VwGH 2010/16/0068

VwGH2010/16/006825.11.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Mairinger, Dr. Köller, Dr. Thoma und Dr. Zehetner als Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Wagner, über die Beschwerde von A R, geboren 1966, A R, geboren 1989, und P R, alle in W, alle vertreten durch Mag. Gerhard-Josef Seidl, Rechtsanwalt in 1170 Wien, Dornbacher Strasse 62, gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, vom 16. März 2010, Zl. RV/3950-W/09, betreffend Rückforderung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe, zu Recht erkannt:

Normen

FamLAG 1967 §8 Abs6 idF 2002/I/105;
FamLAG 1967 §8 Abs6;
FamLAG 1967 §8 Abs6 idF 2002/I/105;
FamLAG 1967 §8 Abs6;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Zur Darstellung des Verfahrensganges wird vorerst in Anwendung des § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die hg. Erkenntnisse vom 15. Februar 2006, Zl. 2002/13/0182, und vom 20. Oktober 2009, Zl. 2006/13/0105, sowie auf den hg. Beschluss vom 25. Februar 2010, Zl. 2010/16/0029, verwiesen.

Mit dem angefochtenen, an "Herrn A R sen. A R jun. und P R als Erben nach Frau R R" gerichteten, zu Handen deren damaliger Rechtsanwältin adressierten Ersatzbescheid vom 16. März 2010 gab die belangte Behörde der Berufung vom 17. Oktober 2001 gegen den Bescheid des Finanzamtes vom 17. September 2001 betreffend Rückforderung von Familienbeihilfe und erhöhter Familienbeihilfe für den Zeitraum vom 1. November 1993 bis 31. Juli 2001 teilweise dahingehend Folge, dass der Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe für das Kind P für den Zeitraum vom 1. Jänner 1996 bis 31. Juli 2001 im Betrag von EUR 8.350,11 (ATS 114.900,--) als zu Unrecht bezogen rückgefordert werde.

Begründend erwog die belangte Behörde nach Darstellung des Verfahrensganges und Zitierung der von ihr angewendeten Rechtsvorschriften (Anm.: "Bw." ist die verstorbene Mutter von P, des Drittbeschwerdeführers):

"Die Feststellung des Behinderungsgrades eines Kindes, für welches erhöhte Familienbeihilfe nach § 8 Abs 4 FLAG beantragt wurde, hat nach den Bestimmungen des § 8 Abs. 6 FLAG auf dem Wege der Würdigung ärztlicher Sachverständigengutachten zu erfolgen. Für das Kind P wurde laut dem Sachverständigengutachten Dris. S, Facharzt für Dermatologie vom 16. Jänner 2002 eine auch in der Vergangenheit nicht stärker ausgeprägte Beeinträchtigung durch 'Neurodermitis' (Richtsatzposition IX/a/696) und der daraus resultierende Behinderungsgrad mit 20 v.H. festgestellt.

Dieser Einstufung des GdB hat sich der Ärztliche Dienst des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen am 24. Jänner 2002 angeschlossen.

Die fachärztlichen Sachverständigengutachten des Bundessozialamtes wurden der Bw. für das Kind P bereits mit Schreiben der Finanzlandesdirektion vom 18. März 2002 zur Kenntnis gebracht.

Unter Berücksichtigung der nunmehr vorliegenden Gutachten konnte im Rahmen der freien Beweiswürdigung angenommen werden, dass für das Kind P die Einstufung des Grades der Behinderung mit 20 v.H. laut dem Sachverständigengutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen vom 16. Jänner 2002 mit größter Wahrscheinlichkeit den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, denn dieser Behinderungsgrad des Kindes wurde im Rahmen einer fachärztlichen Untersuchung und unter Bedachtnahme auf die vorgelegten Befunde erstellt.

Da auf Grund dieses Gutachtens für das Kind P eine erhebliche Behinderung im Sinne des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 nie vorgelegen ist, sind die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug der erhöhten Familienbeihilfe nicht gegeben.

Was das Gutachten Dris. S über einen für einen Anspruch nicht ausreichenden Grad der Behinderung von lediglich 20 v.H. im Speziellen anlangt, so gelangte die Abgabenbehörde zweiter Instanz zur Überzeugung, dass dieses trotz relativer Kürze als schlüssig und nachvollziehbar einzustufen war.

Nämliche Schlussfolgerung lag vor allem darin begründet, weil zusätzlich zu dem nahezu völlig beschwerdefreien Erscheinungsbild des Kindes P (Kratzspuren lediglich im Bereich der linken Ellbeuge) eine Hautpflege mit einer einfachen Creme (Ultrabas/Ultrasic) und nur gelegentlich mit Cortisonsalben als ausreichend diagnostiziert worden ist.

Was die nunmehr im fortgesetzten Verfahren von der Abgabenbehörde zweiter Instanz zu berücksichtigende Befunde der Doktoren P und R anlangt, so verbleibt festzuhalten, dass deren Inhalt kein für die Vergangenheit erheblich schweres Erscheinungsbild erkennen ließen.

Wiewohl Dr. P in seiner mit 29. Juli 1997 datierten Stellungnahme für das Kind P wegen Neurodermitis einen Meereskuraufenthalt verordnet hat, ist seitens vorgenannten Mediziners weder eine Diät noch die Beigabe einer Begleitperson für nämlichen Kuraufenthalt für notwendig erachtet worden.

Dem ärztlichen, mit 11. September 2000 datierten Zeugnis Dris. R ist die Bestätigung einer bei P seit der Geburt bestehenden Neurodermitis, respektive einer seit dem Jahr 1992 andauernden Behandlung zu entnehmen, ohne dass vorgenannte Befundaufnahme in die Dokumentation eines daraus resultierenden Grades der Behinderung mündete.

In Ansehung obiger Ausführungen vermochten sohin die letztgenannten Befunde keinerlei Grundlage die Schlüssigkeit des Gutachtens Dris. S dahingehend zu erschüttern, dass der Behinderungsgrad des Kindes im Rückforderungszeitraum in einem über das diagnostizierte Ausmaß von 20 v.H. gelegen gewesen ist, geschweige denn dieser mindestens 50 v.H. erreicht hat."

Die belangte Behörde habe des Weiteren der Frage nachzugehen gehabt, ob gegebenenfalls dem Rückforderungsanspruch für die Jahre 1993 bis 1995 das Rechtsinstitut der Verjährung entgegengestanden sei. Diesbezüglich vertrete sie - zusammengefasst - die Auffassung, dass betreffend des Rückforderungszeitraumes vom 1. November 1993 bis zum 31. Dezember 1995 Verjährung eingetreten sei. Demzufolge sei der angefochtene Bescheid in teilweiser Stattgabe des Rechtsmittels insoweit abzuändern gewesen, als die Rückforderung nunmehr auf den Zeitraum vom 1. Jänner 1996 bis zum 31. Juli 2001 zu lauten habe, respektive der Rückforderungsbetrag unter Anwendung der für den "verjährten" Zeitraum 1. November 1993 bis 31. Dezember 1995 anzuwendenden Bestimmung des § 8 Abs. 4 FLAG, der gemäß sich die Familienbeihilfe für jedes Kind, das erheblich behindert sei, monatlich um S 1.650,-- erhöhe, auf EUR 8.350,11 (ATS 114.900,--) zu reduzieren gewesen sei.

In der gegen diesen Ersatzbescheid erhobenen Beschwerde erachten sich die Beschwerdeführer "in ihrem Recht auf erhöhte Familienbeihilfe für P R im Zeitraum November 1.1.1996 bis 31.07.2001 verletzt"; sie beantragen die Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die vorliegende Beschwerde sieht die inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides vorweg darin, dass nicht ersichtlich sei, auf welcher Rechtsgrundlage die Beschwerdeführer zur Rückzahlung eines an R R (die Mutter von P) ausbezahlten Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe herangezogen würden. Der Bescheid sei insofern unschlüssig, als eine Schuld von R R nun den Beschwerdeführern zur Last gelegt werde, wobei nicht angeführt werde, ob diese auf Grund des § 19 BAO oder aber etwa auf Grund des § 26 Abs. 1 und 3 FLAG oder aus welchem Rechtsgrund sonst für jene fremde Schuld haften sollten.

Der angefochtene Ersatzbescheid ist, wie eingangs wiedergegeben wurde, an die Beschwerdeführer "als Erben nach Frau R R" gerichtet, womit es, insbesondere auch in Ansehung des in dieser Sache ergangenen, eingangs zitierten Beschlusses vom 25. Februar 2010, an sich keiner weitwendigen Erörterung mehr bedurfte, dass eine Inanspruchnahme der nunmehrigen Beschwerdeführer auf der Grundlage des § 19 Abs. 1 BAO erfolgte.

Die Beschwerde wendet sich im Weiteren zentral dagegen, dass die belangte Behörde, gestützt auf das Gutachten Dris. S vom 16. Jänner 2002, zum tatsächlichen Schluss gelangte, dass die Einstufung des Grades der Behinderung des Kindes P mit 20 v.H. "mit größter Wahrscheinlichkeit den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht". Die belangte Behörde erwähne "geflissentlich" nicht das amtsärztliche Gutachten vom 11. September 1997, womit durch ein vom Gesetz gefordertes, zeitnahes und unbedenkliches Beweismittel zweifelsfrei der Grad der Behinderung des Kindes P mit 50 v.H. festgestellt worden sei und demnach auch rechtsrichtig und ohne jeden Zweifel der Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe bescheidmäßig zugesprochen und ausbezahlt worden sei. Die Schlussfolgerung der belangten Behörde aus dem Sachverständigengutachten Dris. S vom 16. Jänner 2002 ergebe sich nicht aus diesem Gutachten; dieser führe dort vielmehr aus, dass "derzeit lediglich im Bereich der linken Ellbeuge Kratzspuren imponieren". Weiters gelange er zu dem Schluss, dass "nur äußerst geringe Veränderungen vorliegen und auch in der Vergangenheit nicht stärker ausgeprägt vorgelegen haben dürften". Es sei sohin unrichtig und aktenwidrig, wenn die belangte Behörde im angefochtenen Ersatzbescheid davon ausgehe, dass mit dem Gutachten Dris. S "eine auch in der Vergangenheit nicht stärker ausgeprägte Beeinträchtigung durch Neurodermitis und der daraus resultierende Behinderungsgrad mit 20. v.H. festgestellt worden sei". Dr. S habe vielmehr lediglich seiner Vermutung Ausdruck verliehen, es habe für ihn den Anschein, dass in der Vergangenheit vermutlich keine stärkere Ausprägung vorgelegen sein dürfte. Gerade aus der Verwendung des Konjunktivs gehe hervor, dass er hier lediglich eine nicht verifizierte Einschätzung habe vornehmen wollen, welche jedoch keine Entscheidungsrelevanz besitze. Wie sich aus dem amtsärztlichen Gutachten vom 11. September 1997 ergebe, seien im Jahr 1997 zweifelsfrei die Voraussetzungen für die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gegeben gewesen. Als sekundärer Verfahrensmangel werde gerügt, dass sich die belangte Behörde mit dem amtsärztlichen Gutachten vom 11. September 1997 in keiner Weise auseinandergesetzt habe.

Die Beschwerdeführer wiederholen diese Kritik im Wesentlichen unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung von Verfahrensvorschriften und erblicken in der Verwertung des Gutachtens Dris. S durch die belangte Behörde eine Aktenwidrigkeit. Hinzu komme, dass dem knapp gehaltenen Gutachten Dris. S vom 16. Jänner 2002 keinerlei Bedachtnahme auf die vorgelegten Befunde zu entnehmen sei, insbesondere auf die amtsärztliche Begutachtung vom 11. September 1997, wie dies die belangte Behörde annehme. Dr. S habe schließlich in seinem Gutachten in keiner Weise den - von der Beschwerde näher dargelegten - "allgemein bekannten Krankheitsverlauf einer Neurodermitis" berücksichtigt. Schließlich fehle im Rahmen der freien Beweiswürdigung jegliche Begründung, weshalb das Gutachten Dris. S, welches im Nachhinein erstellt worden sei, sich bezüglich der Vergangenheit nur in Konjunktiv-Form äußere, auf Vorbefunde keinerlei Bezug nehme, das die erhöhte Familienbeihilfe auslösende amtsärztliche Gutachten vom 11. September 1997 offenbar gar nicht kenne und letztlich nur zehn Zeilen umfasse, die belangte Behörde "mit größter Wahrscheinlichkeit" überzeugt hätte.

Gemäß § 8 Abs. 4 FLAG erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes Kind, das erheblich behindert ist.

Als erheblich behindert gilt gemäß § 8 Abs. 5 FLAG in der im Beschwerdefall noch anzuwendenden Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 531/1993 ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 v.H. betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind die Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152 in der jeweils geltenden Fassung, und die diesbezügliche Verordnung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom 9. Jänner 1965, BGBl. Nr. 150 in der jeweils geltenden Fassung, anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.

Nach § 8 Abs. 6 FLAG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 105/2002, welche Bestimmung nach § 50s Abs. 1 leg. cit. mit 1. Jänner 2003 in Kraft getreten ist, ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Die Beihilfenbehörden haben bei ihrer Entscheidung jedenfalls von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und können von ihr nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung abgehen (vgl. hiezu etwa das hg. Erkenntnis vom 18. November 2008, Zl. 2007/15/0067, unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 10. Dezember 2007, B 700/07).

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einer Reihe von Erkenntnissen die Auffassung vertreten, dass die der Entscheidung nach § 8 Abs. 6 FLAG zu Grunde zu legenden Gutachten den an ärztliche Sachverständigengutachten zu stellenden Anforderungen an ihre Nachvollziehbarkeit zu entsprechen haben, sich daher insbesondere nicht widersprechen oder in bloßen Behauptungen erschöpfen dürfen, und dass die Behörden des Verwaltungsverfahrens die Beweiskraft vorliegender Gutachten zu prüfen und erforderlichenfalls für deren Ergänzung zu sorgen haben (vgl. in diesem Sinn etwa das hg. Erkenntnis vom 20. Jänner 2010, Zl. 2009/13/0120, mwN).

Zutreffend verweist die Beschwerde darauf, dass das von der belangten Behörde als tragend herangezogene Gutachten Dris. S jeglicher Bezugnahme auf vorliegende Vorbefunde entbehre.

Schon in Anbetracht der "Ärztlichen Bescheinigung" aus dem Jahre 1997, die den Grad der Behinderung des Kindes mit 50 v.H. beziffert, aber auch der im Zuge der Berufung vorgelegten weiteren Befunde und Krankengeschichten wäre die belangte Behörde gehalten gewesen, auf eine Ergänzung des Gutachtens Dris. S dahingehend hinzuwirken, dass zum Zwecke einer zuverlässigen retrospektiven Betrachtung auch aktenkundige Vorbefunde in den Befund des Sachverständigen miteinbezogen werden und letztlich von diesem nachvollziehbar dargelegt wird, aus welchen Gründen er zu einer anderen Einschätzung gelangt als andere Ärzte vor ihm.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 25. November 2010

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