VwGH 2012/22/0218

VwGH2012/22/021819.12.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des D, vertreten durch Dr. Wolfgang Rainer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwedenplatz 2/74, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 22. September 2010, Zl. E1/309.280/2008, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Beschwerdeführer, einen indischen Staatsangehörigen, gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG aus.

Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen an, dass der Beschwerdeführer am 5. Juni 2001 unter Umgehung der Grenzkontrolle eingereist sei und am darauffolgenden Tag einen Asylantrag gestellt habe. Der Asylantrag sei im Instanzenzug mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. Juni 2007 abgewiesen worden. Der Beschwerdeführer halte sich seit dem rechtskräftigen negativen Abschluss seines Asylverfahrens unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Anlässlich einer Vernehmung am 6. Juni 2001 habe er ausgesagt, niemals irgendwelche Dokumente besessen zu haben. Dem widersprechend habe er bei einer nochmaligen Vernehmung am 3. Dezember 2001 angegeben, dass er einen Pass gehabt hätte, welcher ihm dann vom Schlepper abgenommen worden wäre. Während des anhängigen Asylverfahrens habe sich der Beschwerdeführer von der indischen Botschaft in Wien einen Reisepass ausstellen lassen.

Am 24. Mai 2007 habe er eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. Sein Erstantrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung sei offen. Erhebungen betreffend den Verdacht einer Aufenthaltsehe hätten keine ausreichenden Verdachtsmomente ergeben. Weitere familiäre Beziehungen im Bundesgebiet habe er nicht geltend gemacht.

Der Beschwerdeführer habe angegeben, als selbständig Erwerbstätiger einen Werkvertrag mit "R" abgeschlossen zu haben und aus dieser selbständigen Erwerbstätigkeit ein regelmäßiges Einkommen zu erzielen.

Der mit der Ausreise verbundene Eingriff in sein Privat- und Familienleben sei zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens dringend geboten. Der Beschwerdeführer ignoriere beharrlich die für ihn maßgebenden fremdenrechtlichen Bestimmungen. Weiters sei er nicht als selbsterhaltungsfähig einzustufen, weil er nicht im Besitz eines für die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit erforderlichen Aufenthaltstitels sei. Zudem habe der Beschwerdeführer nicht darauf bauen dürfen, sich "ungestört im Bundesgebiet niederlassen zu können". Vielmehr habe er unwahre Angaben gegenüber den Asylbehörden betreffend den Besitz bzw. die Ausstellung eines Reisepasses getätigt, um sich erfolgreich eine Aufenthaltsberechtigung zu verschaffen.

Soweit der Beschwerdeführer vorbringe, dass seine Ehefrau keinen in Indien gesprochenen Dialekt spräche, dort die Ausübung ihres Berufes nicht möglich wäre und ihre angegriffene Gesundheit nicht ausreichend behandelt werden könnte, sei dem zu entgegnen, dass mit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht darüber abgesprochen werde, ob bzw. gegebenenfalls in welchen Staat ein Fremder zulässigerweise abgeschoben werden dürfe. Der Beschwerdeführer habe nicht behauptet, dass er die sozialen Kontakte zu seinen im Heimatland verbliebenen Familienangehörigen abgebrochen hätte. Der Ehefrau des Beschwerdeführers sei bescheinigt worden, dass bei dieser "aus psychiatrischer Sicht ein psychisch instabiles Persönlichkeitsbild mit nicht voller Belastbarkeit am Arbeitsmarkt" bestehe. Daraus ergebe sich jedoch nicht, dass sie ständiger Pflege gerade durch den Beschwerdeführer bedürfe bzw. gehindert wäre, den Beschwerdeführer in das Ausland zu begleiten.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage samt Gegenschrift durch die belangte Behörde in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Eingangs ist festzuhalten, dass angesichts der Zustellung des angefochtenen Bescheides im Oktober 2010 die Bestimmungen des FPG in der Fassung BGBl. I Nr. 135/2009 anzuwenden sind und sich nachfolgende Zitierungen auf diese Rechtslage beziehen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Urteil vom 15. November 2011, C-256/11 "Dereci u.a.", ausgesprochen, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht, verwehrt wird. Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Sollten derartige Gründe - der bloße Wunsch nach Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union reicht allerdings nicht aus - bestehen, würden sowohl die gegenüber einem Fremden ausgesprochene Anordnung, das Bundesgebiet wegen des unrechtmäßigen Aufenthalts zu verlassen, als auch die Verweigerung eines Aufenthaltstitels gegenüber dem Angehörigen des Unionsbürgers dem Unionsrecht widersprechen und daher nicht zulässig sein (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 13. November 2012, 2011/22/0099, mwN).

Die Behörde wird daher im fortzusetzenden Verfahren nach Einräumung von Parteiengehör - diese Frage ist nicht mit der Beurteilung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen und war bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens - entsprechende Feststellungen zu treffen haben.

Schon aus diesem Grund erweist sich der angefochtene Bescheid als inhaltlich rechtswidrig.

Dazu kommt, dass die Feststellungen der belangten Behörde zu den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers nicht ausreichen, um ihre Ansicht überprüfen zu können, dass eine Bedachtnahme auf Art. 8 EMRK einer Ausweisung nicht entgegensteht.

Der Gerichtshof hat wiederholt ausgesprochen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 28. März 2012, 2009/22/0272), dass der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt. In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners sowie zur Möglichkeit und Zumutbarkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs getroffen werden. Diesen Anforderungen entspricht der angefochtene Bescheid nicht. Soweit im Zusammenhang mit dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens angesprochen wird, dass der Beschwerdeführer unwahre Angaben gegenüber den Asylbehörden getätigt habe, um sich eine Aufenthaltsberechtigung zu verschaffen, ist nicht nachvollziehbar, inwiefern die Angaben des Beschwerdeführers über den (früheren) Besitz eines Reisepasses zur Zuerkennung der asylrechtlichen vorläufigen Aufenthaltsberechtigung geführt haben sollen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass diese Angaben Einfluss auf den bei der Niederlassungsbehörde gestellten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hätten. Vor allem aber fehlen Feststellungen darüber, ob der österreichischen Ehefrau des Beschwerdeführers die Begleitung ihres Ehemannes nach Indien möglich und zumutbar wäre, hat doch die belangte Behörde nicht dargelegt, dass das Familienleben in einem anderen Staat als Österreich oder Indien geführt werden könnte.

Wegen der oben dargelegten und vorrangig wahrzunehmenden inhaltlichen Rechtswidrigkeit war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 19. Dezember 2012

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