (vgl. VwGH 21.12.2020, Ra 2020/14/0518, mwN).
19 Das BVwG führte eine mündliche Verhandlung durch, in welcher es den Revisionswerber und als Zeugin seine Lebensgefährtin einvernahm, und berücksichtigte die Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich von etwa viereinhalb Jahren, den Umstand, dass er über keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in beruflicher, sozialer oder sprachlicher Hinsicht verfüge, sowie seine strafrechtliche Unbescholtenheit und seine mehrjährige Beziehung zu seiner Lebensgefährtin. Die Revision zeigt nicht auf, dass diese Interessenabwägung ‑ selbst unter Berücksichtigung der regelmäßigen Gottesdienstbesuche des Revisionswerbers und seiner Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen ‑ fallbezogen unvertretbar wäre.
20 Soweit die Revision die lange Verfahrensdauer im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 9 BFA‑VG ins Treffen führt, ist darauf hinzuweisen, dass es sich dabei nur um einen von mehreren Aspekten handelt, der bei der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen ist (vgl. VwGH 7.9.2020, Ra 2020/18/0325). Dass dieser Umstand fallbezogen entscheidend ins Gewicht fiele, vermag die Revision nicht darzulegen.
21 In der Revision werden daher keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 10. März 2021
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