VwGH Ra 2016/22/0056

VwGHRa 2016/22/00563.10.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, in der Revisionssache des S R in W, vertreten durch Dr. Georg Riedl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schottengasse 10/12, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 25. April 2016, VGW-151/016/13782/2015-25, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:

Normen

MRK Art8 Abs2;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde des Revisionswerbers, eines serbischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid der belangten Behörde, mit dem sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen wurde, als unbegründet ab. Das Verwaltungsgericht begründete die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden und daher gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 iVm. Abs. 4 Z 1 NAG den öffentlichen Interessen widerstreiten würde. Die Erteilung des Aufenthaltstitels sei auch nicht nach § 11 Abs. 3 NAG zum Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten.

Die Revision erklärte das Verwaltungsgericht gemäß § 25a Abs. 1 VwGG für nicht zulässig.

2.2. Dagegen wendet sich die außerordentliche Revision, in der ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs behauptet wird. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG wird jedoch nicht aufgezeigt.

3.1. Der Revisionswerber macht geltend, das Verwaltungsgericht habe außer Acht gelassen, dass die Prüfung des Vorliegens einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit fallbezogen in Form einer Prognose nach dem Gesamtverhalten des Fremden zu erfolgen habe. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen seien dabei nicht zulässig, es müsse vielmehr das Verhalten des Fremden eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen; auf strafgerichtliche Verurteilungen allein komme es nicht an. Vorliegend wäre insbesondere im Hinblick auf den langen Zeitraum seit der Begehung der Straftaten eine Gefährdung zu verneinen gewesen (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 17. November 2015, Ra 2015/22/0087). Das Verwaltungsgericht habe eine negative Prognose erstellt, ohne dies näher zu begründen.

3.2. Gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 NAG dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nur erteilt werden, wenn sein Aufenthalt nicht öffentlichen Interessen widerstreitet. Dies ist nach § 11 Abs. 4 Z 1 NAG dann der Fall, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt, ist bei der Auslegung des § 11 Abs. 4 Z 1 NAG eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung geboten (vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. Februar 2008, 2006/21/0218). Im Rahmen dieser Prognoseentscheidung ist die Behörde (das Verwaltungsgericht) berechtigt, alle den antragstellenden Fremden betreffenden relevanten Umstände zu berücksichtigen, aber auch verpflichtet, diese einer auf ihn bezogenen Bewertung zu unterziehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3. April 2009, 2008/22/0908).

3.3. Das Verwaltungsgericht berücksichtigte im Rahmen seiner Prognosebeurteilung, dass der Revisionswerber bereits die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung im Jahr 2003 unter Verwendung einer gefälschten Geburtsurkunde erschlichen hat, worin eine schwere Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen zu erblicken ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 14. Mai 2009, 2009/22/0008). Das Verwaltungsgericht maß insbesondere der strafgerichtlichen Verurteilung des Revisionswerbers im Jahr 2006 zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren wegen des Verbrechens der schweren Nötigung sowie der Vergehen der (schweren) Körperverletzung, der Nötigung, der gefährlichen Drohung und der Urkundenunterdrückung gegenüber der damaligen Lebensgefährtin des Revisionswerbers eine entscheidende Bedeutung bei. Es brachte dabei im Einklang mit der Rechtsprechung (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 17. September 2008, 2008/22/0269) das den Straftaten an Hand der konkreten Umstände des Einzelfalls zugrunde liegende Fehlverhalten (vor allem den langen Tatzeitraum, die besondere Brutalität bei der Tatausführung sowie den letztlich herbeigeführten Suizidversuch des Opfers mit bleibenden Schäden), die bis zuletzt unterlassene finanzielle Wiedergutmachung trotz gerichtlicher Verpflichtung sowie die nicht erkennbare Reue bzw. kritische Auseinandersetzung mit den verübten Straftaten (auch wenn der Revisionswerber vor dem Verwaltungsgericht bemüht war, einen höflichen und beherrschten Eindruck zu vermitteln, und auf die in der Haft absolvierte Aggressionstherapie verwies) in Ansatz. Das Verwaltungsgericht bezog in seine Prognosebeurteilung ferner ein, dass der Revisionswerber trotz endgültiger Abweisung seines Asylantrags im Jahr 2013 und des damals noch bestehenden behördlichen Aufenthaltsverbots die Ausreise mehr als zwei Jahre lang vorsätzlich unterlassen hat, weshalb über ihn im September 2015 eine Verwaltungsstrafe nach dem FPG verhängt worden ist. Zudem wurden über ihn in einem nicht einmal zweijährigen Zeitraum in den Jahren 2011 bis 2013 diverse Verwaltungsstrafen nach der StVO und dem KFG verhängt.

3.4. Unter den aufgezeigten Umständen ist das Verwaltungsgericht im Einklang mit der Rechtsprechung im Rahmen einer eingehenden fallbezogenen Prognosebeurteilung nach dem Gesamtverhalten auf nicht unvertretbare Weise zum Ergebnis gelangt, dass die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zu einer Gefährdung der öffentlichen Interessen führen würde, weil trotz des längeren Zeitraums seit der Begehung der strafgerichtlich verfolgten Taten nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Aufenthalt des - nach seinem bisherigen Gesamtverhalten gegenüber den rechtlich geschützten Werten in einem hohen Maß ablehnend eingestellten - Revisionswerbers auch in Hinkunft zu einer erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit führen könnte. Von einer - wie der Revisionswerber vermeint - vom Einzelfall losgelösten bzw. bloß auf Generalprävention verweisenden Begründung kann keine Rede sein, hat doch das Verwaltungsgericht durch umfassende Abwägung aus dem Gesamtverhalten eine tatsächliche und erhebliche Gefahr erschlossen. Eine unzulängliche Begründung der Prognosebeurteilung ist ebenso nicht ersichtlich. Soweit sich der Revisionswerber auf das hg. Erkenntnis Ra 2015/22/0087 beruft, übersieht er, dass jener Entscheidung ein nicht vergleichbarer Sachverhalt zugrunde lag und dort andere Rechtsfragen im Vordergrund standen.

4.1. Der Revisionswerber macht weiters geltend, das Verwaltungsgericht habe im Rahmen der Beurteilung nach Art. 8 EMRK nicht beachtet, ob die Fortsetzung des Privat- und Familienlebens im Ausland möglich sei. Das Verwaltungsgericht habe trotz des gemeinsamen Wohnsitzes mit seiner nunmehrigen Ehefrau im Inland seit der Entlassung aus der Strafhaft im Jahr 2008 kein schützenswertes Familienleben angenommen. Eine Trennung wäre aber nur zulässig, wenn dem öffentlichen Interesse ein sehr großes Gewicht beizumessen wäre. Das Verwaltungsgericht habe auch die Beziehung zu anderen in Wien lebenden Verwandten nicht ausreichend berücksichtigt. Im Übrigen sei bei einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt in der Regel von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib auszugehen.

4.2. Diesen Ausführungen ist vorweg entgegenzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen, wenn sie - wovon auch hier auszugehen ist - auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze erfolgte, nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. den hg. Beschluss vom 21. September 2017, Ra 2017/22/0106).

4.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits wiederholt ausgesprochen, dass das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in seinem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 30. August 2011, 2009/21/0197). Vorliegend ist das Familienleben des Revisionswerbers mit seiner - im Jahr 2010 geheirateten - Ehefrau während des offenen Asylverfahrens und damit zu einer Zeit entstanden, in dem er sich der Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus bewusst sein musste; zudem bestand von November 2002 bis Juli 2015 ein Aufenthaltsverbot gegen den Revisionswerber. Im Hinblick darauf begegnet aber die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der während des unsicheren Aufenthalts erlangten Integration fallbezogen ein geringeres Gewicht beizumessen sei, keinen Bedenken.

Der Verwaltungsgerichtshof hat auch schon hervorgehoben, dass der mit der Versagung eines Aufenthaltstitels verbundene Eingriff in das Familienleben - so auch durch Trennung von einem dauerhaft niedergelassenen Ehegatten - dann nicht unzulässig ist, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer solchen Maßnahme ein sehr großes Gewicht - etwa bei Straffälligkeit des Fremden (insbesondere bei Gewaltdelikten) - beizumessen ist (vgl. in dem Sinn die hg. Erkenntnisse vom 24. Februar 2009, 2008/22/0583, und vom 11. November 2013, 2013/22/0224). Von einer solchen Konstellation ist erkennbar auch das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die vom Revisionswerber begangenen schwer wiegenden Straftaten und sonstigen Rechtsverletzungen ausgegangen.

Was die in Wien lebende Schwester des Revisionswerbers betrifft, so fällt die familiäre Beziehung zu dieser nicht unter den Schutz des Art. 8 EMRK, zumal keine über die üblichen Merkmale der Abhängigkeit hinzutretenden Bindungen (etwa ein gemeinsamer Haushalt oder eine Unterhaltsgewährung) gegeben sind (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 19. Februar 2014, 2013/22/0037). Eine familiäre Beziehung zu anderen in Wien lebenden Verwandten ist nach den Feststellungen nicht gegeben.

Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass sich der Revisionswerber bereits seit Juni 2015 wieder in Serbien aufhält, wo auch seine (zirka 16 Jahre alte) Tochter lebt, und seine Ehefrau ebenso serbische Staatsangehörige ist, sodass eine Fortsetzung des gemeinsamen Familienlebens im Ausland fallbezogen weder unmöglich noch unzumutbar erscheint.

4.4. Mag auch - wie der Revisionswerber richtig hervorhebt - im Rahmen einer Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden in der Regel von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sein, so ist das Verwaltungsgericht doch - unter Bedachtnahme auf die besonderen Umstände des hier gegebenen Falls (vor allem die im hohen Maß fehlende Rechtstreue des Revisionswerbers) unter gewichtender Abwägung des öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung - auf jedenfalls nicht unvertretbare Weise zum Überwiegen des öffentlichen Interesses und damit zur Versagung des beantragten Aufenthaltstitels gelangt.

5. Insgesamt wird daher keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb zurückzuweisen.

Wien, am 3. Oktober 2017

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