VwGH 2010/21/0404

VwGH2010/21/040429.2.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerden 1. des V, sowie von 2. L, 3. V, 4. M und 5. H, alle in L und vertreten durch Mag. Werner Purr, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Neutorgasse 49/I, gegen die Bescheide der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich jeweils vom 5. August 2010, Zl. E1/19606/2009 (hg. Zl. 2010/21/0404) und Zlen. E1/19607, 19608, 19609/2009 (hg. Zl. 2010/21/0405), jeweils betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §31 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §31 Abs1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstbeschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 und den anderen Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind miteinander verheiratet, die 1993, 1994 und 2007 geborenen Dritt-, Viert- und Fünftbeschwerdeführer sind deren Kinder. Alle sind armenische Staatsangehörige.

Der Erstbeschwerdeführer reiste bereits am 9. Februar 2002 illegal nach Österreich ein und stellte einen Asylantrag. Die Zweitbeschwerdeführerin kam mit den beiden älteren Kindern am 22. September 2002 ebenfalls unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich. Sie stellten am nächsten Tag auf den Erstbeschwerdeführer bezogene Asylerstreckungsanträge; der Fünftbeschwerdeführer wurde später in Österreich geboren. Diese Asyl(erstreckungs)anträge wurden mit den im Instanzenzug ergangenen, im Juli 2009 erlassenen Erkenntnissen des Asylgerichtshofes rechtskräftig abgewiesen.

Mit Bescheiden der Bundespolizeidirektion Linz vom

15. bzw. 13. Oktober 2009 wurden die Beschwerdeführer sodann gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Die dagegen erhobenen Berufungen wurden mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich (der belangten Behörde) vom 5. August 2010 abgewiesen.

In der Begründung der im Wesentlichen inhaltsgleichen Bescheide gab die belangte Behörde zunächst den erstinstanzlichen Bescheid und die Berufung wieder und zitierte die maßgeblichen Rechtsvorschriften. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte sie dann anknüpfend an die Beendigung der Asylverfahren weiter aus, die Beschwerdeführer hielten sich seit Juli 2009 "insofern" rechtswidrig im Bundesgebiet auf, "als ihnen seit diesem Zeitpunkt weder ein Einreisetitel noch ein Aufenthaltstitel nach dem NAG erteilt" worden sei. Es komme ihnen nach der Aktenlage auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen gesetzlichen Bestimmungen zu; derartiges sei von den Beschwerdeführern auch nicht behauptet worden.

"Zweifelsohne" halte sich der Erstbeschwerdeführer mit seiner Familie "bereits seit Februar 2002" (der Fünftbeschwerdeführer seit 1. Februar 2007) in Österreich auf und der Erstbeschwerdeführer gehe in Österreich einer Erwerbstätigkeit nach. Den Beschwerdeführern werde daher "sicherlich eine der Dauer ihres Aufenthaltes entsprechende Integration zuzubilligen" sein.

Dem sei jedoch gegenüber zu stellen, dass das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer ableitbaren Integration maßgebend dadurch gemindert werde, als der Aufenthalt während des Asylverfahrens nur aufgrund eines Antrages, der sich "letztendlich" als unberechtigt erwiesen habe, temporär berechtigt gewesen sei. Den Beschwerdeführern sei bewusst gewesen, dass sie ein Privat- und Familienleben während dieses Zeitraums geschaffen hätten, in dem sie einen unsicheren Aufenthaltsstatus gehabt hätten. Die Beschwerdeführer hätten nicht von vornherein damit rechnen dürfen, nach einem allfällig negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu können. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass das Asylbegehren erstinstanzlich bereits im Jahr 2002 negativ entschieden worden sei; dies habe ein eindeutiges Indiz dafür dargestellt, dass der weitere Aufenthalt der Beschwerdeführer temporär begrenzt sein werde.

Die Beschwerdeführer würden sich nunmehr ca. ein Jahr illegal in Österreich aufhalten. Bereits ein mehrmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt gefährde aber die öffentliche Ordnung in hohem Maße, weshalb die Ausweisung der Beschwerdeführer gemäß § 66 Abs. 1 FPG dringend geboten sei. Laut ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes stelle die Übertretung fremdenpolizeilicher Vorschriften einen gravierenden Verstoß gegen die österreichische Rechtsordnung dar. Den für die Einreise und den Aufenthalt von Fremden getroffenen Regelungen und deren Beachtung durch die Normadressaten komme nämlich aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein sehr hoher Stellenwert zu. Die öffentliche Ordnung werde schwerwiegend beeinträchtigt, wenn sich einwanderungswillige Fremde unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das gelte auch dann, wenn Fremde nach Auslaufen einer Aufenthaltsberechtigung bzw. nach Abschluss eines Asylverfahrens das Bundesgebiet nicht rechtzeitig verlassen. Die Ausweisung sei in solchen Fällen erforderlich, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte. Vor diesem Hintergrund sei auch das Ermessen nicht zugunsten der Beschwerdeführer zu üben, insbesondere weil das den Beschwerdeführern vorwerfbare (Fehl-)Verhalten (ca. einjähriger illegaler Aufenthalt) im Verhältnis zu der geltend gemachten Integration (Aufenthalt der Familie in Österreich;

Erwerbstätigkeit; Aufenthalt des Bruders des Erstbeschwerdeführers und von dessen Ehefrau in Österreich) überwiege. Darüber hinaus könnten weder aus dem Akt noch aus der Berufung besondere Umstände ersehen werden, die eine Ermessensübung zugunsten der Beschwerdeführer begründen würden.

Von der Aufnahme "weiterer Beweise" sei "insofern" Abstand genommen worden, als der entscheidungsrelevante Sachverhalt ausreichend ermittelt scheine. Von der Aufnahme der von den Beschwerdeführern angebotenen Zeugenbeweise sei deshalb "kein Gebrauch" gemacht worden, weil die diesbezüglichen Ausführungen der Beschwerdeführer nicht bestritten würden.

Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde - wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs gemeinsam - erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass die angefochtenen Bescheide vom Verwaltungsgerichtshof auf Basis der Sach- und Rechtslage bei ihrer Erlassung zu überprüfen sind. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei jeweils um die im Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Bescheide im August 2010 geltende Fassung des genannten Gesetzes.

Unter der Überschrift "Ausweisung Fremder ohne Aufenthaltstitel" ordnet § 53 Abs. 1 FPG an, dass Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden können, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. In den Beschwerden wird zugestanden, dass die Asylverfahren der Beschwerdeführer rechtskräftig beendet sind. Den Beschwerden sind auch keine Behauptungen zu entnehmen, dass eine der Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 31 Abs. 1 FPG - insbesondere die Erteilung eines Aufenthaltstitels - bei den Beschwerdeführern vorläge. Dafür bestehen nach der Aktenlage auch keine Anhaltspunkte. Die behördliche Annahme, der Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei im vorliegenden Fall verwirklicht, ist daher zutreffend.

Wenn in den Beschwerden wiederholt auf das Bestehen einer Verfolgungsgefahr im Fall einer Rückkehr nach Armenien verwiesen wird, so ist diesem Einwand vorweg zu erwidern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Abschiebung im Ausweisungsverfahren keine rechtliche Bedeutung zukommt. Eine allfällige, die Abschiebung unzulässig machende Gefährdungs- oder Bedrohungssituation im Heimatstaat ist vor allem im Verfahren über die Gewährung internationalen Schutzes nach dem Asylgesetz zu prüfen. Die Beschwerdeführer sind daher insoweit auch auf das negative Ergebnis ihrer Asyl(erstreckungs)verfahren zu verweisen (siehe idS aus der letzten Zeit etwa das hg. Erkenntnis vom 24. November 2011, Zl. 2011/23/0465, mwN).

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Bei einer Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt (siehe unter vielen etwa das schon genannte Erkenntnis Zl. 2011/23/0465, mwN).

Unter diesen Gesichtspunkten kritisieren die Beschwerdeführer im Wesentlichen, die belangte Behörde habe sich mit ihrem Vorbringen zur Integration, insbesondere mit der langjährigen Erwerbstätigkeit des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin sowie mit den im Einzelnen ins Treffen geführten besonderen sportlichen und schulischen Erfolgen der beiden älteren Kindern, nicht auseinandergesetzt und diesbezüglich beantragte Zeugenbefragungen zu Unrecht unterlassen.

Diesem Vorbringen kommt Berechtigung zu:

Die Begründung der belangten Behörden beschränkte sich im Wesentlichen auf die textbausteinartige Hervorhebung des großen öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen in Verbindung mit dem Hinweis, dass die Integration der Beschwerdeführer weitgehend während eines unsicheren Aufenthaltsstatus erlangt worden sei. Diese Umstände stellen zwar auch nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes maßgebliche Gesichtspunkte dar. Doch hat der Gerichtshof in diesem Zusammenhang schon wiederholt betont, dies habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte (siehe zum Ganzen ausführlich Punkt 2.4.2. des Erkenntnisses vom 22. Dezember 2009, Zl. 2009/21/0348, und daran anschließend beispielsweise das schon genannte Erkenntnis Zl. 2011/23/0465).

Demzufolge hätte es im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung einer konkreten Auseinandersetzung mit den von den Beschwerdeführern geltend gemachten, für ihren Verbleib nach einem mittlerweile achteinhalb- bzw. achtjährigen Aufenthalt in Österreich sprechenden Umstände bedurft. Dem wird die Begründung der belangten Behörde nicht gerecht, indem sie zwar im Rahmen der Wiedergabe des erstinstanzlichen Bescheides auch das Vorbringen der Beschwerdeführer in ihren Schreiben vom 21. August 2009 (zusammengefasst) erwähnte und den Inhalt der Berufungen zitierte, in ihren eigenen Überlegungen aber darauf nur rudimentär Bezug nahm. Bei der nach § 66 FPG vorzunehmenden Interessenabwägung wurde auf die Integration der Beschwerdeführer nämlich nicht konkret eingegangen und im Rahmen der Ermessensbegründung darauf lediglich im Wege eines Klammerausdrucks - im Bescheid betreffend den Erstbeschwerdeführer: "(Aufenthalt mit Ihrer Familie in Österreich; Erwerbstätigkeit; Aufenthalt Ihres Bruders und Ihrer Schwägerin in Österreich)" und im Bescheid betreffend die anderen Beschwerdeführer: "(Aufenthalt mit Ihrer Familie in Österreich)" - Bedacht genommen. Die Auswirkungen der Ausweisungen auf die Kinder - obwohl die beiden älteren Kinder bezogen auf den Zeitpunkt der Bescheiderlassung etwa die Hälfte ihres Lebens in Österreich verbracht hatten und das jüngste Kind hier geboren wurde - wurden von der belangten Behörde überhaupt ausgeblendet (vgl. des Näheren zu einem ähnlichen Begründungsmangel das auch einen Bescheid der hier belangten Behörde betreffende hg. Erkenntnis vom 18. September 2008, Zlen. 2008/21/0455 bis 0459, und darauf Bezug nehmend das Erkenntnis vom 19. Mai 2011, Zlen. 2008/21/0619 bis 0622, mit dem weiteren Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 7. Oktober 2010, B 950 bis 954/10-8, dem ein zeitlich ähnlich gelagerter, ebenfalls von der hier belangten Behörde entschiedener Fall zugrunde lag; siehe daran anschließend auch jüngst das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 15. Dezember 2011, U 760/11 u.a., mit dem weiteren Hinweis auf sein Erkenntnis vom 10. März 2011, B 1565- 1567/10).

Angesichts dessen waren die angefochtenen Bescheide somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der in der Beschwerde beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 29. Februar 2012

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