VwGH 98/20/0414

VwGH98/20/041421.9.2000

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Puck und die Hofräte Dr. Baur und Dr. Hinterwirth als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Winter, über die Beschwerde der am 1. Juli 1961 geborenen MS in K, vertreten durch Dr. Clemens Oppolzer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stubenring 2, gegen Spruchpunkt I des Bescheides des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 18. Juni 1998, Zl. 201.208/0-VI/18/98, betreffend Asylgewährung (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AVG §56;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §7;
AVG §56;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird in seinem Spruchpunkt I wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundeskanzleramt) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine irakische Staatsangehörige, reiste am 11. Mai 1996 in das Bundesgebiet ein und stellte am 24. Mai 1996 einen Antrag auf Gewährung von Asyl. Bei ihrer niederschriftlichen Vernehmung vor dem Bundesasylamt gab sie im Wesentlichen zu ihren Fluchtgründen an, sie sei Schiitin, ihr Ehegatte sei beim Militär als Fotograf tätig gewesen und habe die Kriegshandlungen zwischen dem Irak und dem Iran dokumentieren sollen. Im Geheimen habe er auch von den Irakern getötete Kurden fotografiert und sei im April 1986 von hinten erschossen worden, nachdem dies dem Geheimdienst bekannt geworden sei. 1988 oder 1989 sei ihr Wohnhaus ohne Grund von der Polizei durchsucht worden und habe die Unterdrückung immer mehr zugenommen. Sie habe damals schon große Angst gehabt und sich 1990 bei der Österreichischen Botschaft in Bagdad um ein Visum bemüht. Sie habe dann am 27. Juni 1990 tatsächlich ein Visum für Österreich erhalten und von den irakischen Behörden auch die Ausreiseerlaubnis, habe jedoch dann wegen des Überfalls auf Kuwait, wonach die irakischen Grenzen geschlossen worden seien, den Irak nicht mehr verlassen können. Nach Ende des Golfkrieges habe es im Süden des Iraks den Schiitenaufstand gegeben und nach Niederschlagung des Aufstandes habe erneut die Unterdrückung begonnen. 1992 oder 1993 habe es eine weitere Hausdurchsuchung nach Flugblättern gegeben. Sie habe immer wieder versucht den Irak zu verlassen, erst jetzt sei ihr die Ausreise gelungen. Sie habe den Irak verlassen, weil sie jederzeit mit einer willkürlichen Verhaftung durch die Polizei habe rechnen müssen. Für die Verlängerung des Reisepasses sei Bestechungsgeld bezahlt worden.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 5. Juni 1996 den Antrag auf Gewährung von Asyl gemäß § 3 des Asylgesetzes 1991 ab. Die Abweisung des Asylantrages wurde unter Zugrundelegung des als glaubwürdig erachteten Vorbringens der Beschwerdeführerin im Ergebnis damit begründet, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Volksgruppe allein sowie deren schlechte allgemeine Situation nicht geeignet sei, eine Asylgewährung zu rechtfertigen. Nur zielgerichtetes Handeln des Heimatstaates, welches sich direkt gegen den Einzelnen wende und in dessen Leib, Leben, Freiheit oder psychische Integrität eingreife, gelte als asylrelevante Verfolgung. Ein Nachteil, der sich aus der allgemeinen Situation ergebe und der jedermann treffen könne, der dort lebe, sei keine derartige Verfolgung. Die Beschwerdeführerin habe in ihrem Heimatstaat keine aus den in § 1 Z 1 AsylG 1991 genannten Gründen zu gewärtigende Verfolgung zu befürchten, weshalb ihr nicht Asyl gewährt werden könne. Dieser Bescheid trägt als Bezeichnung des Bescheidadressaten den Namen der Beschwerdeführerin und beigefügt den Namen ihres (1985 geborenen) Sohnes.

Die Beschwerdeführerin erhob gegen diesen Bescheid Berufung und führte im Kopf der Berufung neben ihrem eigenen Namen ebenfalls den ihres Sohnes an. In der Berufung brachte sie vor, es sei nicht nur im Jahr 1992/1993 zu Hausdurchsuchungen gekommen, die dadurch gekennzeichnet gewesen seien, dass dabei das gesamte Haus geplündert worden sei, sondern es hätten danach auch in den Jahren 1994, 1995 und 1996 Hausdurchsuchungen stattgefunden, wobei auch nach Flugblättern gesucht worden sei. Schließlich habe sie auch bei ihrer Ersteinvernahme angegeben, jederzeit mit willkürlicher Verhaftung rechnen zu müssen. Sie sei Schiitin und sei bis zu ihrer Entlassung 1986 Angestellte einer Schule gewesen. Ihr Ehemann sei Mittelschullehrer gewesen und sie seien aufgrund ihrer Religion und beruflichen Zugehörigkeit vom irakischen Regime ständig beobachtet worden, so sei z.B. ihr Telefon überwacht worden. Das irakische Regime sehe in der Gruppe der Lehrer, Studenten und Schulangestellten Regimefeinde, die für die Demokratie eintreten. In ihrem Heimatort habe eine "Gruppe der Verfechter der Demokratie" existiert, der auch sie angehört habe. Diese Gruppe habe sich unmittelbar nach Verhängung des Embargos gegen den Irak gebildet und sei seit 1995 wieder verstärkt tätig gewesen. Seit diesem Jahr gehe das Regime mit aller Härte gegen Oppositionelle vor. Die Gruppe habe 12 Personen umfasst; es hätten regelmäßige Treffen in Wohnungen, aber auch im Freien stattgefunden. In ihrem Haus hätten auch insgesamt drei dieser Treffen stattgefunden, im September und November 1995 sowie im März 1996. Bei diesen Treffen sei die politische Lage besprochen und Flugblätter konzipiert worden, in denen das Regime des Saddam Hussein angeprangert worden sei. Diese Flugblätter seien auf Schreibmaschine getippt, vervielfältigt und dann in der Nacht auf der Straße verteilt, d.h. in Hauseingänge und ähnliches gelegt worden. Sie seien stark überwacht worden und es habe auch 1995 (dreimal) und 1996 (einmal) Hausdurchsuchungen stattgefunden, und zwar durch Geheimdienstleute (in Zivil) und Baath-Leute (in Uniform). Bei einer dieser Hausdurchsuchungen vor neun Monaten sei ihr die Türe auf die Schläfe gestoßen worden. Daher rühre noch eine Narbe auf der linken Schläfe. Durch dieses verstärkte Vorgehen des Regime gegen Oppositionelle sei die Gefährdung für sie immer dramatischer geworden, sodass sie alles daran setzen habe müssen, ihr Heim, ihre Familie und ihre Heimat zu verlassen, um ihr Leben zu retten. Durch ihren inzwischen nach Amman geflüchteten Bruder habe sie dieser Tage erfahren, dass ein weiterer ihrer Brüder verhaftet worden sei. Sie selbst würde bei einer Rückkehr in den Irak mit Sicherheit ebenfalls verhaftet, und zwar aufgrund ihrer Religion im Zusammenhalt mit ihrer politischen Tätigkeit und auch aufgrund ihrer Flucht aus dem Irak, und fürchte sie auch um ihr Leben.

Die belangte Behörde wies mit Bescheid vom 18. Juni 1998 unter Spruchpunkt I die Berufung der Beschwerdeführerin gemäß § 7 des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997, (AsylG) ab. Unter Spruchpunkt II wies sie die Berufung des Sohnes der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der Behörde erster Instanz gemäß § 63 Abs. 5 AVG als unzulässig zurück.

Hinsichtlich des Spruchpunktes I ging die belangte Behörde von der Glaubwürdigkeit des Vorbringens der Beschwerdeführerin in ihrer Ersteinvernahme aus und schloss sich der Ansicht des Bundesasylamtes an, dass dem diesbezüglichen Vorbringen keine Furcht vor Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes bzw. der Flüchtlingskonvention entnommen werden könne. Die Furcht vor Verfolgung müsse sich auf Umstände beziehen, die in einem zeitlichen Naheverhältnis zur Ausreise aus dem Heimatland liegen und es entspreche auch der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, in den von der Beschwerdeführerin geschilderten Hausdurchsuchungen in den Jahren 1992 und 1993 keinen zeitlichen Konnex zur erfolgten Ausreise im Jahr 1996 zu erblicken. Die weiters von der Beschwerdeführerin angeführte Zugehörigkeit zu den Schiiten sowie die allgemeine schlechte Situation in ihrer Heimatstadt mit den beschriebenen regelmäßig stattfindenden Polizeikontrollen und Hausdurchsuchungen rechtfertigten für sich allein ebenfalls keine Asylgewährung. Auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin im Jahr 1996 - wenn auch möglicherweise nur durch Bezahlung von Bestechungsgeld durch ihren Bruder - eine Verlängerung ihres Reisepasses erreichen konnte und sie gleichzeitig ein Ausreisevisum erhalten habe, lasse nicht auf eine im Zeitpunkt der Ausreise konkret gegen sie selbst gerichtete Verfolgungsgefahr schließen. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin im Berufungsschriftsatz seien als gesteigertes Vorbringen zu betrachten und als unglaubwürdig zu bewerten. Den behaupteten politischen Aktivitäten der Berufungswerberin sei sohin kein Glaube zu schenken. Eine mündliche Verhandlung habe unterbleiben können, da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärt sei.

Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides wurde damit begründet, dass unzweifelhaft mit dem erstinstanzlichen Bescheid nicht über den Asylantrag des Sohnes der Beschwerdeführerin abgesprochen worden und die von ihm dagegen erhobene Berufung als unzulässig zurückzuweisen sei.

Die vorliegende Beschwerde richtet sich nur gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides. Die Beschwerdeführerin macht Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde als unbegründet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen:

Auf das Verfahren nach dem Asylgesetz 1997 findet das AVG Anwendung. Als besondere Bestimmung für das Verfahren vor den Unabhängigen Verwaltungssenaten sieht § 67d AVG grundsätzlich die Durchführung an der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor, zu welche die Parteien und die anderen zu hörenden Personen zu laden sind. Nach dem Art. II Abs. 2 lit. d Z 43a EGVG ist auch auf das behördliche Verfahren des unabhängigen Bundesasylsenates das AVG anzuwenden, § 67d AVG jedoch mit der Maßgabe, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärt erscheint. Dies ist dann der Fall, wenn er nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und nach schlüssiger Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz festgestellt wurde und in der Berufung kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der Behörde erster Instanz entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt - erstmalig und mangels Bestehens eines Neuerungsverbotes zulässigerweise - neu und in konkreter Weise behauptet wird (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 11. November 1998, Zl. 98/01/0308).

Wird aber im Berufungsverfahren ein konkreter neuer Sachverhalt behauptet, so ist es dem unabhängigen Bundesasylsenat verwehrt, durch Würdigung der Berufungsangaben als unglaubwürdig den Sachverhalt ohne Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung und insbesondere ohne den Asylwerber selbst persönlich einzuvernehmen als geklärt anzusehen. Der Verwaltungsgerichtshof fügte hinzu, dies ergebe sich nicht zuletzt aus der Wichtigkeit des persönlichen Eindruckes für die Bewertung der Glaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 21. Jänner 1999, Zl. 98/20/0339, und vom 18. Februar 1999, Zl. 98/20/0423).

Die belangte Behörde hätte daher im vorliegenden Fall eine mündliche Verhandlung mit der Beschwerdeführerin durchführen müssen. Allerdings führt nicht jede Verletzung von Verfahrensvorschriften zur Aufhebung eines Bescheides, sondern nur dann, wenn die belangte Behörde bei deren Vermeidung zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können.

Hätte die belangte Behörde mit der Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung durchgeführt, so ist nicht auszuschließen, dass sie das Vorbringen der Beschwerdeführerin, insbesondere ihr erstmaliges Tatsachenvorbringen in der Berufung, als glaubwürdig gewertet und ihrer rechtlichen Beurteilung zu Grunde gelegt hätte. Davon ausgehend ist aber nicht auszuschließen, dass die belangte Behörde zu einer anderen Sachentscheidung gelangt wäre.

So kann dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, die Ausreise aus dem Irak, der Aufenthalt im Ausland und die (auch) aus diesem Grund angenommene regimekritische Haltung seien asylrelevant, nicht von vornherein Relevanz abgesprochen werden (vgl. hinsichtlich einer unerlaubten Ausreise aus dem Irak das hg. Erkenntnis vom 16. Dezember 1999, Zl. 98/20/0415). Die belangte Behörde, die sich mit diesen Angaben der Beschwerdeführerin überhaupt nicht befasst hat, wäre daher verhalten gewesen, sich mit diesem Vorbringen der Beschwerdeführerin auseinanderzusetzen und hätte (auch) Feststellungen über das Bestehen einer auf dieses Vorbringen gestützten asylrelevanten Verfolgungsgefahr zu treffen gehabt.

Dazu kommt, dass auch die von der Beschwerdeführerin dargestellten Fluchtgründe - ihre Glaubwürdigkeit unterstellt - nicht von vornherein ungeeignet erscheinen, asylrelevante Verfolgung darzutun. Wäre die Beschwerdeführerin nämlich tatsächlich in der von ihr geschilderten Weise als aktives Mitglied einer oppositionellen Gruppe politisch gegen das Regime Saddam Husseins tätig gewesen, sie und ihre Familie den Behörden ihres Heimatstaates bereits seit Jahren einschlägig bekannt, und wäre neben den Hausdurchsuchungen und der jahrelangen Telefonüberwachung tatsächlich in einem zeitlichen Naheverhältnis zu ihrer Flucht einer ihrer Brüder verhaftet worden, so ist nicht gänzlich auszuschließen, dass die Beschwerdeführerin gegebenenfalls erfolgreich asylrelevante Furcht vor Verfolgung aus politischen Gründen hätte geltend machen können.

Da somit nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde bei Vermeidung des genannten Verfahrensfehlers zu einem anderen Bescheid gekommen wäre, war der angefochtene Bescheid in seinem Spruchpunkt I gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.

Wien, am 21. September 2000

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