VwGH Ra 2018/14/0067

VwGHRa 2018/14/006728.3.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Lachmayer sowie den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 28. Juni 2018 mündlich verkündete und am 20. Juli 2018 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W246 2172546-1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: X Y in Z, vertreten durch Mag.rer.soc.oec.Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018140067.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II. und A.III. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 24. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen im Wesentlichen damit, dass er in Pakistan geboren und im Iran aufgewachsen sei. Im Iran habe er als Afghane viele Probleme gehabt. Er sei noch nie in Afghanistan gewesen und habe dort weder Freunde noch Familie. Zudem fürchte er Verfolgung als schiitischer Hazara.

2 Mit Bescheid vom 11. September 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.), erteilte diesem keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis, welches am 28. Juni 2018 im Rahmen einer mündlichen Verhandlung verkündet und am 20. Juli 2018 schriftlich ausgefertigt wurde, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes I. als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Hinsichtlich des Spruchpunktes II. wurde der Beschwerde jedoch stattgegeben und dem Mitbeteiligten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt A.II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt A.III.). Weiters sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht - soweit für den vorliegenden Fall relevant - zusammengefasst aus, dass der Mitbeteiligte nicht in seine Herkunftsprovinz Ghazni zurückkehren könne, weil ihm aufgrund von dort immer wieder auftretenden Kampfhandlungen eine reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen würde. Die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul verneinte das Bundesverwaltungsgericht unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände, weil ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohen und somit seine Abschiebung eine Verletzung in seinen Rechten nach Art. 3 EMRK darstellen würde.

5 Beim Mitbeteiligten handle es sich um einen arbeitsfähigen jungen Mann mit geringer Schulbildung und Berufserfahrung als Hilfsarbeiter, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Es sei zu berücksichtigen, dass der Mitbeteiligte überhaupt noch nie in Afghanistan aufhältig gewesen sei, über keinerlei Ortskenntnisse und lediglich über geringe Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten verfüge. Der Mitbeteiligte habe keine familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Er wäre bei einer Ansiedelung in Afghanistan vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen, Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über irgendwelche Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Es sei nicht von einer finanziellen oder sonstigen Unterstützung durch seine im Iran aufhältigen Familienangehörigen auszugehen. Zudem gehöre der Mitbeteiligte als Hazara aufgrund seines Aussehens erkennbar einer ethnischen und religiösen Minderheit in Afghanistan an. Neben der allgemein prekären Versorgungslage im Hinblick auf Zugang zu Arbeit und Wohnraum bestehe die maßgebliche Erschwernis im Falle seiner erstmaligen Ansiedelung darin, dass er auf Grund seines zur Gänze außerhalb von Afghanistan verbrachten Lebens als "Fremder im eigenen Land" exponiert und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diskriminiert wäre. Er wäre vom Zugang zu Arbeit und Wohnraum generell faktisch komplett ausgeschlossen, womit sich die Situation dieser Fallgruppe der "Iran-Rückkehrer" bei einer möglichen Ansiedelung insbesondere in der Stadt Kabul von der Situation jener afghanischen Staatsangehörigen, die ihr ganzes Leben in Afghanistan verbracht haben und dort zur Gänze sozialisiert worden seien, entscheidungswesentlich unterscheide.

6 Die vorliegende Amtsrevision richtet sich gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. des angefochtenen Erkenntnisses und bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes weiche von den Leitlinien der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (IFA) ab. Für das Bundesverwaltungsgericht sei entscheidungswesentlich, dass sich die Situation von "Iran-Rückkehrern" bei einer Ansiedelung in Kabul wesentlich von der Situation jener Afghanen unterscheide, die ihr ganzes Leben in Afghanistan verbracht hätten, weil diese nicht nur am Anfang ihrer Rückkehr, sondern generell faktisch komplett vom Zugang zu Arbeit und Wohnraum ausgeschlossen seien. Dies sei den Länderberichten des angefochtenen Erkenntnisses aber nicht zu entnehmen. Es beruhe der entscheidungswesentliche Punkt der rechtlichen Beurteilung zur (Un‑)Zumutbarkeit der IFA daher auf einer aktenwidrigen Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes. Dass der Umstand, dass eine Person im Iran geboren und aufgewachsen sei, allein für die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer IFA in Kabul keinen wesentlichen Unterschied mache, wenn sie aufgrund der Erziehung durch ihre afghanischen Eltern mit afghanischen Gepflogenheiten vertraut seien, sei bereits mehreren Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes und einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zugrunde gelegen. Auch dem Argument, der Mitbeteiligte sei als schiitischer Hazara diskriminiert, komme nach Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes keine entscheidende Bedeutung zu.

7 Weiters hänge die Revision von der Rechtsfrage ab, welcher Gefährdungsmaßstab in Fällen, in denen ein Fremder niemals in seinem Herkunftsstaat im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 17 Asylgesetz 2005 gelebt habe, im Hinblick auf den Zielort der Rückführung heranzuziehen sei. Es stelle sich die Rechtsfrage, ob eine Rückkehr in dieser Konstellation unter dem Blickwinkel einer Verletzung des Art. 3 EMRK oder der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu beurteilen sei.

8 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Amtsrevision beantragte.

 

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Amtsrevision erwogen:

10 Die Amtsrevision ist zulässig. Sie ist auch begründet. 11 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit

dem Kriterium nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 einer realen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung durch eine Rückkehr nach Afghanistan - im Besonderen bei Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul - auseinandergesetzt. In Fortsetzung dieser Rechtsprechung wurde etwa in jenem Fall, der dem Beschluss vom 20. April 2018, Ra 2018/18/0194, das Vorliegen einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 verneint. (vgl. etwa auch im gleichen Sinn ergangen VwGH 20.9.2017, Ra 2016/19/0209; 18.10.2017, Ra 2017/19/0157; 5.4.2018, Ra 2018/19/0154; 29.5.2018, Ra 2018/20/0146, mwN).

12 Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen nur bezogen auf Kabul getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan Länderberichte und verschiedene Gutachten länderkundiger Sachverständiger zugrunde. Dabei wird zwar (wie in den zitierten gleichgelagerten Fällen) eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgezeigt. In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung aber bereits auch dargelegt, dass eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen. Mit Bezug auf die Verhältnisse in Afghanistan wurde ausgeführt, es könne zutreffen, dass ein alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung in der afghanischen Hauptstadt Kabul (anfangs) mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sei. Soweit es sich aber um einen jungen und gesunden Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung verfüge, handle, sei - auf der Grundlage der allgemeinen Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsstaat - nicht zu erkennen, dass eine Neuansiedlung in Kabul nicht zugemutet werden könne. Dies stehe auch im Einklang mit der Einschätzung der - im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes maßgeblichen - UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, denen zufolge es alleinstehenden, leistungsfähigen Männern im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilität möglich sei, auch ohne Unterstützung durch die Familie in urbaner Umgebung zu leben (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

13 Soweit in der Revisionsbeantwortung zur Bekräftigung der Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer IFA in Kabul die aktuellen Richtlinien des UNHCR vom 30. August 2018 ins Treffen geführt werden, ist auszuführen, dass diese erst nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht datieren und daher bei der Entscheidung über die Revision keine Berücksichtigung finden können (vgl. etwa VwGH 31.1.2019, Ra 2018/14/0300).

14 Vorliegend stützt das Bundesverwaltungsgericht die Unzumutbarkeit einer Ansiedelung in Kabul aber vordergründig darauf, dass der Mitbeteiligte aufgrund der Tatsache, dass er sein Leben vorwiegend im Iran und somit zur Gänze außerhalb von Afghanistan verbracht habe, als "Fremder im eigenen Land" diskriminiert wäre. Jene afghanische Staatsangehörige, die keine familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan hätten oder ihr gesamtes Leben oder den überwiegenden Teil ihres Lebens im Iran gelebt hätten, seien vom Zugang zu Arbeit und Wohnraum nicht nur am Beginn ihrer Ansiedelung/Rückkehr, sondern "generell faktisch komplett ausgeschlossen". Damit unterscheide sich die Fallgruppe der "Iran-Rückkehrer" von jenen, die ihr ganzes Leben in Afghanistan verbracht hätten und dort sozialisiert worden seien.

15 Mit dieser Argumentation übersieht das Bundesverwaltungsgericht, dass sich auch der Verfassungsgerichtshof mit dieser Fallgruppe befasst und im Erkenntnis vom 12. Dezember 2017, E 2068/2017, festgehalten hat, dass einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrsche, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei und die Möglichkeit habe, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul zugemutet werden könne, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren worden sei, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan habe, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen sei. Eine solche damit in Einklang stehende Ansicht vertritt auch der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; 7.3.2018, Ra 2018/18/0103; 20.4.2018, Ra 2018/18/0194; 30.5.2018, Ra 2018/18/0228; 2.8.2018, Ra 2017/19/0229; 17.9.2018, Ra 2018/20/0397, mwN). Daraus folgt, dass eine spezifische Vulnerabilität nach der zitierten Rechtsprechung auch nicht alleine dadurch begründet wird, dass der Mitbeteiligte im Iran aufgewachsen ist (vgl. VwGH 10.9.2018, Ra 2018/19/0312).

16 Das weitere Argument des Bundesverwaltungsgerichtes, der Mitbeteiligte sei als Angehöriger der ethnischen und religiösen Minderheit der Hazara weitreichenden Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt, zeigt nicht auf, dass damit im Sinn der oben zitierten Rechtsprechung die reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung vorliegen würde.

17 Sohin stellt die Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes, es bestehe unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK, eine rechtliche Beurteilung dar, die in den Feststellungen keine Deckung findet (vgl. auch dazu die bereits oben zitierten Entscheidungen).

18 Davon ausgehend kann die in der Revision angesprochene Frage, welcher Maßstab in Fällen, in denen ein Fremder niemals im Herkunftsstaat gelebt hat, dahingestellt bleiben, weil die bisherigen Feststellungen die vom Bundesverwaltungsgericht allein vorgenommene rechtliche Beurteilung einer Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK nicht zu stützen vermögen. In diesem Verfahrensstadium hätte die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage nur hypothetischen Charakter, sodass eine Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht aufgezeigt wurde.

19 Das Bundesverwaltungsgericht ist nach dem Gesagten von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen. Daher war die Entscheidung im angefochtenen Umfang sowohl hinsichtlich des Spruchpunktes A.II. als auch hinsichtlich des Spruchpunktes A.III., weil dieser mit der Aufhebung des Spruchpunktes A.II. seine rechtliche Grundlage verliert (vgl. VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0236), wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 28. März 2019

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte