VwGH 2007/08/0254

VwGH2007/08/02542.7.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer, Dr. Moritz, Dr. Lehofer und Dr. Doblinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Marzi, über die Beschwerde des G in Wien, vertreten durch Mag. Bernd Jakob Widner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stadiongasse 2, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 10. August 2007, Zl. 2007-0566-9-000135, betreffend Verlust des Anspruches auf Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §10 Abs1;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;
AlVG 1977 §10 Abs1;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 8. Juni 2007 wurde der Verlust des Anspruches des Beschwerdeführers auf Notstandshilfe gemäß § 38 in Verbindung mit § 10 AlVG für den Zeitraum vom 18. Mai bis 12. Juli 2007 sowie weiters ausgesprochen, dass eine Nachsicht nicht erteilt werde. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer durch sein Verhalten das Zustandekommen einer vom Arbeitsmarktservice zugewiesenen, zumutbaren Beschäftigung beim Unternehmen M. vereitelt habe und berücksichtigungswürdige Gründe für die Nachsicht nicht vorliegen würden.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung und führte im Wesentlichen aus, er habe kein Stellenangebot beim Unternehmen M., sondern lediglich "in einem vom AMS adressierten Kuvert, per Post (nicht eingeschrieben) 3 (andere) Stellenangebote zugeschickt" bekommen und sich auch sofort bei allen drei Stellen beworben. Es müsse sich um einen Irrtum seitens des AMS handeln, da auch die ihm zugewiesenen drei Stellenangebote weder seinen Fähigkeiten noch seinen Qualifikationen entsprochen hätten.

Die belangte Behörde hat mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der Berufung keine Folge gegeben und den angefochtenen erstinstanzlichen Bescheid bestätigt. Begründend führte die belangte Behörde neben Zitierung der zur Anwendung kommenden gesetzlichen Bestimmungen aus, dass der Beschwerdeführer seit 1. Jänner 1999 mit Unterbrechungen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beziehe. Bei jedem der von ihm unterschriebenen Anträge, die er seither zur Beantragung von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erfolgreich geltend gemacht habe, sei auf Seite vier angeführt, dass bei Nichtannahme einer vermittelten zumutbaren Beschäftigung das Arbeitslosengeld (Notstandshilfe) entzogen werde. Laut den zu seiner Person chronologisch über die EDV geführten Aufzeichnungen des AMS habe er am 30. April 2007 per eingeschriebenem Brief (Beginn der Abholfrist beim zuständigen Postamt 4. Mai 2007) vier Vermittlungsvorschläge betreffend offene Stellen bei den Unternehmen K., V., B. und M. erhalten. Laut vorgelegten Bestätigungen habe er sich nur bei den drei erstgenannten Dienstgebern entsprechend den Angaben in den Vermittlungsvorschlägen vorgestellt, eine Vorsprache beim Unternehmen M. sei nicht erfolgt, wozu er in der am 23. Mai 2007 (beim AMS) aufgenommenen Niederschrift angegeben habe, nur drei Stellenzuweisungen bekommen zu haben. Ausgehend von den Aufzeichnungen des AMS, wonach die angeführten vier Stellen tatsächlich durch eine/n Mitarbeiter/in des AMS "EDV-technisch avisiert und auch ausgedruckt" worden seien, gelangte die belangte Behörde zur Ansicht, dass jedenfalls auch alle vier Stellenzuweisungen an den Beschwerdeführer mittels eingeschriebenen Briefes übermittelt worden seien, und wertete die gegenteiligen Angaben des Beschwerdeführers in der Niederschrift vom 23. Mai 2007 sowie in seiner Berufung als Schutzbehauptung.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Antrag, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag auf kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Gemäß § 9 Abs. 1 AlVG ist arbeitswillig, wer (u.a.) bereit ist, eine durch die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice vermittelte zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder von einer sonst sich bietenden Arbeitsmöglichkeit Gebrauch zu machen. Eine solche Beschäftigung ist zumutbar, wenn sie den körperlichen Fähigkeiten eines Arbeitslosen angemessen ist, seine Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet und angemessen entlohnt ist; als angemessene Entlohnung gilt grundsätzlich eine zumindest den jeweils anzuwendenden Normen der kollektiven Rechtsgestaltung entsprechende Entlohnung (§ 9 Abs. 2 leg. cit.).

Nach § 10 Abs. 1 AlVG verliert ein Arbeitsloser, der sich weigert, eine ihm von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs (unter näher umschriebenen Voraussetzungen: acht) Wochen, den Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Auf Grund des § 38 AlVG sind diese Regelungen auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.

Diese Bestimmungen sind Ausdruck des dem gesamten Arbeitslosenversicherungsrechts zugrunde liegenden Gesetzeszweckes, den arbeitslos gewordenen Versicherten, der trotz Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses keine neue Beschäftigung gefunden hat, möglichst wieder durch Vermittlung einer ihm zumutbaren Beschäftigung in den Arbeitsmarkt einzugliedern und ihn so in die Lage zu versetzen, seinen Lebensunterhalt ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel zu bestreiten. Wer eine Leistung der Versichertengemeinschaft der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nimmt, muss sich daher darauf einstellen, eine ihm angebotene zumutbare Beschäftigung auch anzunehmen, d.h. bezogen auf eben diesen Arbeitsplatz arbeitswillig zu sein (vgl. in diesem Sinn das Erkenntnis vom 16. Oktober 1990, Zl. 89/08/0141, Slg. Nr. 13.286/A, und die dort angeführte Vorjudikatur).

Um sich in Bezug auf eine von der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice vermittelte zumutbare Beschäftigung arbeitswillig zu zeigen, bedarf es grundsätzlich einerseits eines auf die Erlangung dieses Arbeitsplatzes ausgerichteten (und daher unverzüglich zu entfaltenden) aktiven Handelns des Arbeitslosen, andererseits auch der Unterlassung jedes Verhaltens, welches objektiv geeignet ist, das Zustandekommen des konkret angebotenen Beschäftigungsverhältnisses zu verhindern. Das Nichtzustandekommen eines die Arbeitslosigkeit beendenden zumutbaren Beschäftigungsverhältnisses kann vom Arbeitslosen - abgesehen vom Fall der ausdrücklichen Weigerung, eine angebotene Beschäftigung anzunehmen - somit auf zwei Wege verschuldet, die Annahme der Beschäftigung also auf zwei Wegen vereitelt werden: nämlich dadurch, dass der Arbeitslose ein auf die Erlangung des Arbeitsplatzes ausgerichtetes Handeln erst gar nicht entfaltet (etwa durch Unterlassung der Vereinbarung eines Vorstellungstermins oder Nichtantritt der Arbeit), oder dadurch, dass er den Erfolg seiner (nach außen zu Tage getretenen) Bemühungen durch ein Verhalten, welches nach allgemeiner Erfahrung geeignet ist, den potenziellen Dienstgeber von der Einstellung des Arbeitslosen abzubringen, zunichte macht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. Dezember 1994, Zl. 93/08/0136, mwN).

2. Unbestritten ist im vorliegenden Fall, dass dem Beschwerdeführer mit dem ihm zugegangenen Schreiben der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 30. April 2007 jedenfalls drei Stellenangebote zugewiesen wurden und er sich auf Grund der beiliegenden Stellenangebote bei den Unternehmen K., B. und V. beworben hat. Strittig verbleibt, ob auch das Stellenangebot betreffend das Unternehmen M. angeschlossen war und die mangelnde Reaktion des Beschwerdeführers als Erfüllung des Tatbestandes des § 10 Abs. 1 AlVG zu werten ist.

Der Beschwerdeführer erblickt ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren der Behörde darin, dass keine Stellungnahme des zuständigen Sachbearbeiters eingeholt worden sei, ob die angeblich EDV-technisch avisierten und auch ausgedruckten Stellenangebote tatsächlich vollständig an den Beschwerdeführer übersandt worden wären. Dazu macht er geltend, dass in dem beim AMS geführten Akt des Beschwerdeführers weder eine Kopie des Schreibens vom 30. April 2007 noch der angeblich übersandten Stellenangebote einliegen würden. Die Stellungnahme des AMS in der Niederschrift vom 23. Mai 2007, die im Wesentlichen lautete:

"Kd. (Kunde) hat alle vier VV's (Vermittlungsvorschläge) vom 30.4. p RSB in einem Kuvert erhalten. Daher liegen keine Nachsichtsgründe vor.", würde für eine vollständige Ermittlung des Sachverhaltes nicht ausreichen; es sei auch nicht eindeutig ersichtlich, von welchem Mitarbeiter des AMS diese Stellungnahme tatsächlich stamme. Die Feststellung zur EDV-technischen Avisierung und dem Ausdruck der vier Stellen sei daher auch aktenwidrig. Im Weiteren liege eine Verletzung des Parteiengehörs vor, weil dem Beschwerdeführer keine Stellungnahme zu den per Computer geführten Aufzeichnungen eingeräumt worden sei, und sei der angefochtene Bescheid auch mangelhaft begründet.

Mit diesem Vorbringen zeigt der Beschwerdeführer im Ergebnis zutreffend eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf:

Vorauszuschicken ist, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 45 Abs. 2 AVG) nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht bedeutet, dass der in der Begründung des Bescheides niederzulegende Denkvorgang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat zur Folge, dass - sofern in den besonderen Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist - die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle in der Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind. Schlüssig sind solche Erwägungen dann, wenn sie unter anderem den Denkgesetzen, somit auch dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut entsprechen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. Juni 2004, Zl. 2000/08/0128, mwN).

Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob die Behörde im Rahmen ihrer Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Hingegen ist der Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung der belangten Behörde, die einer Überprüfung unter den genannten Gesichtspunkten standhält, auf ihre Richtigkeit hin zu beurteilen, d. h. sie zu verwerfen, weil auch ein anderer Ablauf der Ereignisse bzw. ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom 19. September 2007, Zl. 2006/08/0195, mwN).

Gemäß § 60 AVG sind in der Begründung des Bescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind im (letztinstanzlichen) Bescheid die im § 60 AVG genannten Elemente auch in einer eindeutigen (nicht nur die Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichenden, sondern auch) der nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe öffentlichen Rechts zugänglichen Weise darzulegen (vgl. u.a. die hg. Erkenntnisse vom 12. September 1996, Zl. 95/20/0666, und vom 25. Februar 2004, Zl. 2003/12/0027).

Grundsätzlich trifft das AMS im Fall der Bestreitung die Beweislast hinsichtlich des Zuganges von zugewiesenen Stellenangeboten an einen Arbeitslosen. Dieser Beweispflicht kann die Behörde dadurch nachkommen, dass sie einerseits den Vorgang der Absendung entsprechend beurkundet und andererseits die Zustellung mittels Zustellnachweises durchführen lässt. Gerade wenn mehrere Schreiben in einem Kuvert übermittelt werden und damit auch das Risiko von Kuvertierungsfehlern steigt, ist es aber z. B. notwendig, auch eine Beurkundung darüber etwa in Form eines entsprechend konkretisierenden Vermerks hinsichtlich des (Umfanges des) Schriftgutes auf dem Rückschein oder auf dem Kuvert vorzunehmen. Damit wird auch sichergestellt, dass für den Empfänger - sofern er dies nicht ohnehin aus dem Schreiben erkennen kann - unmissverständlich der Umfang bzw. die Vollständigkeit der erhaltenen Postsendung ersichtlich ist. Nur in diesem Fall ist er nämlich in die Lage versetzt, das Fehlen eines Schriftstückes sogleich zu erkennen und gegebenenfalls reklamieren zu können.

Sofern die Behörde nicht in der Lage ist, einen solchen Urkundenbeweis zu erbringen, hat sie die für und gegen den (den Zugang bestreitenden) Empfänger sprechenden Umstände - allenfalls auch nach weiteren Erhebungen z.B. durch Einvernahme derjenigen Person, welche die Kuvertierung bzw. Versendung vorgenommen hat - vollständig darzulegen und zu würdigen.

Im konkreten Fall ergibt sich aus dem Akteninhalt, dass das AMS in seinen chronologisch geführten EDV-Aufzeichnungen den Ausdruck der vier Vermittlungsvorschläge sowie einen Versendungsvorgang an den Beschwerdeführer dokumentiert hat. Aus dem einliegenden (RSb-) Zustellnachweis ist zwar die Hinterlegung der Postsendung beim zuständigen Postamt, jedoch keinerlei Beurkundung dazu ersichtlich, wie viele Schriftstücke bzw. Stellenzuweisungen sich in dem Kuvert befunden haben. Im Übrigen können dazu auch die von der belangten Behörde (aus den EDV-Aufzeichnungen) nachträglich ausgedruckten Stellenangebote keinen Aufschluss liefern, zumal demnach jedem Stellenangebot ein standardisiertes (und nur darauf bezugnehmendes) Begleitschreiben angeschlossen war. Auf dieser Grundlage reichen aber weder die Ermittlungen noch die Begründung der belangten Behörde für die Annahme des Zuganges des - hier relevanten - vierten Stellenangebotes aus.

3. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003. Wien, am 2. Juli 2008

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