VwGH 2007/11/0142

VwGH2007/11/014223.2.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde der C M in S, vertreten durch Dr. Martina M. Schweiger-Apfelthaler, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Graf Starhemberggasse 39/12, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten vom 27. Juni 2007, Zl. 41.550/916-9/06, betreffend Zusatzeintragung in den Behindertenpass (weitere Partei nunmehr: Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:

Normen

BBG 1990 §40;
BBG 1990 §42 Abs1;
KfzStG 1992 §2 Abs1 Z12 litb;
BBG 1990 §40;
BBG 1990 §42 Abs1;
KfzStG 1992 §2 Abs1 Z12 litb;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid vom 27. Juni 2007 wies die Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten (Bundesberufungskommission) einen Antrag der Beschwerdeführerin auf Neufestsetzung des Grades ihrer Behinderung gemäß § 2 Abs. 1, § 3, § 14 Abs. 1 und 2 sowie § 27 Abs. 1 des Behinderteneinstellungsgesetzes ab und stellte fest, dass der Grad der Behinderung (weiterhin) siebzig v.H. betrage. Mit ebenfalls im Instanzenzug ergangenem Bescheid vom selben Tag wies die Bundesberufungskommission auch einen Antrag der Beschwerdeführerin vom 24. Jänner 2006 auf Eintragung des Zusatzvermerks "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel" in den Behindertenpass gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm. § 42 Abs. 1 des Bundesbehindertengesetzes (BBG) ab.

Begründend stützt sich die Bundesberufungskommission auf von ihr eingeholte Sachverständigengutachten eines Facharztes für Nervenkrankheiten vom 17. Jänner 2007 und eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 28. März 2007. In diesen ist - soweit im Folgenden von Interesse - davon die Rede, die Beschwerdeführerin habe angegeben, es bestehe Mobbing am Arbeitsplatz, die Stress-Situation führe zu Harnverlust. Es bestehe Inkontinenz, Vorlagenwechsel 6 bis 7 mal täglich sei erforderlich (keine Windelhose). Seit dem Jahr 2000 bestehe ein depressives Zustandsbild. Als Diagnosen werden angeführt: Chronisch rezidivierende Eierstockentzündung nach mehrmaliger laparoskopischer Intervention, Belastungsinkontinenz;

Kopfschmerzen vom migränoiden Typ ohne Aura; somatoforme Störung;

abnützungsbedingte Veränderungen der Wirbelsäule; chronische Bronchitis; Bewegungseinschränkung des rechten und des linken Schultergelenkes; rezidivierende Gastritiden. Ein neurologisches Defizit sei auch bei der Untersuchung am 17. Jänner 2007 nicht im sensomotorischen Sinn feststellbar. Die Schädigung am Stützapparat sei adäquat dem klinischen Bild bei der Untersuchung unter Berücksichtigung der Aktenlage beurteilt worden. Auch hinsichtlich der gynäkologischen Erkrankung sei kein Abweichen vom erstinstanzlichen Gutachten möglich, weil weder abweichende Befunde vorgelegt worden seien noch anhand des klinischen Bildes eine anders lautende Beurteilung gerechtfertigt wäre. Die Beschwerdeführerin könne kurze Wegstrecken aus eigener Kraft ohne fremde Hilfe und ohne Unterbrechung zurücklegen, es würden keine Behelfe verwendet, die das Ein- und Austeigen sowie die sichere Beförderung in einem öffentlichen Verkehrsmittel in hohem Maße erschweren. Für die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ergebe sich daraus, dass sich die dauernde Gesundheitsschädigung nicht auf die Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels unter Berücksichtigung der beim üblichen Betrieb dieser Verkehrsmittel gegebenen Bedingungen auswirke.

Nach Wiedergabe der im Rahmen des Parteiengehörs von der Beschwerdeführerin erstatteten Stellungnahme führte die Bundesberufungskommission aus, die eingeholten Sachverständigengutachten seien schlüssig, nachvollziehbar und wiesen keine Widersprüche auf. Auf die Art der Leiden und deren Ausmaß sei ausführlich eingegangen worden, die getroffenen Einschätzungen, basierend auf den im Rahmen von persönlichen Untersuchungen ausführlich erhobenen Befunden, entsprächen den festgestellten Funktionseinschränkungen. Dem Vorbringen der Beschwerdeführerin sowie den vorliegenden Beweismitteln sei kein Anhaltspunkt zu entnehmen gewesen, die Tauglichkeit der Sachverständigen oder deren Beurteilungen bzw. Feststellungen in Zweifel zu ziehen. Die Beschwerdeführerin sei den Sachverständigengutachten auch nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten. Die Angaben der Beschwerdeführerin hätten nicht über den erstellten Befund hinaus objektiviert werden können. Die Sachverständigengutachten würden in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zugrunde gelegt. Bezugnehmend auf den Einwand der Beschwerdeführerin, ihr sei die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar, weil der Arbeitsplatz nur mit einem Pkw erreicht werden könne, werde festgehalten, dass es für die Zulässigkeit der Zusatzeintragung nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes entscheidend auf die Art und die Schwere der dauernden Gesundheitsschädigung und deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ankomme, nicht aber auf andere Umstände, welche die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel erschweren. Die Verwendung von Vorlagen als Hilfsmittel bei Harninkontinenz sei zumutbar.

Gegen den letztgenannten Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1. Im Beschwerdefall sind folgende Bestimmungen des BBG (idF. BGBl. I Nr. 82/2005) maßgebend:

"BUNDESBEHINDERTENGESETZ - BBG

Ziel

§ 1. Behinderten und von konkreter Behinderung bedrohten Menschen soll durch die in diesem Bundesgesetz vorgesehenen Maßnahmen die bestmögliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gesichert werden.

...

ABSCHNITT VI

BEHINDERTENPASS

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

...

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

...

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach den Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Bestimmungen keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

...

§ 42. (1) Der Behindertenpaß hat den Vor- und Familiennamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

(2) Der Behindertenpaß ist unbefristet auszustellen, wenn keine Änderung in den Voraussetzungen zu erwarten ist.

§ 43. (1) Treten Änderungen ein, durch die behördliche Eintragungen im Behindertenpaß berührt werden, hat das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen diese zu berichtigen oder erforderlichenfalls einen neuen Behindertenpaß auszustellen. Bei Wegfall der Voraussetzungen ist der Behindertenpaß einzuziehen.

...

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben oder der Paß eingezogen wird.

(3) (Verfassungsbestimmung) Über Berufungen gegen Bescheide des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen gemäß Abs. 2 entscheidet die Bundesberufungskommission nach dem Bundesberufungskommissionsgesetz, BGBl. I Nr. 150/2002.

(4) Gegen die Entscheidung der Bundesberufungskommission ist eine weitere Berufung unzulässig. Reisekosten, die einem behinderten Menschen dadurch erwachsen, dass er im Zusammenhang mit einem Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses einer Ladung des Bundessozialamtes oder der Bundesberufungskommission Folge leistet, sind in dem im § 49 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 angeführten Umfang zu ersetzen.

§ 46. Auf das Verfahren zur Ausstellung und Einziehung eines Behindertenpasses finden, soweit dieses Bundesgesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. Nr. 51, und des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes 1991, BGBl. Nr. 53, mit der Maßgabe Anwendung, dass die Berufungsfrist sechs Wochen beträgt."

2. Die Beschwerde ist begründet.

2.1. Gemäß § 42 Abs. 1 BBG hat der behinderten Menschen unter den Voraussetzungen des § 40 BBG auszustellende Behindertenpass den Vor- und Familiennamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig.

Im Zusammenhang mit der von der Beschwerdeführerin begehrten Eintragung ist zu beachten, dass diese etwa einen der Nachweise der für die Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer maßgeblichen Körperbehinderung gemäß § 2 Abs. 1 Z. 12 lit. b Kraftfahrzeugsteuergesetz 1992 darstellt (vgl. dazu zB. das hg. Erkenntnis vom 1. Juni 2005, Zl. 2003/10/0108, und die dort zitierte Vorjudikatur). Nach der genannten Bestimmung sind von der Kraftfahrzeugsteuer Kraftfahrzeuge befreit, die für Körperbehinderte zugelassen sind und von diesen infolge körperlicher Schädigung zur persönlichen Fortbewegung verwendet werden müssen, wenn z.B. der Nachweis der Körperbehinderung durch die Eintragung der "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" im Behindertenpass erfolgt.

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. zB. die hg. Erkenntnisse vom 18. Dezember 2006, Zl. 2006/11/0211, und vom 17. November 2009, Zl. 2006/11/0178, jeweils mwN.).

2.2. Die belangte Behörde legt dem angefochtenen Bescheid selbst die Sachverhaltsannahme zugrunde, dass die Beschwerdeführerin an einer Belastungsinkontinenz leide und täglich 6 bis 7 mal ihre Vorlagen wechseln müsse. Bereits im Schreiben vom 7. Juli 2006 (Aktenseite 186/1 des Berufungsaktes) hat die Beschwerdeführerin überdies auf die mit der Inkontinenz verbundene Geruchsbelästigung hingewiesen. In ihrer im Rahmen des Parteiengehörs abgegebenen Stellungnahme vom 11. Juni 2007, die von der belangten Behörde nicht für unglaubwürdig befunden wurde, brachte die Beschwerdeführerin ua. im Zusammenhang mit der Harninkontinenz vor, das "ständige Tragen nasser und dicker Vorlagen" erzeuge ein großes Unbehagen.

Vor diesem Hintergrund durfte sich die belangte Behörde nicht mit der oben wiedergegebenen, formelhaften Beurteilung des Sachverständigengutachtens des Arztes für Allgemeinmedizin vom 28. März 2007 begnügen, in dem in keiner Weise erläutert wird, weshalb eine Person wie die Beschwerdeführerin, bei der auch eine somatoforme Störung diagnostiziert ist, nicht eine gesundheitliche Beeinträchtigung aufweist, die im Zusammenwirken mit der unstrittigen Inkontinenz die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel als objektiv unzumutbar erscheinen lässt.

2.3. Der angefochtene Bescheid erweist sich demnach als mit einem relevanten Verfahrensfehler behaftet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben war, ohne dass auf das übrige Beschwerdevorbringen eingegangen zu werden brauchte.

3. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455, insbesondere deren § 3 Abs. 2.

Wien, am 23. Februar 2011

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