Normen
AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
12010E020 AEUV Art20
62015CJ0133 Chavez-Vilchez VORAB
62016CC0082 K.A. Schlussantrag
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018220195.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein kosovarischer Staatsangehöriger, reiste im September 2016 illegal in Österreich ein und stellte am 9. Mai 2017 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Zur Begründung seines Antrages führte er im Wesentlichen aus, dass er aufgrund der Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau und Schwiegereltern überwiegend den gemeinsamen Sohn betreue, weshalb seine Anwesenheit in Österreich unbedingt notwendig sei (Hinweis auf Art. 20 AEUV und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) 8.3.2011, Zambrano, C- 34/09 ).
2 Mit Bescheid vom 12. September 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag ab. Unter einem wurde gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Kosovo zulässig sei, gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt und gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung aberkannt.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. Oktober 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung -
als unbegründet ab. Die ordentliche Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt.
Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung im Wesentlichen folgenden Sachverhalt zugrunde: Der Revisionswerber halte sich seit seiner illegalen Einreise im September 2016 durchgehend in Österreich auf und verfüge über keine Berechtigung zum Aufenthalt. Er habe am 21. April 2017 eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet und habe mit ihr einen - am 11. August 2016 geborenen - Sohn, der ebenfalls österreichischer Staatsbürger sei. Er lebe mit seiner Ehefrau und seinem Sohn im gemeinsamen Haushalt. Er sei nicht selbsterhaltungsfähig und sein bisheriger Aufenthalt sei von den Einkünften seiner Ehefrau bzw. durch die Unterstützung seiner Schwiegereltern finanziert worden.
Im Hinblick auf Art. 20 AEUV erachtete das Verwaltungsgericht das vom Revisionswerber ins Treffen geführte Urteil des EuGH C-34/09 aufgrund der unterschiedlich gelagerten Sachverhalte für die Beurteilung der Zulässigkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als nicht einschlägig. Vielmehr sei das Urteil des EuGH vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u.a., C-133/15 , zu berücksichtigen. Bei der Klärung der Frage, ob sich der minderjährige Sohn als Österreicher und Unionsbürger gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, sei somit der Umstand von Bedeutung, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger sei, wirklich in der Lage und bereit sei, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen. Gestützt auf die getroffenen Feststellungen bejahte das Verwaltungsgericht dies hinsichtlich der Mutter, zumal der Lebensunterhalt der Familie bislang allein von ihren Einkünften bestritten worden sei und der Revisionswerber mangels eines eigenen Einkommens keinerlei Mittel beigesteuert habe. Die Ehefrau des Revisionswerbers werde zudem von ihren Eltern unterstützt und könne leistbare Kinderbetreuungseinrichtungen in Anspruch nehmen. Das Bestehen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Revisionswerber und seinem Sohn, das den Sohn bei Verweigerung eines Aufenthaltsrechtes für den Revisionswerber zum Verlassen des Gebiets der Union zwingen würde, wurde - wiederum unter Hinweis auf die Gewährleistung des Lebensunterhaltes durch die Mutter - verneint.
Die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme habe - so das Verwaltungsgericht - die Trennung des Revisionswerbers von seinem Sohn und seiner Ehefrau zur Folge und stelle daher einen Eingriff in das Recht auf Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK dar. Die Fortsetzung des Familienlebens im Fall der alleinigen Rückkehr des Revisionswerbers sei aber durch Aufrechterhaltung des Kontaktes über diverse Kommunikationsmittel und regelmäßige Besuche der Ehefrau und des Sohnes möglich und zumutbar. Im Hinblick auf die kurze Aufenthaltsdauer, die fehlende berücksichtigungswürdige soziale bzw. berufliche Integration, die bestehenden Bindungen zum Herkunftsstaat, den bisherigen unrechtmäßigen Aufenthalt und die damit einhergehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung würden die öffentlichen Interessen schwerer wiegen als die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich. 4 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Die Behandlung dieser Beschwerde wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 12. Juni 2018, E 3921/2017, abgelehnt und die Beschwerde in weiterer Folge über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.
5 In der Folge erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision.
6 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Zur Zulässigkeit bringt der Revisionswerber unter anderem vor, das Verwaltungsgericht habe im Widerspruch zur Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Verweis auf VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017) von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen, obwohl der Revisionswerber eine solche beantragt und substanziiertes Vorbringen hinsichtlich der intensiven Beziehung zu seinem Sohn erstattet habe. Aufgrund der intensiven Beziehung zu seinem Sohn, der österreichischer Staatsbürger sei und im Fall einer Rückkehr des Revisionswerbers in den Kosovo gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, hätte dem Revisionswerber der beantragte Aufenthaltstitel erteilt werden müssen.
Die Revision ist im Hinblick auf das Vorbringen zur Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung zulässig und auch berechtigt.
8 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht (vgl. zu den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG auch VwGH Ra 2014/20/0017).
9 Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (siehe VwGH 18.2.2019, Ra 2016/22/0115; 8.11.2018, Ra 2018/22/0203, sowie 21.6.2018, Ra 2018/22/0035, jeweils mwN). Dies gilt auch für die Frage des Vorliegens eines Abhängigkeitsverhältnisses im Zusammenhang mit Art. 20 AEUV.
10 Hinsichtlich des Vorbringens des Revisionswerbers betreffend die intensive Beziehung zu seinem Sohn und das tatsächliche Abhängigkeitsverhältnis im Zusammenhang mit Art. 20 AEUV ist auf die Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil C-133/15 hinzuweisen. Demnach ist es das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen, dem ein Aufenthaltsrecht verweigert wird, das die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen kann, weil diese Abhängigkeit dazu führen würde, dass der Unionsbürger sich als Folge einer solchen Verweigerung de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. EuGH C-133/15 , Rn. 69, sowie EuGH 8.5.2018, K.A. u.a., C-82/16 , Rn. 52, jeweils mwN).
Zur Beurteilung dieses Risikos ist zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit besteht. Für diese Beurteilung bildet der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, einen Gesichtspunkt von Bedeutung, der aber allein nicht für die Feststellung genügt, dass zwischen dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohles zugrunde liegen, so insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre (vgl. EuGH C-133/15 , Rn. 70 f, sowie C-82/16 , Rn. 70 ff, jeweils mwN). Der Umstand des Zusammenlebens des drittstaatsangehörigen Elternteils mit dem minderjährigen Unionsbürger zählt zu den relevanten Gesichtspunkten, die zu berücksichtigen sind, um das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zu bestimmen (vgl. EuGH C-82/16 , Rn. 73, mwN).
11 Das Verwaltungsgericht begründete den Entfall der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG damit, dass der Sachverhalt nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Verfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung durch das BFA festgestellt und in der Beschwerde kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt in konkreter und substanziierter Weise behauptet worden sei.
12 Im vorliegenden Fall trat der Revisionswerber den Tatsachenfeststellungen und der Beweiswürdigung des BFA in der Beschwerde entgegen und beantragte ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Er brachte insbesondere vor, durch die - infolge der Vollzeitbeschäftigung seiner Ehefrau überwiegend durch ihn ausgeübte - Erziehung, Pflege und Betreuung seines Sohnes habe sich ein erhebliches Abhängigkeitsverhältnis gebildet, sodass der Sohn im Fall seiner Abschiebung gezwungen wäre, Österreich zu verlassen. In diesem Zusammenhang rügte der Revisionswerber auch die fehlende Auseinandersetzung in den Feststellungen bzw. in der Beweiswürdigung zu dem bereits im Verfahren dargelegten Abhängigkeitsverhältnis. Das BFA habe das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn in keiner Weise geprüft, sondern lediglich die Wahrnehmung der Sorge für das Kind durch die Ehefrau angenommen und sich mit der Situation seiner Ehefrau im Fall einer Trennung auseinandergesetzt.
13 Angesichts des - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtes - hinreichend konkreten und substanziierten Beschwerdevorbringens und der mangelhaften Feststellungen hätte das Verwaltungsgericht nicht von einem vollständig erhobenen bzw. geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen dürfen. Zur Klärung insbesondere der Intensität der Beziehung zwischen dem Revisionswerber bzw. der Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn hätte das Verwaltungsgericht die beantragte Verhandlung durchführen und den Revisionswerber sowie seine Ehefrau (bzw. allenfalls - soweit erforderlich - deren Eltern) vernehmen müssen, um sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Da die Voraussetzungen für das Absehen von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung somit nicht vorlagen, erweist sich das angefochtene Erkenntnis aus diesem Grund wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften als rechtswidrig.
14 Im Hinblick darauf war das angefochtene Erkenntnis zur Gänze (die weiteren Aussprüche betreffend die Abschiebung und die Frist für die freiwillige Ausreise können allein keinen Bestand haben) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
15 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 201
4.
Wien, am 17. Juni 2019
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