VwGH Ra 2016/22/0015

VwGHRa 2016/22/001510.5.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des D R in Wien, vertreten durch Dr. Michael Drexler, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hörlgasse 4/5, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 24. November 2015, VGW-151/082/11071/2014-15, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §60 Abs2 Z9;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs1 Z4;
NAG 2005 §30 Abs1;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2016220015.L00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, heiratete am 13. September 2004 in Wien eine österreichische Staatsbürgerin und stellte am 1. Oktober 2004 persönlich im Inland einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familiengemeinschaft mit seiner Ehefrau, der nunmehr als Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zu werten ist. Die im Instanzenzug ergangene abweisende Entscheidung des Bundesministers für Inneres vom 8. Februar 2008 wurde mit hg. Erkenntnis vom 23. Februar 2012, 2008/22/0359, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufgehoben, weil die Behörde in Verkennung der durch den EuGH mit Urteil vom 15. November 2011, C- 256/11 , klargestellten Rechtslage nicht anhand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft habe, ob fallbezogen ein Ausnahmefall vorliege, wonach es das Unionsrecht gebiete, dem Revisionswerber einen Aufenthaltstitel zu erteilen.

2 Im fortgesetzten Verfahren wies der Landeshauptmann von Wien den Antrag des Revisionswerbers mit Bescheid vom 23. Mai 2013 (zugestellt am 29. Mai 2013) neuerlich ab.

3 Mit Schriftsatz vom 27. Mai 2013 (bei der Behörde eingelangt am 29. Mai 2013) führte der Revisionswerber aus, wenn ihm "aufgrund des Verhaltensweise" seiner Ehefrau keine Niederlassungsbewilligung ausgestellt werden könne, beantrage er die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK. Begründend wies er darauf hin, dass er sich seit zehn Jahren in Österreich aufhalte.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (VwG) die nunmehr als Beschwerde zu wertende Berufung des Revisionswerbers im Wesentlichen deshalb ab, weil der Revisionswerber kein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK mit seiner Ehefrau führe, und stützte diese Entscheidung unter anderem auf § 30 Abs. 1 NAG. Begründend führte das VwG aus, im Rahmen der mündlichen Verhandlung hätten der Revisionswerber und seine Ehefrau übereinstimmend ausgesagt, seit Herbst 2011 keinen gemeinsamen Haushalt mehr zu führen und seit dem Jahr 2013 überhaupt keinen persönlichen Kontakt mehr zu haben. Die Ehe sei noch nicht geschieden, weil der Revisionswerber einen Scheidungsvergleich nicht unterzeichnet habe. Rechtlich führte das VwG unter Hinweis auf die hg. Erkenntnisse vom 19. September 2012, 2008/22/0243, vom 27. Jänner 2011, 2008/21/0633, und vom 29. Juni 2010, 2006/18/0484, aus, dass eine Aufenthaltsehe im Sinn des § 30 Abs. 1 NAG dann vorliege, wenn sich ein Fremder für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels auf eine von ihm geschlossene Ehe berufe, obwohl er in diesem Zeitpunkt kein gemeinsames Familienleben mit der Ehefrau im Sinn des Art. 8 EMRK führe, wobei ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Berufen auf ein Familienleben und dem Zeitpunkt des Nichtbestehens eines solchen gegeben sein müsse. Ein (allenfalls) ehemals geführtes Familienleben hindere nicht die Annahme des (späteren) Bestehens einer Aufenthaltsehe, wenn zum maßgeblichen Zeitpunkt der beantragten Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels kein Familienleben (fort-)bestehe (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 27. März 2007, 2006/21/0391). Fallbezogen berufe sich der Revisionswerber auf seine Ehe zur (erstmaligen) Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels, obwohl dieser nicht zur Familienzusammenführung mit seiner Ehefrau diene. Soweit er sich (weiterhin) auf diese Ehe stütze, obwohl seit mehreren Jahren kein Familienleben mehr geführt werde, liege eine Aufenthaltsehe im Sinn des § 30 Abs. 1 NAG vor. § 11 Abs. 1 Z 4 NAG sehe bei Vorliegen einer Aufenthaltsehe einen zwingenden Versagungsgrund vor, daher sei eine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG nicht erforderlich. Der Umstand eines (heute) nicht mehr geführten Familienlebens sei auch dann maßgeblich, wenn sich die Verhältnisse erst während des Verfahrens über die Erteilung des Aufenthaltstitels geändert haben sollten (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 19. September 2012, 2008/22/0329).

Den "Eventualantag" vom 27. Mai 2013 auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK wies das VwG mit Beschluss zurück, weil zum Zeitpunkt des Einlangens dieses Antrages bei der Behörde (am 29. Mai 2013) das Verfahren über den Hauptantrag bereits beendet gewesen sei; das VwG sei für die erstmalige Behandlung des Eventualantrages unzuständig; eine Weiterleitung gemäß § 6 AVG komme nicht in Betracht.

Eine ordentliche Revision wurde nicht für zulässig erklärt. 5 Erkennbar nur gegen die Abweisung des Aufenthaltstitels

richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision mit dem Antrag auf Aufhebung des "Urteils" des VwG und Zurückverweisung zur Verfahrensergänzung der Beurteilung nach Art. 8 EMRK sowie Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH.

6 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Die Revision ist im Hinblick darauf, ob in einer Konstellation wie der vorliegenden eine Aufenthaltsehe im Sinn des § 30 Abs. 1 NAG vorliegt und daher keine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG durchzuführen ist, zulässig.

8 Die Revision bringt vor, das VwG gehe aktenwidrig vom Vorliegen einer Aufenthaltsehe aus. Eine solche liege nur vor, wenn eine Ehe eingegangen werde, um einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Im vorliegenden Fall habe die Ehefrau des Revisionswerbers jedoch ausgesagt, dass bei der Heirat eine "normale" Ehe vorgelegen sei und sie diese aus welchen Gründen auch immer nicht fortsetzen wolle. Eine Aufenthaltsehe liege nicht vor, wenn - wie vorliegend - eine "echte" Ehe eingegangen worden sei und sich die Ehepartner auseinandergelebt hätten. Das VwG habe sich auf hg. Judikatur gestützt, die auf den konkreten Einzelfall nicht zutreffe und nur zur Rechtfertigung dienen sollte, auf Art. 8 EMRK nicht eingehen zu müssen. Anschließend regt die Revision die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Überprüfung des § 11 Abs. 3 NAG an.

9 Aus dem den vorgelegten Verfahrensakten beiliegenden Verhandlungsprotokoll der fortgesetzten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 21. Oktober 2015 geht hervor, dass die Ehefrau des Revisionswerbers eigenen Angaben zufolge zwischen 2004 und 2011 mit dem Revisionswerber zusammenlebte. Gegenteilige Feststellungen wurden im angefochtenen Erkenntnis nicht getroffen. Es gibt somit keine Hinweise dafür, dass der Revisionswerber und seine Ehefrau zum Zeitpunkt der Antragstellung im Oktober 2004 kein Familienleben geführt hätten.

10 Fraglich ist somit, ob nach Eingehen einer "echten" Ehe und Berufen auf das zum Zeitpunkt der Antragstellung tatsächlich geführte Familienleben der Tatbestand des § 30 Abs. 1 NAG auch dann verwirklicht ist, wenn im Laufe des Verfahrens die eheliche Gemeinschaft - trotz formal weiterhin aufrechter Ehe - aufgelöst, der ursprünglich gestellte Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels mit dem Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit der Ehefrau" aber dennoch aufrecht gehalten wird.

11 § 30 NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, der gemäß § 81 Abs. 1 NAG auf zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens dieses Gesetzes am 1. Jänner 2006 anhängig gewesene Verfahren anzuwenden ist, lautet auszugsweise:

"Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft und Aufenthaltsadoption

§ 30. (1) Ehegatten oder eingetragene Partner, die ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht führen, dürfen sich für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe (...) berufen.

(2) ..."

12 Nach dem eindeutigen Wortlaut ist der Tatbestand des § 30 Abs. 1 NAG u.a. dann erfüllt, wenn sich der Ehegatte zur Erteilung eines Aufenthaltstitels auf eine Ehe beruft, obwohl kein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK geführt wird. Entgegen der Ansicht des Revisionswerbers erfordert § 30 Abs. 1 NAG nicht, dass die Ehe - quasi in Missbrauchsabsicht - zu dem Zweck geschlossen wurde, einen Aufenthaltstitel zu erlangen (vgl. hingegen die Judikatur zu § 60 Abs. 2 Z 9 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG idF vor BGBl. I Nr. 38/2011, etwa vom 22. März 2011, 2007/18/0855, und vom 3. April 2009, 2008/22/0591, wonach zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes eine Missbrauchsabsicht bereits bei der Eheschließung bestanden haben muss). Der Verwaltungsgerichtshof ließ im Erkenntnis vom 19. September 2012, 2008/22/0243, bereits erkennen, dass bei der Beurteilung nach § 30 Abs. 1 NAG nicht nur auf den Zeitpunkt der Antragstellung unter Berufung auf eine familienrechtliche Beziehung, sondern auch auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (nun: des Erkenntnisses des VwG) abzustellen ist. In diesem Sinn sprechen Bichl/Schmid/Szymanski, Das neue Recht der Arbeitsmigration, K1 zu § 30 NAG, davon, es komme darauf an, ob die Ehegatten "im Betrachtungszeitpunkt" ein Familienleben führen.

13 Fallbezogen ist unstrittig, dass der Revisionswerber und seine Ehefrau zumindest seit 2013 kein gemeinsames Familienleben mehr führen. Dadurch, dass der Revisionswerber auch nach Auflösung des gemeinsamen Familienlebens seinen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familiengemeinschaft mit seiner Ehefrau aufrecht hielt, wurde der Tatbestand des § 30 Abs. 1 NAG erfüllt.

14 Das VwG ging somit zutreffend vom Vorliegen eines absoluten Versagungsgrundes gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG aus. Nach ständiger hg. Rechtsprechung ist in einem solchen Fall eine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG nicht vorzunehmen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 24. April 2012, 2008/22/0872, mwN).

15 In der Revision wurde weiter beantragt, das Verfahren auszusetzen und ein Vorabentscheidungsverfahren zur Überprüfung des § 11 Abs. 3 NAG einzuleiten. Begründend wurde ausgeführt, dass bei einer verhältnismäßig langen Verfahrensdauer von elf Jahren eine Änderung des Aufenthaltszwecks in Form eines Eventualantrages im "2.instanzlichen Verfahren" nicht mehr möglich sei und damit die Prüfung nach Art. 8 EMRK ausgeschlossen werde, indem behauptet werde, dass eine Aufenthaltsehe vorliege; der gesetzliche Ausschluss der Überprüfung des Lebenssachverhaltes nach Art. 8 EMRK widerspreche den Grundsätzen des Parteiengehörs, weil das diesbezügliche Vorbringen "der jahrzehnte langen Integration nicht gehört wird."

16 Dazu ist zunächst auszuführen, dass es dem Revisionswerber unbenommen gewesen wäre, seinen ursprünglichen Antrag zurückzuziehen und einen neuen Antrag mit einem anderen Aufenthaltszweck zu stellen. Aus der Formulierung seines Schriftsatzes vom 27. Mai 2013 geht jedoch hervor, dass er seinen ursprünglichen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aufrecht hielt und nur für den Fall, dass ihm diese nicht erteilt werden könne, die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK beantrage. Als Antragsänderung kann diese Äußerung nicht qualifiziert werden. Schließlich bleibt offen, inwiefern das Unterbleiben einer Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG "den Grundsätzen des Parteiengehörs" widerspreche. Der Verwaltungsgerichthof sieht sich somit nicht veranlasst, ein Vorabentscheidungsverfahren zur Überprüfung des § 11 Abs. 3 NAG einzuleiten.

17 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

Wien, am 10. Mai 2016

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