VwGH 2008/21/0605

VwGH2008/21/060530.8.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des L, vertreten durch Mag. Michael-Thomas Reichenvater, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Herrengasse 13/II, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark vom 31. Juli 2008, Zl. Fr 268/8-1997, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Demokratischen Republik Kongo, reiste am 13. Dezember 1996 über den Flughafen Wien-Schwechat illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 18. Dezember 1996 einen Asylantrag. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 20. Jänner 1997 abgewiesen, die dagegen erhobene Berufung vom Bundesminister für Inneres am 21. Februar 1997 als verspätet zurückgewiesen. Im Hinblick auf eine dagegen erhobene Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof trat das Verfahren mit Inkrafttreten des AsylG 1997 (gemäß dessen § 44 Abs. 2) am 1. Jänner 1998 wieder in das Stadium vor Erlassung dieses Bescheides zurück. Der nunmehr zuständige unabhängige Bundesasylsenat wies sodann die Berufung gegen den den Asylantrag abweisenden Bescheid am 9. August 2000 ab. Dieser Bescheid wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 22. Mai 2001, Zl. 2000/01/0396, aufgehoben. Hierauf hob der unabhängige Bundesasylsenat den erstinstanzlichen Bescheid mit Bescheid vom 19. Mai 2003 auch auf. Auf Anfrage des nunmehr wieder zuständigen Bundesasylamtes, in der auf die Möglichkeit der Stellung eines Antrages auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis verwiesen wurde, zog der Beschwerdeführer den Asylantrag sodann am 16. Februar 2004 zurück.

Der vom Beschwerdeführer (erst) am 27. Dezember 2005 gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen wurde schließlich im Instanzenzug vom Bundesminister für Inneres mit Bescheid vom 20. September 2007 als unzulässig zurückgewiesen, weil nach den (am 1. Jänner 2006) in Kraft getretenen Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen nur von Amts wegen habe erteilt werden können und ein darauf gerichteter Antrag unzulässig gewesen sei.

Hierauf wies die Bundespolizeidirektion Graz den Beschwerdeführer - nach dessen niederschriftlicher Vernehmung am 11. Jänner 2008 - mit Bescheid vom 15. Jänner 2008 gemäß § 53 Abs. 1 FPG aus dem Bundesgebiet aus. Mit dem angefochtenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark (der belangten Behörde) vom 31. Juli 2008 wurde der dagegen erhobenen Berufung keine Folge gegeben und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt.

In der Begründung ging die belangte Behörde davon aus, bis zum "rechtskräftigen Abschluss" des Asylverfahrens sei der Aufenthalt des Beschwerdeführers "nach den asylrechtlichen Bestimmungen" geregelt gewesen; nunmehr stehe "rechtskräftig" fest, dass dem Beschwerdeführer keine Flüchtlingseigenschaft zukomme. Seit Zurückziehung des Asylantrages mit 16. Februar 2004 halte er sich illegal im Bundesgebiet auf, weil er weder über einen gültigen Einreise- noch über einen gültigen Aufenthaltstitel verfüge.

Nach Wiedergabe des Inhalts der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen führte die belangte Behörde weiter aus, bereits ein mehrmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt gefährde die öffentliche Ordnung in hohem Maße, weshalb die Ausweisung zu deren Wahrung dringend geboten sei. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes stelle die Übertretung fremdenpolizeilicher Vorschriften einen gravierenden Verstoß gegen die österreichische Rechtsordnung dar, weil der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein sehr hoher Stellenwert zukomme. Die öffentlichen Interessen an der Erlassung der gegenständlichen Ausweisung würden wesentlich schwerer wiegen als die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers, zumal er sich seit geraumer Zeit im Bundesgebiet aufhalte, ohne einer geregelten Beschäftigung - der Beschwerdeführer sei nach dem Versicherungsdatenauszug immer wieder nur tage- bzw. wochenweise geringfügig beschäftigt gewesen -

nachzugehen. Aufgrund der vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten Tätigkeit als freischaffender Künstler (Herstellung von Skulpturen) und seines regen Anteils am Kulturleben in Österreich - er schreibe und musiziere gerne und habe öffentliche Auftritte bestritten - könne er nicht als finanziell abgesichert angesehen werden, weil er zur Deckung seines Unterhalts zusätzlich von der Pfingstgemeinde Arche Noah eine monatliche Unterstützung von 350 EUR erhalte. Außerdem habe er über Aufforderung durch die belangte Behörde, Unterlagen zu seiner beruflichen Tätigkeit nachzureichen, nur drei Honorarnoten (z.B. betreffend ein Workshop zum Thema "Afrikanische Kunst-Tonarbeit") aus dem Jahr 2005 vorgelegt. Die Selbsterhaltungsfähigkeit sei somit derzeit nicht gegeben. Außerdem habe der Beschwerdeführer hier keine Verwandten. Den Kontakt zu seinen Freunden und Bekannten könne er aber dadurch aufrechterhalten, indem er von diesen im Ausland besucht werde.

Der unrechtmäßige Aufenthalt des Beschwerdeführers stelle eine Beeinträchtigung des maßgeblichen öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen von solchem Gewicht dar, dass das Dringend-Geboten-Sein der Ausweisung und damit die Zulässigkeit dieser Maßnahme trotz des damit einhergehenden Eingriffs in das "Privat- oder Familienleben" des Beschwerdeführers im Sinne des § 66 Abs. 1 FPG zu bejahen sei. Die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib in Österreich seien nicht so stark ausgeprägt, dass sie schwerer zu gewichten seien als das besagte öffentliche Interesse. Dabei könne der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer - seinem Vorbringen zufolge - bisher vorbildlich verhalten habe und nie gegen österreichische Gesetze verstoßen habe, nicht zu seinen Gunsten ausschlagen. Zudem seien die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers dadurch relativiert, dass diese auf seinen unberechtigten Asylantrag bzw. auf einen Asylantrag zurückzuführen seien, der letztendlich zurückgezogen worden sei. Auch wenn sich daher aus dem Aufenthalt seit 13. Dezember 1996 ein "gewisses" privates Interesse an einem Verbleib in Österreich ableiten lasse, dürfe die Ausweisung zur Wahrung des hoch zu bewertenden öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen als dringend geboten angesehen werden.

Angesichts des eminenten Interesses an der wirksamen Bekämpfung des unrechtmäßigen Aufenthaltes bzw. der illegalen Zuwanderung Fremder könne das der Behörde gemäß § 53 Abs. 1 FPG eingeräumte Ermessen auch nicht zugunsten des Beschwerdeführers ausgeübt werden.

Die Behandlung der gegen diesen Bescheid an ihn erhobenen Beschwerde hat der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 10. Oktober 2008, B 1702/08-3, abgelehnt. Zugleich hat er die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten, der über die ergänzte Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Unter der Überschrift "Ausweisung Fremder ohne Aufenthaltstitel" ordnet § 53 Abs. 1 FPG (in der Fassung vor dem FrÄG 2011) an, dass Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden können, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. In der Beschwerde wird zugestanden, dass dem Beschwerdeführer (nach der Zurückziehung seines Asylantrages) kein Aufenthaltstitel erteilt wurde. Gegen die behördliche Annahme, der Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei im vorliegenden Fall verwirklicht, bestehen daher keine Bedenken.

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Ausweisung gemäß § 66 Abs. 1 FPG (in der genannten Fassung) nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Die Ausweisung darf nach dem - auch bei Ausweisungen gemäß § 53 Abs. 1 FPG zu beachtenden (vgl. das Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, Zl. 2009/21/0348, Punkt 2.3.2.) - § 66 Abs. 2 FPG (in der hier noch anzuwendenden Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen (Z 1) und auf die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen (Z 2) Bedacht zu nehmen. Bei der Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt.

Unter diesen Gesichtspunkten verweist die Beschwerde insbesondere auf den Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich seit dem 13. Dezember 1996, auf die während dieser Zeit erlangte Integration und seine Unbescholtenheit. Damit ist sie im Ergebnis im Recht:

Es trifft zwar zu, dass den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Normen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - und damit eines von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfassten Interesses - ein hoher Stellenwert zukommt (siehe zuletzt das Erkenntnis vom 5. Juli 2011, Zl. 2008/21/0282, u.v.a.). Demgegenüber wurde aber in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden wiederholt von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich und damit von der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung ausgegangen (vgl. aus der letzten Zeit etwa die Erkenntnisse vom 26. August 2010, Zl. 2010/21/0009, und Zl. 2010/21/0206, und darauf Bezug nehmend das Erkenntnis vom 20. Jänner 2011, Zl. 2010/22/0158; siehe idS auch das Erkenntnis vom 25. September 2009, Zl. 2007/18/0538, vgl. auch die noch zum FrG 1997 ergangenen Erkenntnisse vom 11. Oktober 2005, Zl. 2002/21/0124, und vom 4. September 2003, Zl. 2003/21/0057). Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden ausnahmsweise Ausweisungen auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. jüngst den dem Erkenntnis vom 10. Mai 2011, Zl. 2011/18/0100, zugrundeliegenden Fall, in dem der Beschwerdeführer trotz eines Aufenthalts von elfeinhalb Jahren keine Deutschkenntnisse und keine berufliche Integration nachgewiesen hatte).

Davon kann aber im vorliegenden Fall, in dem sich der - unbescholtene - Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides mit seiner Zustellung am 28. August 2008 bereits mehr als elf Jahre und acht Monate in Österreich aufgehalten hatte, keine Rede sein. So hat der Beschwerdeführer nicht nur in der Niederschrift am 11. Jänner 2008 (unwidersprochen) dargelegt, dass er Deutsch gelernt habe, sondern es ergibt sich auch aus dem im Akt erliegenden "Arbeitszeugnis" der W. Leder S. GmbH vom 31. Oktober 2007, dass der Beschwerdeführer "nicht zuletzt auch aufgrund seiner ausgezeichneten Deutschkenntnisse" einer "unserer besten neuen Mitarbeiter" gewesen sei. Im Übrigen lässt sich dieser Bestätigung auch entnehmen, dass der Beschwerdeführer, der im Zeitraum 5. August 2003 bis 4. August 2007 durchgehend über eine Arbeitserlaubnis verfügte, bei dem genannten Unternehmen im Zeitraum 10. Jänner 2006 bis 4. August 2007 - und nicht nur wie die belangte Behörde an einer Stelle ihres Bescheides entgegen dem Inhalt des von ihr herangezogenen Versicherungsdatenauszuges annahm: bis 28. Februar 2006 - als Lederarbeiter beschäftigt war. In diesem Schreiben wurde überdies dargelegt, dass die aufgrund des Ablaufs der "Aufenthaltsgenehmigung" notwendig gewordene Auflösung des Arbeitsverhältnisses bedauert werde und gleichzeitig "nach Klärung dieser Angelegenheit" eine neuerliche Arbeitsaufnahme in dem Unternehmen garantiert werden könne. Da der Beschwerdeführer außerdem mit seiner Tätigkeit als freischaffender Künstler und Veranstalter von Workshops, mit der notwendigerweise auch eine soziale Integration verbunden ist, seinen Unterhalt zumindest teilweise deckende Einkünfte erzielt, kann ihm - für den Fall der Legalisierung seines Aufenthaltes - auch nicht die Selbsterhaltungsfähigkeit abgesprochen werden.

Dazu kommt weiters, dass den Beschwerdeführer an der Dauer des Asylverfahrens von Ende 1996 bis Anfang 2004, als das Verfahren wieder in erster Instanz anhängig war, offenbar kein Verschulden trifft und die Antragszurückziehung - zufolge seines unwidersprochen gebliebenen und im Einklang mit dem Inhalt der Anfrage des Bundesasylamtes stehenden Vorbringens - nur in der Erwartung erfolgt war, dass ihm eine humanitäre Aufenthaltsbewilligung erteilt werde. Diesbezüglich wäre aber zu berücksichtigen gewesen, dass die Stellung des Antrages im Zeitpunkt seiner Einbringung unter dem Regime des FrG 1997 noch zulässig war und die Norm des FPG, auf die sich dann die Antragszurückweisung gründete, vom Verfassungsgerichtshof in der Folge (mit Erkenntnis vom 27. Juni 2008, G 246, 247/07 u.a.) insoweit aufgehoben wurde. Angesichts dessen wäre die von der belangten Behörde infolge des unsicheren Aufenthalts des Beschwerdeführers während des Verfahrens über den dann zurückgezogenen Asylantrag vorgenommene Relativierung der Integration und die Gewichtung des unrechtmäßigen Aufenthalts während des Aufenthaltstitelverfahrens wiederum ihrerseits zu relativieren gewesen.

Vor diesem Hintergrund ist daher - anders als in dem genannten Fall des Erkenntnisses vom 10. Mai 2011 - das während der langen Dauer des Aufenthalts in Österreich aufgebaute Privatleben des Beschwerdeführers von maßgebenden Umständen gekennzeichnet, die seine Ausweisung unverhältnismäßig erscheinen lassen.

Das hat die auf die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls nicht ausreichend Bedacht nehmende belangte Behörde verkannt und ihren Bescheid dadurch mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, was gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG dessen Aufhebung zur Folge haben muss.

Von der in der Beschwerde beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 30. August 2011

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