VwGH Ra 2017/08/0109

VwGHRa 2017/08/010912.1.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des A K in Wien, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. August 2017, Zl. W216 2144340- 1/3E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien, Schönbrunner Straße), zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §6;
MRK Art6;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017080109.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht die Notstandshilfe des Revisionswerbers gemäß § 24 Abs. 2 AlVG im Zeitraum vom 1. Oktober 2011 bis zum 31. August 2016 rückwirkend auf näher angeführte Tagessätze berichtigt und die für die Zeiträume 1. November 2013 bis 22. November 2014, 27. Mai bis 17. Dezember 2015 sowie 5. Jänner bis 31. August 2016 unberechtigt bezogene Notstandshilfe in Höhe von EUR 4.586,50 gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zum Rückersatz vorgeschrieben.

2 Der Revisionswerber habe seit 16. April 1993 wiederholt Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bezogen. Das letzte vollversicherte Dienstverhältnis habe mit 10. Juni 1998 geendet. Seitdem sei er einen Tag in geringfügiger Beschäftigung gestanden. Seit 13. Jänner 1999 beziehe er - mit kurzen Unterbrechungen - Notstandshilfe. Vom 2. Februar 2000 bis 27. April 2015 und ab 27. Mai 2015 habe er in R., 1120 Wien, bei der Unterkunftgeberin Christine K. seinen Hauptwohnsitz gehabt. Vom 28. April bis 26. Mai 2015 sei keine (Wohn‑)Adresse ersichtlich. Im verfahrensgegenständlichen Zeitraum habe der Revisionswerber sechs Anträge auf Zuerkennung von Notstandshilfe eingebracht. In den Antragsformularen habe er jeweils angegeben, ledig zu sein. In seinem Haushalt würden keine Angehörigen (auch keine Lebensgefährtin) leben. Mit seinen Unterschriften auf diesen Antragsformularen habe er u.a. zur Kenntnis genommen, dass spätestens innerhalb einer Woche nach Ereigniseintritt insbesondere mögliche Änderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse mitzuteilen bzw. alle Änderungen der auf diesem Formular gemachten Angaben unverzüglich zu melden seien, und dass falsche Angaben oder das Verschweigen maßgebender Tatsachen (z.B. auch das Nichtbeantworten von Fragen) die Einstellung und Rückforderung der bezogenen Leistung bewirken könnten.

3 In einem mit 2. Juni 2016 datierten Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt, das diese auf Grund des wiederholten Antrags des Revisionswerbers auf Gewährung einer Invaliditätspension habe erstellen lassen, sei unter der Überschrift "derzeitige Beschwerden" ausgeführt:

"Er könnte nicht arbeiten, weil er Panikattacken habe. Er habe einen Schuldenberg. Er lebe in Untermiete bei einer 15 Jahre älteren Frau. Das werde aber vom Sozialamt als Lebensgemeinschaft gewertet, deshalb bekomme er nur 400,-- Euro. Er habe sich sogar beim Verwaltungssenat beschwert, das habe nichts geholfen. Er bekomme 15,66 Euro pro Tag. Jedes Arschloch von Asylwerber bekomme mehr Taschengeld. Gegen die Panikattacken nehme er Anxiolyt. Nach Hinweis auf das Psychotropengesetz korrigierte der (Revisionswerber) (Suchtgift). Eine andere Medikation habe er nicht. Laufende Verordnungen habe er nicht. Er habe natürlich orth. u. intern. Probleme. Er habe starke Kopfschmerzen. Er habe auch Schmerzein in den Knie u. Ellbogen."

4 Einer mit dem Revisionswerber am 23. September 2016 aufgenommenen Niederschrift zufolge bestehe mit Christine K. ein mündlicher oder schriftlicher Untermietvertrag. Der Revisionswerber bewohne ein eigenes Zimmer bzw. einen räumlich abgetrennten Bereich. Es bestünden keine gemeinsamen finanziellen Verbindlichkeiten oder gemeinsame Mitversicherungen. Die Miete betrage EUR 225,-- monatlich, die Gaskosten pro Quartal EUR 148,-- und die Stromkosten pro Quartal EUR 125,--. Der Revisionswerber zahle an Christine K. eine Pauschale von EUR 200,--. Wenn er finanzielle Schwierigkeiten habe, verzichte Christine K. teilweise auf die Pauschale. Die Haushaltsführung (Kochen/Putzen/Waschen) werde gemeinsam ohne besondere Absprache erledigt. Die Freizeit werde nicht miteinander verbracht. Christine K. habe in einem Schreiben vom 24. April 2013 angegeben, dass der Revisionswerber ihr Mitbewohner in einer Wohnung sei, die aus Wohnküche, zwei Schlafzimmern, Bad, WC und Abstellraum mit (insgesamt) 56 m2 bestünde, wobei er alle Räumlichkeiten benützen dürfe. In der monatlichen Pauschale von EUR 200,-- seien zur Hälfte Miete, Strom/Gas und eventuelle Reparatur- und Instandhaltungskosten enthalten. Der Revisionswerber sei zu nichts verpflichtet, außer dass er keine Damenbesuche empfange, jedoch im Haushalt mithelfe.

5 Der Revisionswerber habe die Lebensgemeinschaft mit Christine K., die für das Verwaltungsgericht zweifelsfrei feststehe, der belangten Behörde nicht gemeldet.

6 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht aus, der festgestellte Sachverhalt ergebe sich aus dem Akt. Der UVS habe mit rechtskräftigem Bescheid vom 19. November 2013 festgestellt, dass zwischen dem Revisionswerber und Christine K. eine Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft bestehe. Das Verwaltungsgericht folge der Argumentation des UVS. Wie die belangte Behörde zutreffend ausgeführt habe, hätten sich keine ausreichenden Indizien ergeben, denen zufolge diese rechtskräftige Entscheidung des UVS nunmehr in Zweifel zu ziehen wäre. Vor allem in Anbetracht der widersprüchlichen Aussagen des Revisionswerbers und der Christine K. betreffend die Renovierung der gemeinsamen Wohnung (wo sich die Frage stelle, wer die Arbeiten durchgeführt und wer die Kosten übernommen habe) im "Beschwerdevorprüfungsverfahren vor dem AMS einerseits und im Verfahren beim UVS andererseits" komme auch das Verwaltungsgericht zum Schluss, dass die Angaben, wonach ein strikt getrenntes Leben und Wirtschaften vorliegen würde, in der geschilderten Form nicht realitätsnah sei. Da sowohl eine Wirtschafts- als auch eine Wohngemeinschaft vorliegen würde und somit zumindest zwei der drei Merkmale einer Lebensgemeinschaft feststellbar seien, sei jedenfalls vom Vorliegen einer Lebensgemeinschaft auszugehen. Der Widerruf und die Rückforderung der Notstandshilfe seien zu Recht erfolgt.

7 Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit den Beschwerdegründen und dem Begehren geklärt erscheine, habe eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 VwGVG entfallen können. Der Sachverhalt sei weder in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig noch in entscheidenden Punkten als nicht richtig erschienen. Rechtlich relevante und zulässige Neuerungen seien in der Beschwerde nicht vorgetragen worden. Es liege eine Rechtsfrage von nicht besonderer Komplexität vor.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision. Die belangte Behörde hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie die Abweisung der Revision beantragt.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Der Revisionswerber macht als Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung geltend, dass das Verwaltungsgericht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen habe, obwohl die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 und 4 VwGVG nicht gegeben gewesen seien. Der Sachverhalt sei strittig gewesen. Das Vorbringen des Revisionswerbers sei dem Standpunkt der belangten Behörde diametral entgegengesetzt gewesen, was die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich gemacht hätte.

10 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

11 Im vorliegenden Fall war die Frage des Bestehens einer Lebensgemeinschaft zwischen dem Revisionswerber und Christine K. strittig. Das dazu erstattete Beschwerdevorbringen sowie die niederschriftlichen Aussagen erachtete das Bundesverwaltungsgericht nicht als glaubwürdig.

12 Es gehört aber gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa VwGH 16.5.2017, Ra 2017/08/0026, mwN).

13 Bei Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um "civil rights" im Sinn des Art. 6 EMRK. Die Relevanz des Verfahrensmangels der Unterlassung der Durchführung einer Verhandlung war daher nicht zu prüfen (vgl. etwa VwGH 7.8.2017, Ra 2016/08/0171, mwN).

14 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 12. Jänner 2018

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