VwGH Ra 2014/22/0108

VwGHRa 2014/22/010827.1.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, den Hofrat Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bundesministerin für Inneres gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom 24. Juni 2014, Zlen. LVwG 26.9-1933/2014-13, LVwG 26.9-1935/2014-13, LVwG 26.9- 1936/2014-9 und LVwG 26.9-1938/2014-9, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Parteien: E, Y, XX, geboren am 2. Juni 2005, und XY, geboren am 9. September 2006; vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde: Landeshauptmann von Steiermark), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §68 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AVG §68 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Mit Bescheid vom 27. Dezember 2011 hat der Landeshauptmann von Steiermark (im Folgenden: Behörde) die Anträge der Mitbeteiligten (ein Ehepaar und zwei Kinder türkischer Staatsangehörigkeit) auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG, gemäß § 3 Abs. 1 und § 43 Abs. 3 leg. cit. als unzulässig zurückgewiesen.

Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Steiermark den dagegen von den mitbeteiligten Parteien erhobenen, als Beschwerden zu wertenden Berufungen Folge und behob den angefochtenen Bescheid.

Nach Wiedergabe der maßgeblichen Gesetzesbestimmungen folgerte das Verwaltungsgericht, dass unbestrittener Weise eine rechtskräftige Ausweisung der Mitbeteiligten vorliege und sich die Behörde auf den Standpunkt gestellt hätte, ein maßgeblich geänderter Sachverhalt wäre nicht hervorgekommen. Dennoch hätte sie Feststellungen getroffen, wonach ein um wenige Monate verlängerter Aufenthalt, weiters eine Kursbesuchsbestätigung der Zweitmitbeteiligten sowie ein arbeitsrechtlicher Vorvertrag als vorliegend angenommen worden wären. Wenngleich die Behörde vermeint habe, diese beiden Elemente könnten eine entsprechende Neubewertung der Beurteilung nach Art. 8 EMRK nicht bewirken, hätte sie selbst eine wesentliche Bewertung vorgenommen. Sie habe nämlich ausgeführt, dass selbst im Falle einer positiven Erledigung ein Zugang zum Arbeitsmarkt auf Grund des vorgelegten Vorvertrages nicht gesehen werden könnte und somit nicht relevant wäre. "Auch der Deutschkursbesuch der Zweitantragstellerin sowie die Vorlage von einigen Unterschriften könnten eine Neubeurteilung auf Grundlage des Art. 8 EMRK nicht nach sich ziehen."

Mit diesen Aussagen habe die Behörde aber bereits eine inhaltliche Bewertung des geänderten Sachverhaltes vorgenommen, sodass bezogen auf diese Umstände trotz der relativen zeitlichen Nähe des angefochtenen Bescheides zur Entscheidung des Asylgerichtshofes eine Antragszurückweisung nicht hätte in Betracht kommen dürfen.

Weiters erklärte das Verwaltungsgericht die ordentliche Revision mit dem Hinweis auf Art. 133 Abs. 4 B-VG ohne weitere Begründung für unzulässig.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Amtsbeschwerde der Bundesministerin für Inneres, Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 81 Abs. 26 NAG idF BGBl. I Nr. 68/2013 war das mit Ablauf des 31. Dezember 2013 bei der Bundesministerin für Inneres anhängige Berufungsverfahren vom zuständigen Landesverwaltungsgericht nach den Bestimmungen des NAG idF vor dem BGBl. I Nr. 87/2012 zu Ende zu führen.

Der demnach im Beschwerdefall noch anzuwendende § 44b Abs. 1 NAG lautete:

"Liegt kein Fall des § 44a Abs. 1 vor, sind Anträge gemäß §§ 41a Abs. 9 oder 43 Abs. 3 als unzulässig zurückzuweisen, wenn

1. gegen den Antragsteller eine Ausweisung rechtskräftig erlassen wurde, oder

2. rechtskräftig festgestellt wurde, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 66 FPG jeweils auf Grund des § 61 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 bloß vorübergehend unzulässig ist, oder

3. die Landespolizeidirektion nach einer Befassung gemäß Abs. 2 in ihrer Beurteilung festgestellt hat, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG oder eine Ausweisung gemäß § 66 FPG zulässig oder jeweils auf Grund des § 61 FPG bloß vorübergehend unzulässig ist,

und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt."

Der Sache nach ist der Zurückweisungsgrund des § 44b Abs. 1 Z 1 NAG der Zurückweisung wegen entschiedener Sache (§ 68 Abs. 1 AVG) nachgebildet. Die zu § 68 Abs. 1 AVG entwickelten Grundsätze für die Beurteilung, wann eine Änderung des Sachverhalts als wesentlich anzusehen ist, können daher auch für die Frage, wann maßgebliche Sachverhaltsänderungen im Sinne des § 44b Abs. 1 Z 1 NAG vorliegen, herangezogen werden. Demnach ist eine Sachverhaltsänderung dann wesentlich, wenn sie für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die rechtskräftige Entscheidung gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann. Die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheides (bezogen auf § 44b Abs. 1 Z 1 NAG: eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK) muss also zumindest möglich sein? in dieser Hinsicht hat die Behörde eine Prognose zu treffen. Dabei ist die Wesentlichkeit der Sachverhaltsänderung nach der Wertung zu beurteilen, die das geänderte Sachverhaltselement in der seinerzeitigen Entscheidung erfahren hat. Bei dieser Prognose sind hier die nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände jedenfalls soweit einzubeziehen, als zu beurteilen ist, ob es angesichts dieser Umstände nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann, dass im Blick auf früher maßgebliche Erwägungen eine andere Beurteilung nach Art. 8 EMRK unter Bedachtnahme auf den gesamten vorliegenden Sachverhalt nunmehr geboten sein könnte. Eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK muss sich zumindest als möglich darstellen (vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 10. April 2014, 2013/22/0198).

Unbestritten reisten der Erstmitbeteiligte, die Zweitmitbeteiligte und die Drittmitbeteiligte im Jahr 2006 illegal in Österreich ein und stellten erfolglos Asylanträge. Die Viertmitbeteiligte wurde in Graz geboren. Die Mitbeteiligten wurden rechtskräftig mit der asylrechtlichen Entscheidung vom 15. Juli 2011 ausgewiesen. Sie stellten am 24. August 2011 Anträge auf Erteilung von Niederlassungsbewilligungen aus humanitären Gründen gemäß § 43 Abs. 3 NAG.

Diese Anträge wies die Behörde gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG zurück und führte dazu aus, dass sich der Sachverhalt eindeutig lediglich geringfügig geändert präsentiere, dass jedenfalls mit einer Antragszurückweisung vorgegangen werden könne. Die weitere Bescheidbegründung lautet (korrigiert) auszugsweise:

"Wie in der Sachverhaltsdarstellung ausgeführt befinden sich die Antragsteller seit 5 Jahren im Bundesgebiet, eine asylrechtliche Ausweisung wurde im Juli 2011 rechtskräftig. Im Rahmen der Entscheidung des Asylgerichtshofes wurden im Wesentlichen sämtliche Aspekte im Hinblick auf § 10 Asylgesetz bzw. § 11 Abs. 3 NAG, die im Gleichklang stehen, beurteilt und bewertet und letztlich eine Ausweisung für rechtmäßig befunden.

Die vorgebrachten Fluchtgründe sind im gegenständlichen Verfahren jedenfalls nicht von Relevanz, da ausschließlich der Grad der Integration zu bewerten ist, der jedoch im gegenständlichen Fall definitiv nicht entsprechend vorhanden ist. Das einzige veränderte Sachverhaltselement in Bezug auf den Zeitpunkt der Ausweisung ist naturgemäß ein um wenige Monate verlängerter Aufenthalt, bzw. in inhaltlicher Form die Kursbesuchsbestätigung der Zweitantragstellerin sowie ein vorgelegter arbeitsrechtlicher Vorvertrag. Diese beiden Elemente können jedoch in keiner Weise eine entsprechende Neubewertung oder Beurteilung auf der Grundlage des Art. 8 EMRK bewirken, zumal der Erstantragsteller mangels entsprechender Deutschkenntnisse selbst im Falle einer positiven Erledigung keinen Zugang zum Arbeitsmarkt hat und der vorgelegte Vorvertrag somit von keiner Relevanz ist. Auch der bloße Besuch eines Deutschkurses der Zweitantragstellerin sowie die Vorlage von einigen Unterschriften können für sich allein in keiner Weise eine umfassende Neubeurteilung auf der Grundlage des Art. 8 EMRK nach sich ziehen, da schließlich auch in Bezug auf die beiden Kinder sämtliche Aspekte bereits vom Asylgerichtshof im Rahmen der Ausweisung gewürdigt wurden. Auch betreffend die Antragstellerinnen III und IV ist letztlich nur der naturgemäß verlängerte Aufenthalt im Bundesgebiet verändert, der jedoch in diesem Ausmaß von 5 Monaten ebenfalls keine Neubeurteilung erforderlich macht."

Die Begründung schließt mit den Ausführungen, dass sich auf Grund der Antragsbegründung, der eingeholten Stellungnahme der Sicherheitsdirektion und der Stellungnahme im Rahmen des Parteiengehörs kein dermaßen veränderter Sachverhalt ergebe, dass eine inhaltliche Neubewertung auf der Grundlage des Art. 8 EMRK erforderlich gewesen wäre und somit mit einer Antragszurückweisung vorzugehen gewesen sei.

Das Landesverwaltungsgericht Steiermark vertrat im angefochtenen Erkenntnis die Ansicht, die Behörde hätte den Sachverhalt inhaltlich bewertet, sodass eine Antragszurückweisung nicht in Betracht hätte kommen dürfen. Als Beleg zitierte es das hg. Erkenntnis vom 22. Juli 2011, 2011/22/0127.

Dabei übersah es jedoch, dass die jeweiligen behördlichen Entscheidungen nicht vergleichbar sind. In dem dem zitierten Erkenntnis zu Grunde liegenden Bescheid hat nämlich die dort belangte Behörde ausdrücklich eine Interessenabwägung getätigt und ausgeführt, dass die im Zeitpunkt der letztinstanzlichen Ausweisungsentscheidung vorgenommene Abwägung nach Art. 8 EMRK sich im Ergebnis immer noch als zutreffend erweise. Sie hat somit eine Gesamtbeurteilung vorgenommen und in Verkennung der Rechtslage trotzdem den Zurückweisungsbescheid bestätigt. Im vorliegenden Fall hat jedoch die Behörde ausdrücklich dargelegt, dass die vorgebrachten Umstände "in keiner Weise eine entsprechende Neubewertung oder Beurteilung auf der Grundlage des Art. 8 EMRK bewirken" könnten. Dies aus der (zutreffenden) Erwägung heraus, dass der vorgelegte Vorvertrag (dem im Hinblick darauf, dass der Erstmitbeteiligte mangels entsprechender Deutschkenntnisse keinen Zugang zum Arbeitsmarkt habe, die Relevanz abgesprochen wurde) und auch der bloße Besuch eines Deutschkurses durch die Zweitmitbeteiligte keine umfassende Neubeurteilung nach sich ziehen könnte (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 10. Dezember 2013, 2013/22/0362, unter Hinweis auf jenes vom 29. Mai 2013, 2011/22/0013).

Der Schluss des Verwaltungsgerichtes, dass die Behörde eine (umfassende) Bewertung nach Art. 8 EMRK vorgenommen habe und deswegen nicht mit einer Antragszurückweisung hätte vorgehen dürfen, ist somit nicht nachvollziehbar. In eindeutiger Weise hat die Behörde die vorgebrachten Sachverhaltsänderungen nur dahin geprüft, ob diese zu einem anderen Ergebnis der Interessenabwägung gegenüber jener im asylgerichtlichen Verfahren führen könnten.

Da das Verwaltungsgericht somit von der hg. Rechtsprechung abgewichen ist, war das angefochtene Erkenntnis - gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ohne Bindung an den Ausspruch über die Unzulässigkeit einer Revision - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Wien, am 27. Jänner 2015

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