Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs4
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z1
FrÄG 2018
FrPolG 2005 §52 Abs4
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210276.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist ein im August 1999 geborener türkischer Staatsangehöriger, der im Juni 2003 mit seiner Mutter nach Österreich kam. Sie stellten einen erfolglos gebliebenen Asyl‑ bzw. Asylerstreckungsantrag. Nach deren Erledigung wurden ihnen jedoch ab November 2010 Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erteilt. Zuletzt verfügte der Revisionswerber daher über eine bis 18. Juli 2020 gültige „Rot‑Weiß‑Rot‑Karte plus“. Der ledige, seit seinem 15. Lebensjahr Cannabis konsumierende, bisher kaum berufstätige und bei seinen Eltern ‑ seit dem Jahr 2013 lebt auch der Vater in Österreich ‑ wohnhafte Revisionswerber befand sich zuletzt im Zeitraum 26. Jänner 2017 bis 30. August 2019 in Strafhaft. Seit 20. Februar 2020 ist er geringfügig beschäftigt. In der Türkei leben neben anderen Verwandten insbesondere noch seine Großeltern, bei denen der Revisionswerber zwei Urlaube verbrachte. Er spricht Deutsch und Türkisch.
2 Im Hinblick auf mehrere strafgerichtliche Verurteilungen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 25. September 2019 gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein mit vier Jahren befristetes Einreiseverbot. Unter einem stellte es gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei. Schließlich räumte das BFA noch eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise ein.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 9. Juni 2020 mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass die Dauer des Einreiseverbotes mit sieben Jahren festgesetzt werde. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
5 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
6 Unter diesem Gesichtspunkt rekurriert der Revisionswerber zunächst auf die Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 FPG, die der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber entgegenstünden. Diese Bestimmung sei zwar durch das FrÄG 2018 mit Ablauf des 31. August 2018 aufgehoben worden, jedoch auf den Revisionswerber trotzdem noch anwendbar, weil er die ihm vorgeworfenen Straftaten zu einem Zeitpunkt gesetzt habe, als sie noch in Geltung gestanden sei. Der Gesetzgeber dürfe zwar die Rechtslage auch für einzelne Personen für die Zukunft ungünstiger gestalten, müsse jedoch (durch Übergangsbestimmungen) Gelegenheit geben, sich rechtzeitig auf die neue Rechtslage einstellen zu können. Demnach seien nur dann Personen nicht mehr vom Schutzbereich des § 9 Abs. 4 BFA‑VG erfasst, wenn sie nach deren Außerkrafttreten eine „Anlasstat“ gesetzt hätten. Zu dieser Rechtsfrage fehle höchstgerichtliche Rechtsprechung.
7 Das trifft in dieser Form nicht zu. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nämlich bereits wiederholt mit den Konsequenzen der Aufhebung des § 9 Abs. 4 BFA‑VG durch das FrÄG 2018 auseinandergesetzt und dabei im Ergebnis deren uneingeschränkte Geltung auf alle nach dem 31. August 2018 erlassene Rückkehrentscheidungen bejaht. Für eine davon abweichende Sicht gibt das Vorbringen des Revisionswerbers, zumal für dessen Deutung weder das Gesetz noch die dazu ergangenen Materialien Anhaltspunkte liefern, keinen ausreichenden Anlass. Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof etwa zuletzt im Erkenntnis VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238 (Rn. 12), entsprechend seiner Vorjudikatur wiederholt, ungeachtet des Außerkrafttretens des § 9 Abs. 4 BFA‑VG seien die Wertungen dieser ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG weiter beachtlich, ohne dass es aber einer ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA‑VG bedürfe. Es sei also weiterhin darauf Bedacht zu nehmen, dass für die Fälle des bisherigen § 9 Abs. 4 BFA‑VG allgemein unterstellt worden sei, diesfalls habe die Interessenabwägung ‑ trotz einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung ‑ regelmäßig zu seinen Gunsten auszugehen und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme dürfe in diesen Konstellationen grundsätzlich nicht erlassen werden. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung habe der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen einen fallbezogenen Spielraum einräumen wollen. Dazu zählten jedenfalls die schon bisher in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG normierten Ausnahmen bei Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach den Z 6, 7 und 8 des § 53 Abs. 3 FPG, aber auch andere Formen gravierender Straffälligkeit. Bei diesem Verständnis der nunmehr gegebenen Rechtslage, auf das in der Revision nicht Bedacht genommen wird, ist es nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes jedenfalls nicht geboten, auf Fremde (offenbar gemeint: aus verfassungsrechtlichen Gründen unter den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes) weiterhin § 9 Abs. 4 BFA‑VG trotz Vorliegens einer gravierenden Straffälligkeit im erwähnten Sinn anzuwenden.
8 Das BVwG nahm im angefochtenen Erkenntnis auf die dargestellte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Bedacht und legte auch unter Verwertung des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks zutreffend näher dar, dass vom Revisionswerber, der erstmals kurz nach Erreichen der Strafmündigkeit straffällig und seither in kurzen Abständen und in gesteigertem, durch Brutalität gekennzeichnetem Maß vor allem in Bezug Gewaltdelikte (zuletzt: wiederholter Raub) trotz der teilweisen Anhaltung in Haft und des mehrfachen Ausspruchs von bedingten Nachsichten entgegen seiner Ankündigungen immer wieder einschlägig rückfällig wurde, wegen seiner hohen kriminellen Energie und der herabgesetzten inneren Hemmschwelle eine besondere Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgehe, die eine Rückkehrentscheidung samt einem siebenjährigen Einreiseverbot rechtfertige.
9 Den diesbezüglichen Überlegungen des BVwG wird in der Revision nicht konkret entgegengetreten. Der Revisionswerber sieht in diesem Zusammenhang nur eine (weitere) grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG darin, dass Rechtsprechung zu der Frage fehle, ob „ein Immigrant der zweiten Generation“ mit einer Rückkehrentscheidung wegen Jugendstraftaten belegt werden könne. Abgesehen davon, dass diese Frage nicht generell, sondern immer nur einzelfallbezogen zu beantworten und von daher nicht revisibel ist, wird damit aber der Sache nach nur neuerlich der Aufenthaltsverfestigungstatbestand nach der Z 2 des § 9 Abs. 4 BFA‑VG angesprochen, der Fremde erfasste, die in Österreich von klein auf aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sind. Dazu genügt es somit auf die unter Rn. 7 referierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen. Dass das BVwG im vorliegenden Fall von einer insgesamt gravierenden Straffälligkeit ausging, die entsprechend dieser Judikatur grundsätzlich auch in Fällen von ‑ mit den Worten der Revision ‑ „Immigranten der zweiten Generation“ die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) erlaubt, ist aber ‑ wie schon in der vorstehenden Rn. ausgeführt ‑ nicht zu beanstanden. Richtig ist zwar, dass der Revisionswerber die Straftaten als Jugendlicher begangen hatte. Das fällt aber deshalb nicht entscheidend ins Gewicht, weil es sich einerseits überwiegend um Gewaltdelikte handelt (vgl. dazu VwGH 25.3.2010, 2009/21/0073, unter Bedachtnahme auf EGMR 23.6.2008, Maslov, 1683/03), sich der Revisionswerber andererseits bei den ihm zuletzt zur Last gelegten drei Raubüberfällen im Jänner 2017 immerhin schon im 18. Lebensjahr befand und bei der während der Strafhaft im Juni 2017 wiederholt versuchten und auf erniedrigende Art gemeinsam mit Anderen begangenen Nötigung eines Mithäftlings die Volljährigkeit fast erreicht hatte. Überdies zeigte er nach Einschätzung des Richters des BVwG in der Verhandlung am 29. Jänner 2020 noch immer keine glaubwürdigen Besserungsabsichten. Insgesamt kann daher überdies die nach mündlicher Verhandlung vorgenommene Interessenabwägung nicht als unvertretbar angesehen werden, was insoweit auch der Zulässigkeit der Revision entgegensteht (vgl. im Anschluss an den grundlegenden Beschluss VwGH 25.4.2014, Ro 2014/21/0033, beispielsweise VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0060, Rn. 12).
10 Der Revision gelingt es somit nicht, eine für die Lösung des vorliegenden Falles wesentliche grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG aufzuzeigen, weshalb sie gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen war.
Wien, am 27. August 2020
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