Normen
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z1 idF 2015/I/070
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210306.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein 1983 geborener türkischer Staatsangehöriger, hält sich seit 1991 oder 1992 durchgehend im Bundesgebiet auf. Zuletzt wurde ihm mit Gültigkeit ab 20. April 2000 eine unbefristete Niederlassungsbewilligung „jeglicher Aufenthaltszweck“ (gilt nunmehr als Aufenthaltstitel Daueraufenthalt EU) erteilt.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 5. November 2018 wurde der Revisionswerber wegen des (als Bestimmungstäter) begangenen Verbrechens der versuchten Brandstiftung nach §§ 12 zweiter Fall, 15, 169 Abs. 1 StGB und des Vergehens des versuchten schweren Betruges nach §§ 15, 146, 147 Abs. 2 StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 36 Monaten (davon 24 Monate bedingt nachgesehen) verurteilt.
3 Dem Schuldspruch lag zusammengefasst zugrunde, dass der Revisionswerber und sein Bruder eine dritte Person im Sommer 2017 zu einer Brandstiftung in dem vom Revisionswerber gemieteten und von diesem gemeinsam mit seinem Vater betriebenen Geschäftslokal bestimmt hätten, wobei die Ausführung jedoch beim Versuch geblieben sei, weil sich das Brandgeschehen aufgrund eines Mangels an Sauerstoff nicht auf die umliegenden Räumlichkeiten und Wohnungen ausgebreitet habe und der Brand letztlich von der Feuerwehr gelöscht habe werden können. Zudem habe der Revisionswerber am 13. September 2017 durch Verschweigen der gewollten Inbrandsetzung in der Schadensmeldung versucht, die Versicherungsgesellschaft zur Gewährung von Versicherungsleistungen zu verleiten, wodurch Verfügungsberechtigte der Versicherungsgesellschaft in einem nicht mehr feststellbaren, jedoch € 5.000,‑ ‑ übersteigenden Betrag am Vermögen geschädigt werden sollten. Da die Versicherungsgesellschaft bislang keine Auszahlungen geleistet habe, sei es (auch hier) beim Versuch geblieben.
4 Bei der Strafbemessung wertete das Strafgericht das reumütige Geständnis, den bisher ordentlichen Lebenswandel und die teilweise Schadenswiedergutmachung als mildernd, ebenso, dass die Taten beim Versuch geblieben seien; als erschwerend hingegen das Zusammentreffen von einem Verbrechen und einem Vergehen.
5 Mit Beschluss vom 9. Jänner 2019 wurde der Vollzug der über den Revisionswerber verhängten Freiheitsstrafe aufgrund seines aufrechten Beschäftigungsverhältnisses und der Unterhaltspflicht gegenüber seinen zwei Kindern gemäß § 6 Abs. 1 Z 2 lit. a StVG zunächst bis zum 28. Dezember 2019 aufgeschoben.
6 Im Hinblick auf die Straftaten des Revisionswerbers erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) letztlich mit Bescheid vom 9. Juli 2019 gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein Einreiseverbot für die Dauer von zwei Jahren. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Des Weiteren wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt.
7 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnis als unbegründet ab.
8 Das Bundesverwaltungsgericht stellte zusammengefasst fest, der Revisionswerber sei beginnend mit dem Jahr 2000, unterbrochen von Zeiten des Arbeitslosengeld‑ und Notstandshilfebezugs, (teilweise geringfügig) unselbständig erwerbstätig gewesen. Aktuell stehe er wieder in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Seit dem 2. November 2018 sei er als Restaurantleiter tätig und beziehe dafür ein Bruttogehalt von € 1.920,‑ ‑ monatlich. In Österreich lebten seine Eltern, drei Geschwister sowie Onkel und Tanten. Mit seiner aktuellen Lebensgefährtin, einer österreichischen Staatsbürgerin, bestehe seit 2014 eine Beziehung. Für die beiden 2015 und 2017 geborenen Kinder bestehe eine gemeinsame Obsorge. Seit April 2019 lebe der Revisionswerber mit den Genannten im gemeinsamen Haushalt. Im Familienverband werde Türkisch und Deutsch gesprochen.
9 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, dass die maßgebliche Gefährdung nach § 52 Abs. 5 FPG iVm § 53 Abs. 3 FPG aufgrund der vom Revisionswerber begangenen Straftaten indiziert sei. Eine positive Prognose sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Um einen Wegfall oder eine wesentliche Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit annehmen zu können, bedürfe es eines Zeitraums des Wohlverhaltens, wobei in erster Linie das vom Revisionswerber erst kurz gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich sei. Auch die familiären Bindungen hätten den Revisionswerber nicht von den Straftaten abhalten können.
10 Das Bundesverwaltungsgericht begründete weiter, warum vom Revisionswerber weiterhin eine Gefahr ausgehe. So habe er in der mündlichen Verhandlung nicht erkennen lassen, dass er einsehe, mit seinem Verhalten auch Menschenleben gefährdet zu haben. Auch habe er weder nachgewiesen, keine Schulden mehr zu haben, noch belegt, dass er den durch die Straftat entstandenen Schaden (vollständig) wieder gutgemacht oder sich entschuldigt habe. Dass er von (von ihm ins Treffen geführten) „falschen Freunden“ Abstand halten und deswegen keine Straftat mehr begehen werde, könne nicht angenommen werden, weil einer der mitangeklagten Täter sein Bruder sei. Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung ‑ unter Einbeziehung seines „Zugangs zur Arbeit“ und der Misshandlung seiner früheren Ehefrau (die er laut Scheidungsurteil in ihrer Entscheidungsfreiheit gehindert und drei oder vier Mal geohrfeigt habe) ‑ sei zu erkennen, dass der Revisionswerber offenbar nicht gewillt sei, die österreichische Rechtsordnung zu respektieren.
11 Dass es durch die Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot zu einer Trennung von der nunmehrigen „Ehegattin“ und den Kindern kommen könne, sofern diese nicht mit dem Revisionswerber mitziehen würden, sei aufgrund des hohen öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung hinzunehmen und gerechtfertigt. Da die „Ehegattin“ des Revisionswerbers Anknüpfungspunkte in der Türkei habe, der türkischen Sprache mächtig und mit dem Kulturkreis vertraut sei, sei es für sie möglich und zumutbar, mit dem Revisionswerber in die Türkei zu ziehen oder diesen dort zumindest regelmäßig mit den Kindern zu besuchen.
12 Die Dauer des verhängten Einreiseverbots stehe zum konkreten Unrechtsgehalt der begangenen Straftaten unter Berücksichtigung aller Milderungs- und Erschwerungsgründe im Verhältnis, dies auch vor dem Hintergrund der privaten und familiären Anknüpfungspunkte.
13 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ erwogen:
14 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht ‑ wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird ‑ bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.
15 Zunächst ist festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den jedenfalls über 28 Jahre ununterbrochen rechtmäßig in Österreich aufhältigen, ARB‑berechtigten Revisionswerber zutreffend am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG geprüft hat (vgl. VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009, Rn. 29, und darauf verweisend VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0244, Rn. 11, mwN).
16 Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) wäre demnach nur zulässig, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
17 Die strafgerichtliche Verurteilung des Revisionswerbers verwirklicht § 53 Abs. 3 Z 1 FPG, sodass eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert war. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Gefährdungsprognose allerdings das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0062, Rn. 9, mwN).
18 Eine derartige Auseinandersetzung mit den konkreten Tatumständen und der daraus folgenden vom Revisionswerber ausgehenden Gefahr lässt sich dem angefochtenen Erkenntnis noch ausreichend entnehmen: Die rechtliche Begründung der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbots erschöpft sich zwar im Wesentlichen in Rechtssätzen und Beispielen aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, ohne den vorliegenden Fall dazu in Bezug zu setzen; in der Beweiswürdigung wird aber ‑ unter Verwertung des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks und trotz nicht durchwegs tauglicher Argumente im Ergebnis nicht unschlüssig ‑ begründet, warum aus der versuchten Brandstiftung in Verbindung mit einem Versicherungsbetrug eine weiterhin vom Revisionswerber ausgehende Gefährdung im Sinn des § 52 Abs. 5 iVm § 53 Abs. 3 FPG abgeleitet wird.
19 Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG nicht darauf Bedacht genommen, dass sich der Revisionswerber seit spätestens 1992 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und so den früheren Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt haben dürfte (vgl. dazu, dass die darin enthaltenen Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG weiter beachtlich sind, etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, Rn. 13, mwN). Um vor diesem Hintergrund ‑ auch unter Berücksichtigung der mit seinem langjährigen Aufenthalt verbundenen Integration und insbesondere des Familienlebens mit seiner österreichischen Lebensgefährtin und den zwei gemeinsamen Kindern ‑ dennoch eine Rückkehrentscheidung (und ein Einreiseverbot) rechtfertigen zu können, bedürfte es einer spezifischen, auf Grund besonders gravierender Straftaten vom Revisionswerber ausgehenden Gefahr (vgl. dazu VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12 und 13, und die dort genannten Beispiele). Eine derart massive Gefährdung wurde vom Bundesverwaltungsgericht aber ‑ zumal angesichts der Befristung des Einreiseverbots mit nur zwei Jahren ‑ nicht dargelegt und ist auch aus seinen Feststellungen nicht ableitbar.
20 Da das Bundesverwaltungsgericht die Bedeutung der Aufenthaltsverfestigung des Revisionswerbers bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
21 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. Jänner 2021
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