VwGH 2008/22/0005

VwGH2008/22/000515.4.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des S, vertreten durch Dr. Lennart Binder, LL.M, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 14. März 2008, Zl. 151.085/2-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art6;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwRallg;
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art6;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres (der belangten Behörde) vom 14. März 2008 wurde ein durch den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, am 2. April 2007 bei der Österreichischen Botschaft Ankara gestellter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 11 Abs. 2 Z. 1 iVm § 11 Abs. 4 Z. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG abgewiesen.

Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass der Beschwerdeführer seit 9. März 2007 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei.

Laut einem "Strafregisterauszug aus der Türkei" lägen gegen den Beschwerdeführer die folgenden Urteile vor:

"1. Unerlaubter Verkauf von Rauschgift - Haftstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten, verhängt vom 1. Schwurgericht in Antalya am 08.04.2004.

2. Gebrauch und Mitführen von Rauschgift - Haftstrafe von 1 Jahr, verhängt vom Strafgericht in Manavgat am 15.01.2004."

Der Beschwerdeführer sei wegen seiner "Straftaten" in der Türkei rechtskräftig verurteilt worden; es handle sich um "kein einmaliges Vergehen".

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die gegen den Beschwerdeführer vorliegenden "zwei rechtskräftigen Verurteilungen wegen Suchtgiftdelikten" auch mit Blick auf § 60 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG und die dort genannten Voraussetzungen des § 73 StGB heranzuziehen seien; bei einer Abwägung der privaten Interessen des Beschwerdeführers aufgrund seiner "unabsprechbaren familiären Bindungen zum Bundesgebiet" hätten diese privaten und familiären Interessen zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und zur Verhinderung von möglichen weiteren strafbaren Handlungen zurückzustehen. Die vom Beschwerdeführer gesetzten Suchtgiftdelikte wögen für die Behörde "für ihre getroffene Entscheidung" besonders schwer; die öffentlichen Interessen zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele seien höher zu bewerten als die nachteiligen Folgen einer Verweigerung des Aufenthaltstitels auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers.

Eine Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie), komme mangels Erfüllung der dort festgelegten Voraussetzungen nicht in Betracht; der Beschwerdeführer habe nicht einmal behauptet, dass seine Ehefrau das Recht auf die (gemeinschaftsrechtliche) Freizügigkeit in Anspruch genommen habe.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der angefochtene Bescheid in Hinblick auf den Zeitpunkt seiner Erlassung nach der Rechtslage des NAG in der Fassung des BGBl. I Nr. 99/2006 zu beurteilen ist.

Die Beschwerde bringt im Wesentlichen vor, dass es sich bei dem vom Beschwerdeführer begangenen Rauschgiftdelikt - wie urkundlich nachgewiesen worden sei - um den Ankauf von Haschisch am 3. Jänner 2003 um den Betrag von insgesamt EUR 75,-- handle, von dem ein Teil unentgeltlich an eine zweite Person weitergegeben worden sei und der Rest dem Eigenkonsum gedient habe. Es liege daher - entgegen dem angefochtenen Bescheid - nur ein einziges Rauschgiftdelikt vor. (In der Berufung hatte der Beschwerdeführer unter anderem vorgebracht, dass die inkriminierten Straftaten relativ lange zurücklägen und relativ geringfügig seien und dass das Strafausmaß in der türkischen Rechtsordnung nicht - wie in der österreichischen Rechtsordnung - einen eindeutigen Rückschluss auf den Schweregrad zulasse, weil in einem weit höherem Ausmaß als in Österreich bedingte Entlassungen üblich seien. Der Beschwerdeführer legte darüber hinaus im Berufungsverfahren Übersetzungen der Strafurteile vor.)

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.

§ 47 NAG hat - auszugsweise - den folgenden Wortlaut:

"Aufenthaltstitel 'Familienangehöriger' und 'Niederlassungsbewilligung - Angehöriger'

§ 47. (1) Zusammenführende im Sinne der Abs. 2 bis 4 sind Österreicher oder EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und denen das Recht auf Freizügigkeit nicht zukommt.

(2) Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden im Sinne des Abs. 1 sind, ist ein Aufenthaltstitel 'Familienangehöriger' zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen. Dieser Aufenthaltstitel ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des 1. Teiles einmal um den Zeitraum von zwölf Monaten, danach jeweils um 24 Monate zu verlängern.

(...)"

Gemäß der im 1. Teil des NAG enthaltenen Bestimmung des § 11 Abs. 2 Z. 1 NAG dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nur erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet.

Gemäß § 11 Abs. 4 Z. 1 NAG widerstreitet der Aufenthalt eines Fremden u.a. dann in diesem Sinn dem öffentlichen Interesse, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.

Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrmals ausgesprochen hat, ist bei der Auslegung dieses unbestimmten Gesetzesbegriffes eine das Gesamtfehlverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung geboten; dabei hat die Behörde im Fall von strafgerichtlichen Verurteilungen gestützt auf das diesen zugrunde liegende Fehlverhalten eine Gefährdungsprognose zu treffen. Die damit erforderliche, auf den konkreten Fall abstellende individuelle Prognosebeurteilung ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalles vorzunehmen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 9. Juli 2009, 2009/22/0107, mwN).

Die belangte Behörde hat sich allerdings im angefochtenen Bescheid mit der Wiedergabe der in der Türkei gegen den Beschwerdeführer im Jahr 2004 verhängten Strafen und der Anführung der Delikte ("unerlaubter Verkauf von Rauschgift" bzw. "Gebrauch und Mitführen von Rauschgift") begnügt, ohne konkrete Feststellungen zu dem diesen Verurteilungen zugrunde liegenden Fehlverhalten - etwa anhand der vorgelegten Urteile - zu treffen. Die von der belangten Behörde gemäß § 11 Abs. 2 Z. 1 iVm Abs. 4 Z. 1 NAG getroffene Prognoseentscheidung weist somit einen Feststellungsmangel auf, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 15. April 2010

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