VwGH 2011/11/0005

VwGH2011/11/000526.6.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des mj. S S, vertreten durch die Kindesmutter B S, beide in G, vertreten durch Dr. Johannes Eltz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Mölkerbastei 10, gegen den Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom 21. Juli 2010, Zl. FA11A-41.6- 7/2010-4, betreffend Akteneinsicht, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §17;
AVG §66 Abs4;
B-VG Art17;
B-VG Art18;
EGVG 2008 Art1 Abs1;
JWG Stmk 1991 §35;
JWG Stmk 1991 §40;
JWG Stmk 1991;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2012:2011110005.X00

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat dem Land Steiermark Aufwendungen in der Höhe von EUR 610,60 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Am 15. Februar 2010 wurde bei der Stadt Graz, Amt für Jugend und Familie, eine anonyme Meldung über Umstände erstattet, die eine Gefährdung des Kindeswohles des minderjährigen Beschwerdeführers durch sein familiäres Umfeld nicht ausschlossen. Die Mutter des Beschwerdeführers wurde mit Schreiben vom 24. Februar 2010 vom Eingang dieser anonymen Meldung unterrichtet. Der Beschwerdeführer stellte, vertreten durch die Kindesmutter, am 6. April 2010 einen Antrag auf Akteneinsicht, welchem mit Schreiben vom 8. April 2010 nicht entsprochen wurde. Der Antrag auf Akteneinsicht wurde mit Schreiben vom 28. April 2010 wiederholt und für den Fall der weiteren Vorenthaltung der Akteneinsicht um eine bescheidmäßige Erledigung ersucht.

Mit Bescheid vom 11. Mai 2010 wies der Bürgermeister der Stadt Graz den Antrag des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht zurück.

Die gegen diesen Bescheid im Instanzenzug erhobene Berufung wurde von der Steiermärkischen Landesregierung mit Bescheid vom 21. Juli 2010 abgewiesen und der erstbehördliche Bescheid vollinhaltlich bestätigt.

Begründend führte die belangte Behörde aus, § 17 AVG begründe zwar ein Recht der Parteien eines Verwaltungsverfahrens auf Akteneinsicht, Voraussetzung für die Anwendung der Verwaltungsverfahrensgesetze sei aber gemäß Art. II Abs. 1 EGVG, dass das Verwaltungsorgan bei der in Rede stehenden Angelegenheit "behördliche Aufgaben" besorge, folglich im Rahmen der Hoheitsverwaltung handle. Das Steiermärkische Jugendwohlfahrtsgesetz (StJWG) sehe jedoch nur in relativ wenigen Angelegenheiten die Erlassung von Bescheiden vor, und nur in diesen hoheitlichen Angelegenheiten bestehe auch ein Recht auf Akteneinsicht. Die Mehrzahl der Angelegenheiten des Jugendwohlfahrtsträgers erfolgten aber privatwirtschaftlich, sodass ein Recht auf Akteneinsicht nach § 17 AVG mangels Anwendbarkeit der Verwaltungsverfahrensgesetze von Vornherein nicht bestehe. Den Unterlagen der Behörde erster Instanz sei bezüglich des Beschwerdeführers keine hoheitliche Tätigkeit zu entnehmen, sodass in derartigen Angelegenheiten die Anwendung des AVG, da diese auch nicht in Art. II EGVG angeführt seien, nicht vorgesehen sei.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 1 B-VG vor dem Verfassungsgerichtshof. Nachdem dieser die Behandlung derselben mit Beschluss vom 29. November 2010, B 1243/10-4, abgelehnt und diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten hatte, wurde sie vom Beschwerdeführer ergänzt.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1.1. Die im Beschwerdefall einschlägigen Bestimmungen des Steiermärkischen Jugendwohlfahrtgesetzes (dieses idF. der Novelle LGBl. Nr. 5/2010) lauten (auszugsweise):

"2. HAUPTSTÜCK

5. Abschnitt

Hilfen zur Erziehung

§ 35

Arten der Hilfen

(1) Hilfen zur Erziehung sind die Unterstützung der Erziehung und die volle Erziehung. Beide Arten der Hilfen zur Erziehung können im Einzelfall sowohl als freiwillige Maßnahme als auch als Maßnahme gegen den Willen der Erziehungsberechtigten gewährt werden.

(2) Es ist jeweils die gelindeste, noch zum Ziel führende Maßnahme zu treffen.

§ 36

Unterstützung der Erziehung

(1) Die Unterstützung der Erziehung umfaßt Maßnahmen, die im Einzelfall die bestmögliche und verantwortungsbewußte Erziehung des Minderjährigen durch die Erziehungsberechtigten fördern. Die Unterstützung der Erziehung soll vor allem dazu dienen, die Voraussetzungen für die Erziehung des Minderjährigen in der eigenen Familie zu verbessern.

(2) Die Unterstützung der Erziehung umfasst insbesondere

1. die Beratung der Erziehungsberechtigten und des

Minderjährigen durch Fachkräfte,

2. die Förderung der Erziehungskraft der Familie, besonders

auch der gewaltlosen Erziehung, wie z.B. durch den Besuch

von Elternschulen, Elternrunden, Informationsabenden usw.,

3. die Förderung der Entwicklung des Minderjährigen durch die

Unterbringung in einem Erholungsheim,

  1. 4. Hilfen der beruflichen Aus- und Fortbildung,
  2. 5. die Gewährung therapeutischer Maßnahmen,
  3. 6. Frühförderung,
  4. 7. sozialpädagogische Familienbetreuung,
  5. 8. begleitende Betreuung außerhalb der Familie,
  6. 9. Betreuung durch Tagesmütter im Sinne des Kinderbetreuungsgesetzes.

(3) Die Unterstützung der Erziehung umfaßt auch die Betreuung des Minderjährigen nach der Entlassung aus der vollen Erziehung.

(4) Unterstützung der Erziehung kann erforderlichenfalls im Einzelfall auch in Einrichtungen erfolgen, die Kinder und Jugendliche betreuen und auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften genehmigt sind.

§ 38

Freiwillige Erziehungshilfen

(1) Erziehungshilfen, mit denen die Erziehungsberechtigten einverstanden sind, bedürfen einer schriftlichen Vereinbarung zwischen dem Erziehungsberechtigten und der Bezirksverwaltungsbehörde.

(2) Die Bezirksverwaltungsbehörde hat vor Abschluss einer Vereinbarung Kinder, die das zehnte Lebensjahr vollendet haben, jedenfalls persönlich in geeigneter Weise zu hören. Jüngere Kinder sind persönlich zu hören, soweit dies tunlich ist.

§ 39

Erziehungshilfen gegen den Willen der Erziehungsberechtigten

Stimmen die Erziehungsberechtigten einer notwendigen Erziehungshilfe nicht zu, so hat die Bezirksverwaltungsbehörde das zur Wahrung des Wohles des Minderjährigen nach bürgerlichem Recht Erforderliche zu veranlassen.

§ 40

Durchführung der Hilfen zur Erziehung

(1) Die Gewährung der Hilfen zur Erziehung obliegt der Bezirksverwaltungsbehörde.

(2) Die Bezirksverwaltungsbehörde hat vor Entscheidung über eine Maßnahme zur Unterstützung der Erziehung gemäß § 36 Abs. 2 Z. 5 bis 8 und bei Gewährung der vollen Erziehung gemäß § 37 ein Team von sachverständigen Personen zu hören. Im Falle der vollen Erziehung gilt dies auch für jede Unterbringungsveränderung.

(3) Der Amtspsychologe/die Amtspsychologin hat seine/ihre Äußerung nach persönlicher Begutachtung der Minderjährigen bei § 36 Abs. 2 Z. 5 bis 7 und § 37 und Befassung bei § 36 Abs. 2 Z. 8 schriftlich abzugeben, wenn er/sie an der Sitzung des Sachverständigenteams nicht teilnehmen kann.

(4) Das Team muß, sofern es sich nicht um Gefahr im Verzug im Sinne des § 215 ABGB handelt, noch vor Setzung der Maßnahme zusammentreten.

(5) Es ist jeweils die der Persönlichkeit des Minderjährigen und seinen Lebensverhältnissen entsprechende Maßnahme einzuleiten. Bei der Durchführung sind die Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Minderjährigen zu berücksichtigen. Dabei ist auch das Umfeld des Minderjährigen einzubeziehen. Wichtige, dem Wohl des Kindes dienende Bindungen, die für die persönliche Entfaltung erforderlich sind, sind zu erhalten, zu stärken oder neu zu schaffen.

(6) Die Bezirksverwaltungsbehörde hat während der Durchführung von Erziehungsmaßnahmen darüber zu wachen, ob deren Fortsetzung noch die bestmögliche Förderung des Minderjährigen darstellt. Die getroffene Maßnahme ist zu ändern, wenn es das Wohl des Minderjährigen erfordert, oder aufzuheben, wenn sie dem Minderjährigen nicht mehr förderlich ist.

(7) Die nach diesem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen können mit Zustimmung des Jugendlichen auch nach Erreichen seiner Volljährigkeit, jedoch längstens bis zum vollendeten 21. Lebensjahr fortgesetzt werden, wenn dies zur Sicherung des Erfolges der bisherigen Maßnahmen erforderlich ist. Die Kosten sind aus Mitteln der Jugendwohlfahrt zu tragen. Die im § 45 enthaltenen Regelungen des Kostenersatzes für Minderjährige gelten sinngemäß.

…"

2. Die Beschwerde ist unbegründet.

2.1. Ob eine von den Verwaltungsbehörden zu besorgende Aufgabe zur Hoheitsverwaltung oder zur Privatwirtschaftsverwaltung zählt, bestimmt sich danach, in welchen Rechtsformen die betreffende Angelegenheit zu vollziehen ist. Nur wenn der Behörde der Vollzug in einer allein dem Staat zustehenden hoheitlichen Handlungsform (Verordnung, Bescheid, Ausübung unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt) aufgetragen ist, handelt es sich um Hoheitsverwaltung; die Verwaltungsbehörde übt insoweit "imperium" aus; andernfalls liegt Privatwirtschaftsverwaltung vor. Zu beachten ist hiebei, dass Privatwirtschaftsverwaltung als nicht hoheitliches Verwaltungshandeln sowohl im Bereich des Privatrechts als auch des öffentlichen Rechts vorkommt und dass daher die Unterscheidung zwischen Hoheitsverwaltung und Privatwirtschaftsverwaltung nicht mit jener zwischen öffentlichem und privatem Recht zusammenfällt. Es ist daher für den Beschwerdeführer mit dem an sich zutreffenden Hinweis auf den öffentlich-rechtlichen Charakter der vom Jugendwohlfahrtsträger anzuwendenden Bestimmungen des StJWG und dessen im öffentlichen Recht verankerte Berechtigung und Verpflichtung, die zum Schutze Minderjähriger notwendigen Maßnahmen zu setzen, nichts zu gewinnen (vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom 22. September 1995, Zl. 93/11/0221; vgl. in diesem Zusammenhang auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 20. Juni 2007, VfSlg Nr. 18.154/2007).

2.2.1. Zu prüfen ist, ob vorliegendenfalls eine "behördliche Aufgabe" im Sinne des Art. I Abs. 1 EGVG zu besorgen ist. Nur unter dieser Voraussetzung käme die Anwendung der Bestimmungen des AVG in Betracht.

Den Verwaltungsakten ist zu entnehmen, dass sich das Handeln der Behörde erster Instanz auf das allfällige Ergreifen von "Hilfen zur Erziehung" im Sinne der §§ 35 ff StJWG bezog.

2.2.2. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Jugendwohlfahrtsbehörde bei der Gewährung von Hilfen zur Erziehung nicht zu hoheitlichem Einschreiten ermächtigt. Unbeschadet ihrer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zur Gewährung von Hilfen zur Erziehung besorgt sie hiebei nicht behördliche Aufgaben; die Verwaltungsverfahrensgesetze finden insoweit keine Anwendung (vgl. zum Ganzen das bereits erwähnte hg. Erkenntnis vom 22. September 1995, mwH., zu den mit den im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen des StJWG im Wesentlichen gleichlautenden Bestimmungen der Salzburger Jugendwohlfahrtsordnung 1992).

2.2.3. Somit besteht in der gegenständlichen Angelegenheit mangels Anwendbarkeit der Verwaltungsverfahrensgesetze kein Recht auf Akteneinsicht nach § 17 AVG. Die hoheitliche Befugnis der Behörde erschöpft sich in diesem Fall darin, den Antrag ohne nähere inhaltliche Prüfung seiner Berechtigung mit Bescheid zurückzuweisen.

2.3. Die Auffassung der belangten Behörde, den gegenständlichen Unterlagen sei kein hoheitliches Handeln zu entnehmen, der Antrag auf Akteneinsicht sei folglich zurückzuweisen gewesen, ist demnach nicht als rechtswidrig zu erkennen.

2.4. Soweit die belangte Behörde in ihrer Bescheidbegründung auch Ausführungen zum Steiermärkischen Auskunftspflichtgesetz und zur besonderen Verschwiegenheitspflicht nach § 14 StJWG aufgenommen hat, nach welchen eine Auskunft nach dem Steiermärkischen Auskunftspflichtgesetz zu unterbleiben habe, berührt dies nicht die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides, weil mit diesem - vor dem Hintergrund der ständigen hg. Judikatur, wonach Sache des Berufungsverfahrens der Gegenstand des Verfahrens in der Vorinstanz, also jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruchs des bekämpften Bescheides der Unterinstanz gebildet hat (vgl. zuletzt das hg. Erkenntnis vom 20. März 2012, Zl. 2012/11/0013) - ausschließlich der Antrag auf Akteneinsicht zurückgewiesen wurde.

2.5. Die Beschwerde war aus diesen Erwägungen gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

2.6. Von der Durchführung der ohne nähere Begründung beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden, weil eine mündliche Erörterung keine weitere Klärung der Rechtssache erwarten lässt und auch Art. 6 Abs. 1 MRK dem nicht entgegensteht; sind doch ausschließlich rechtliche Fragen betroffen, die unter den Umständen des vorliegenden Falles keiner mündlichen Erörterung bedürfen (vgl. zB. das hg. Erkenntnis vom 23. April 2007, Zl. 2005/10/0166).

3. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 26. Juni 2012

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