VwGH Ra 2018/20/0146

VwGHRa 2018/20/014629.5.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Februar 2018, Zl. I420 2161660-1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: H E in S, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11;
AsylG 2005 §8 Abs1;
EMRK Art3;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018200146.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II. und A.III. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung zugehöriger Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 2. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz und gab diesen begründend im Wesentlichen an, er sei im Jahr 2015 aus seiner Heimat geflohen, weil die Taliban sein Dorf erobert hätten und die dortige Lage für Hazara schlechter geworden sei.

2 Dieser Antrag wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 14. April 2017 sowohl gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt. Unter einem wurde gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Eine Frist zur freiwilligen Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen festgelegt (Spruchpunkt IV.).

3 Dagegen erhob der Mitbeteiligte Beschwerde, der vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) hinsichtlich des Spruchpunktes I. nicht Folge gegeben (Spruchpunkt A.I.), hinsichtlich des Spruchpunktes II. jedoch stattgegeben und dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt A.II.) sowie gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt A.III.) wurde. Die Spruchpunkte III. und IV. des Bescheides wurden ersatzlos behoben (Spruchpunkt A.IV.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

Begründend führte das BVwG - soweit hier relevant - zunächst aus, dass der Mitbeteiligte nicht in seine Herkunftsprovinz Kunduz zurückkehren könne, weil diese stark umkämpft sei und dem Mitbeteiligten bei einer Rückkehr dorthin die reale Gefahr einer Verletzung in seinen nach Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechten drohe. Auch die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul wurde vom BVwG verneint: Neben einer prekären Sicherheitslage sei die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnraum insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt und finanzielle Unterstützung in Kabul nur unzureichend, weshalb Rückkehrer mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert seien, sowie bei fehlender Bildung bzw. Fachausbildung in ernste Versorgungsschwierigkeiten geraten würden.

Der Mitbeteiligte verfüge zwar über Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten in Afghanistan, sei jedoch noch nie außerhalb seiner Herkunftsprovinz wohnhaft gewesen und habe weder soziale noch familiäre Anknüpfungspunkte in einer der Großstädte Afghanistans. Mangels in Afghanistan aufhältiger Angehöriger könne der Mitbeteiligte sohin nicht mit finanzieller Unterstützung rechnen. Zudem verfüge der Mitbeteiligte über keine nennenswerte Berufserfahrung und gehöre er schließlich einer ethnischen und religiösen Minderheit an, sodass auch Übergriffe auf den Mitbeteiligten als vermeintlich "Fremden" möglich seien. Unter Berücksichtigung der Feststellungen zur Situation in Afghanistan sei daher davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte kaum in der Lage sein werde, sich eine das Überleben sichernde Existenz aufzubauen. Der Mitbeteiligte würde im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan - bezogen auf das gesamte Staatsgebiet - in eine ausweglose Lebenssituation geraten und Gefahr laufen, eine Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden, weshalb subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen sei.

4 Die vorliegende Amtsrevision richtet sich gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. des angefochtenen Erkenntnisses und bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das BVwG zeige anhand der getroffenen Feststellungen zum Mitbeteiligten sowie zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan die Unzumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul nicht auf: Der Mitbeteiligte sei volljährig, gesund und arbeitsfähig, könne Lesen und Schreiben, verfüge über eine Schulbildung, spreche Dari und habe fast sein ganzes Leben in Afghanistan verbracht. Darüber hinaus verfüge er über Familienangehörige im Iran, von denen angenommen werden könne, dass sie den Mitbeteiligten finanziell bzw. in der Vermittlung von Kontakten unterstützten. Auch wenn die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln in Kabul laut den Länderinformationen angespannt sei, lasse sich daraus nicht schließen, dass der Mitbeteiligte davon im Vergleich zu anderen Landsleuten in besonderer Weise betroffen wäre. Ferner seien auch die Ausführungen des BVwG, wonach vereinzelte Übergriffe auf den Mitbeteiligten aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen und religiösen Minderheit im Bereich des Möglichen lägen, nicht nachvollziehbar, zumal eine Verfolgungsgefahr nur dann anzunehmen sei, wenn eine Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohe; die entfernte Möglichkeit genüge nicht.

5 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Amtsrevision beantragte.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Amtsrevision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Amtsrevision ist zulässig. Sie ist auch begründet. 8 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit

dem Kriterium nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 einer realen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung durch eine Rückkehr nach Afghanistan - im Besonderen bei Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul - auseinandergesetzt. In Fortsetzung dieser Rechtsprechung wurde etwa in jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom 19. Juni 2017, Ra 2017/19/0095, zugrunde lag, - unter Hinweis auch auf die Judikatur des EGMR - das Vorliegen einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 verneint. Der Sachverhalt dieses Verfahrens stimmt in allen entscheidungswesentlichen Punkten mit dem vorliegenden Fall überein. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen (vgl. etwa auch die im gleichen Sinn ergangenen hg. Erkenntnisse vom 20.9.2017, Ra 2016/19/0209, 18.10.2017, Ra 2017/19/0157, 5.4.2018, Ra 2017/19/0616).

9 Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung bereits erkannt, dass eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. Mit Bezug auf die Verhältnisse in Afghanistan wurde ausgeführt, es könne zutreffen, dass ein alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung in der afghanischen Hauptstadt Kabul (anfangs) mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sei. Soweit es sich aber um einen jungen und gesunden Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung verfüge, handle, sei - auf der Grundlage der allgemeinen Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsstaat - nicht zu erkennen, dass eine Neuansiedlung in Kabul nicht zugemutet werden könne. Dies stehe auch im Einklang mit der Einschätzung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, denen zufolge es alleinstehenden, leistungsfähigen Männern im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilität möglich sei, auch ohne Unterstützung durch die Familie in urbaner Umgebung zu leben (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

10 Aus den im Erkenntnis vom 19. Juni 2017, Ra 2017/19/0095, dargestellten Gründen ist die angefochtene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes mit Rechtswidrigkeit belastet. Durch die Feststellungen des BVwG wird zwar (wie in den zitierten gleich gelagerten Fällen) eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten bei einer Rückkehr nach Afghanistan - insbesondere auch hinsichtlich einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul - aufgezeigt. Die Annahme des BVwG, es sei unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände davon auszugehen, es bestehe im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK, ist aber eine rechtliche Beurteilung, die in den Feststellungen keine Deckung findet.

11 Daran vermag auch das zusätzliche Argument des BVwG, Übergriffe auf den Mitbeteiligten als vermeintlich "Fremden" (wegen seiner Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara) lägen "im Bereich des Möglichen", nichts zu ändern, weil auch damit im Sinne der oben zitierten hg. Rechtsprechung die reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung nicht dargelegt wird. Im Übrigen steht diese Annahme des BVwG in einem Spannungsverhältnis zu den getroffenen Feststellungen, wonach die Hazara in Kabul im politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und im Bildungsbereich maßgebend vertreten sind, sie mehr Studenten als jede andere Ethnie stellen und eine eigene islamische Bildungsstätte haben.

12 Im Ergebnis ist das BVwG somit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen. Daher war die Entscheidung im angefochtenen Umfang sowohl hinsichtlich des Spruchpunktes A.II. als auch hinsichtlich des Spruchpunktes A.III., weil dieser mit der Aufhebung des Spruchpunktes A.II. seine rechtliche Grundlage verliert (vgl. VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0236), wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Der nicht angefochtene Spruchpunkt A.IV. verliert durch die ex tunc-Wirkung der gegenständlichen Aufhebung durch den Verwaltungsgerichtshof seine Rechtsgrundlage (zur ex tunc-Wirkung aufhebender Erkenntnisse des VwGH vgl. zB VwGH 5.10.2017, Ra 2017/21/0161 - 0162).

Wien, am 29. Mai 2018

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