VwGH 2011/21/0066

VwGH2011/21/006629.2.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des M, vertreten durch die Kocher & Bucher Rechtsanwälte GmbH, 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 18. November 2010, Zl. Senat-FR-10-1049, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §83 Abs2 Z1 impl;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §83 Abs2 Z1 impl;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Benin, reiste im November 2009 in die Schweiz und beantragte dort ohne Erfolg die Gewährung von Asyl. Am 14. September 2010 reiste er von der Schweiz nach Österreich ein und stellte hier einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom 8. Oktober 2010 gemäß § 5 Asylgesetz 2005 zurück und wies den Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet in die Schweiz aus. Der Asylgerichtshof wies eine dagegen erhobene Beschwerde mit Erkenntnis vom 29. Oktober 2010 gemäß den §§ 5 und 10 Asylgesetz 2005 als unbegründet ab.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 8. November 2010 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Baden über den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung. Begründend führte sie aus, auf Grund des bisherigen Verhaltens des Beschwerdeführers sei die Annahme gerechtfertigt, dass er sich dem behördlichen Zugriff entziehen werde, um die Vollstreckung der genannten fremdenpolizeilichen Maßnahme gegen seine Person zu verhindern oder zumindest erheblich zu erschweren. Es sei daher die Verhängung der Schubhaft geboten, deren Zweck durch eine Anwendung bloß gelinderer Mittel nicht erreicht werden könne.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18. November 2010 gab die belangte Behörde einer dagegen erhobenen Beschwerde gemäß § 83 FPG keine Folge und sprach aus, dass "die für die Verhängung der Schubhaft gesetzlichen Voraussetzungen in der Person des Beschwerdeführers" weiterhin vorlägen.

Begründend stellte sie fest, der Beschwerdeführer leide - entgegen seinen Behauptungen in der Administrativbeschwerde - "an keinerlei ernstzunehmenden bzw. schwerwiegenden körperlichen oder geistigen Gebrechen". Er besitze kein gültiges Reisedokument, habe kein Einkommen, keine Sozialversicherung, keine familiären oder sozialen Kontakte in Österreich und verfüge "über keine ordnungsgemäße, dauernde Unterkunft". Weiters sei er mittellos und weder im Besitz einer arbeitsmarkt- noch aufenthaltsrechtlichen Bewilligung. In ihrer "rechtlichen" Beurteilung führte die belangte Behörde dazu weiter aus, "die durch keinerlei Beweismittel oder konkrete Angaben aufgestellte, bloße, lapidare Behauptung, an schwerwiegenden psychischen Problemen zu leiden bzw. haftunfähig zu sein", sei "als bloße unglaubwürdige Schutzbehauptung zu sehen". Aus dem gesamten Akt ergäben sich nicht einmal geringste Anhaltspunkte für eine schwerwiegende psychische Beeinträchtigung. Es fehle jeglicher Hinweis, dass ärztliche Bedenken hinsichtlich der Haftfähigkeit bestünden. Das diesbezügliche Vorbringen sei "somit als völlig unglaubwürdig und daher als rechtlich irrelevant zu werten".

Die Schubhaft erweise sich auch nach Vornahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung als zulässig: Der Beschwerdeführer verfüge - wie erwähnt - über kein gültiges Reisedokument, habe keine ausreichenden Barmittel und dürfe eine rechtmäßige Beschäftigung nicht ausüben, weil er weder im Besitz einer arbeitsmarkt- noch einer aufenthaltsrechtlichen Bewilligung sei. Er habe nur eine rudimentäre Schulausbildung genossen und sei nicht selbsterhaltungsfähig. Es fehlten familiäre oder nennenswerte soziale Bindungen.

Insgesamt sei - so folgerte die belangte Behörde abschließend - eine Gefährdung maßgebender öffentlicher Interessen zu bejahen, die auch eine Anwendung gelinderer Mittel nach § 77 Abs. 1 FPG ausschließe. Infolge des bereits wiederholt erwähnten Fehlens der Selbsterhaltungsfähigkeit und eines ordentlichen Wohnsitzes sei nämlich die Annahme gerechtfertigt, dass sich der Beschwerdeführer sonst dem behördlichen Zugriff entziehen werde, um die Vollstreckung der fremdenpolizeilichen Maßnahme zu vereiteln oder zumindest erheblich zu erschweren.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Die wiedergegebene Feststellung der belangten Behörde zum Fehlen schwerwiegender körperlicher oder geistiger Gebrechen des Beschwerdeführers wurde nicht auf Grund eines mängelfreien Verfahrens getroffen: Der Beschwerdeführer hat wiederholt (etwa in den Niederschriften vom 5. Oktober und 8. November 2010 sowie in der Ergänzung der Administrativbeschwerde vom 16. November 2010) massive gesundheitliche Probleme, insbesondere psychischer Natur, näher beschrieben. Den vorgelegten Verwaltungsakten ist - wie die belangte Behörde im Ergebnis selbst einräumt - keine Grundlage (etwa das Ergebnis einer im gegebenen Zusammenhang zu erwartenden ärztlichen Untersuchung nach Anordnung der Schubhaft) zu entnehmen, die geeignet wäre, dieses Vorbringen zu widerlegen. Die bestrittene Haftfähigkeit wäre daher von der belangten Behörde im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu prüfen gewesen, lag doch offensichtlich kein aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärter Sachverhalt im Sinne des § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG vor.

Dieser Unterlassung kann Relevanz für den Ausgang des Verfahrens zukommen. Einerseits wäre die Vollstreckung der Schubhaft trotz Haftunfähigkeit gesetzwidrig. Andererseits könnte eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, selbst wenn daraus keine (seit dem 8. November 2010 vorliegende) Haftunfähigkeit resultiert hätte, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Ergebnis führen, dass unter Berücksichtigung des psychischen Zustandes des Beschwerdeführers trotz dessen früheren Verhaltens anstelle der Anordnung der Schubhaft die Anwendung gelinderer Mittel ausreichend gewesen wäre (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 30. April 2009, Zl. 2006/21/0341, und vom 8. Juli 2009, Zl. 2008/21/0404, jeweils mwN.).

Der angefochtene Bescheid war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 29. Februar 2012

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