VwGH 2006/19/0934

VwGH2006/19/093430.3.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke und die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. N. Bachler, die Hofrätin Mag. Rehak sowie den Hofrat Dr. Fasching als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde 1. des HA, geboren am 23. Juli 1973, 2. der GA, geboren am 18. September 1984, 3. des AA, geboren am 7. Juli 2001, und 4. des PA, geboren am 30. August 2002, alle in T und alle vertreten durch Rechtsanwaltsgemeinschaft Mory & Schellhorn OEG in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 5. April 2006, Zl. 300.462-C1/E1-VII/20/06, betreffend Zurückweisung einer Berufung nach § 63 Abs. 4 AVG (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres),

Normen

AVG §39a;
AVG §63 Abs4;
AVG §39a;
AVG §63 Abs4;

 

Spruch:

I. zu Recht erkannt:

Die Beschwerde des Erstbeschwerdeführers wird als unbegründet abgewiesen.

II. den Beschluss gefasst:

Die Beschwerden der Zweitbeschwerdeführerin, des Dritt- und des Viertbeschwerdeführers werden zurückgewiesen.

Die beschwerdeführenden Parteien haben dem Bund Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 57,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 14. März 2006 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Erstbeschwerdeführers, eines Staatsangehörigen von Armenien, vom 13. Februar 2006 - nach Konsultationen mit den zuständigen Behörden der Bundesrepublik Deutschland - gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung des Antrages sei gemäß "Art. 16 (1) c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) Deutschland zuständig und wies den Erstbeschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 iVm § 10 Abs. 4 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Deutschland aus.

Gleichlautende Bescheide des Bundesasylamtes vom selben Tag ergingen auch an die Zweitbeschwerdeführerin (Ehegattin des Erstbeschwerdeführers) sowie den Dritt- und den Viertbeschwerdeführer (die gemeinsamen minderjährigen Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin).

Am 22. März 2006 unterfertigte der Erstbeschwerdeführer in der Schubhaft eine auf dem Konzeptpapier seiner Flüchtlingsberatungsstelle als "Berufungsverzicht" titulierte Erklärung nachstehenden Inhaltes (Schreibfehler im Original):

"Ich Herr ... (Erstbeschwerdeführer) ... möchte so schnell

wie möglich in den zuständigen Dublinstaat abgeschoben werden,

verzichte auf die Berufung und bitte Schubhaftbetreuung des ...

(Flüchtlingsberatungsstelle) ... diese Information so schnell wie

möglich an die zuständige Fremdenbehörde weiterzuleiten."

Am 29. März 2006 langte beim Bundesasylamt eine von seinem Rechtsvertreter handschriftlich verfasste Berufung des Erstbeschwerdeführers ein. Nach Darstellung seiner Fluchtgründe führte der Erstbeschwerdeführer darin begründend aus, dass ihm in Deutschland die Abschiebung in seinen Herkunftsstaat drohe. Er würde in Deutschland mit Sicherheit "keine 2. Chance mehr erhalten".

Die Zweitbeschwerdeführerin sowie der Dritt- und Viertbeschwerdeführer erhoben gegen die an sie ergangenen Bescheide des Bundesasylamtes keine Berufung.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Erstbeschwerdeführers vom 29. März 2006 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 14. März 2006 gemäß § 63 Abs. 4 AVG als unzulässig zurück.

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Erstbeschwerdeführer eine "mit verschiedenen Asylverfahren in Deutschland und in Österreich" vertraute Person sei. In Österreich habe er zwei Asylanträge und in Deutschland "zumindest einen Asylantrag" gestellt. Auf Grund der Berufungsausführungen des Rechtsvertreters sei davon auszugehen, dass dieser mit dem Erstbeschwerdeführer ein umfassendes Informationsgespräch in deutscher Sprache geführt habe. Dies und sein viereinhalbjähriger Aufenthalt im deutschsprachigen Raum würden nahe legen, dass der Erstbeschwerdeführer der deutschen Sprache hinreichend mächtig sei. Er sei sich deshalb der Tragweite seines Berufungsverzichtes bewusst gewesen. Unter diesen Voraussetzungen sei eine Berufung nach erfolgtem Berufungsverzicht gemäß § 63 Abs. 4 AVG unzulässig.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher die Rechtswidrigkeit des Inhaltes und die Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden. Die belangte Behörde hat von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen, jedoch die Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 63 Abs. 4 AVG ist eine Berufung nicht mehr zulässig, wenn die Partei nach der Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Berufung verzichtet hat.

Ein Berufungsverzicht eines Asylwerbers ist nur dann wirksam, wenn feststeht bzw. ausreichend ermittelt wurde, dass der Asylwerber im Zeitpunkt der Abgabe des Berufungsverzichtes der deutschen Sprache hinlänglich mächtig ist, um sich der Tragweite des Verzichtes bewusst zu sein und ein Willensmangel bei seiner Abgabe ausgeschlossen werden kann (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 16. März 1994, Zl. 93/01/0143).

Der vorliegende Berufungsverzicht des Erstbeschwerdeführers erfüllt aus nachstehenden Gründen die in der zitierten hg. Rechtsprechung geforderten Wirksamkeitsvoraussetzungen:

Die Beschwerde macht geltend, die in Rede stehende Erklärung des Erstbeschwerdeführers vom 22. März 2006 sei zu unbestimmt gewesen, um als Berufungsverzicht gewertet werden zu können. Es sei weder angeführt, auf welche Berufung verzichtet werde, noch werde die Behörde angeführt, an die sie gerichtet sei. Derartige Verzichtserklärungen - abgegeben von einem der deutschen Sprache nicht hinreichend kundigen Asylwerber - seien "einschränkend auszulegen" und könnten zumindest innerhalb der Berufungsfrist noch zurückgenommen werden, was im gegenständlichen Fall "konkludent durch die Berufungseinbringung" geschehen sei. Im Übrigen liege "zufolge eines wesentlichen Irrtums" des Erstbeschwerdeführers kein gültiger Berufungsverzicht vor, weil er der irrtümlichen Meinung gewesen sei, "es sei nunmehr Deutschland verpflichtet, sein Asylverfahren neuerlich durchzuführen".

Dem ist zu erwidern, dass sich aus dem Inhalt der Erklärung vom 22. März 2006 klar der Bezug zu einem "Dublin-Verfahren" ergibt, zumal der Erstbeschwerdeführer darin zu verstehen gab, "so schnell wie möglich in den zuständigen Dublin-Staat" abgeschoben werden zu wollen. Damit war auch eindeutig, auf welches Verfahren sich der von ihm abgegebene Berufungsverzicht beziehen sollte.

Dass dem Erstbeschwerdeführer die Tragweite des Verzichts auf Grund von Sprachschwierigkeiten nicht bewusst gewesen wäre, lässt sich weder dem Akteninhalt noch der Beschwerde entnehmen. In Letzterer wird im Gegenteil ausdrücklich angeführt, der Erstbeschwerdeführer sei mit seinem nunmehrigen Rechtsvertreter dadurch in Kontakt gekommen, dass er (der Erstbeschwerdeführer) sogar "als Übersetzer beim Besuch eines anderen Schubhäftlings verwendet" worden sei.

Entgegen dem Vorbringen in der Beschwerde erwuchs der erstinstanzliche Bescheid mit dem Einlangen des Verzichts bei der belangten Behörde endgültig in formelle Rechtskraft; damit konnte auch der Verzicht nicht mehr zurückgezogen werden (vgl. dazu Hengstschläger/Leeb, AVG § 63 Rz 74 mwN).

Das Beschwerdevorbringen ist auch nicht geeignet, einen relevanten Willensmangel in Bezug auf den Berufungsverzicht darzulegen, zumal schon der behauptete Irrtum nicht vorlag, weil sich Deutschland mit der Wiederaufnahme des Erstbeschwerdeführers gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung einverstanden erklärt hat und gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. b Dublin-Verordnung verpflichtet ist, die Prüfung des Asylantrages abzuschließen.

Die Zurückweisung der Berufung des Erstbeschwerdeführers im angefochtenen Bescheid erfolgte zu Recht. Dessen Beschwerde war gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Eine (inhaltliche) Rechtswidrigkeit sieht die Beschwerde auch in der "Nichtbeachtung des § 36 Abs. 3" AsylG 2005. Die Berufung des Erstbeschwerdeführers hätte - so die Beschwerde - im Familienverfahren zumindest als Berufung der zweit- bis viertbeschwerdeführenden Parteien gewertet werden müssen.

Dem ist nicht zuzustimmen.

Wird gemäß § 36 Abs. 3 AsylG 2005 gegen eine zurückweisende oder abweisende Entscheidung im Familienverfahren auch nur von einem betroffenen Familienmitglied Berufung erhoben, gilt diese auch als Berufung gegen die die anderen Familienangehörigen (§ 2 Z 22) betreffenden Entscheidungen; keine dieser Entscheidungen ist dann der Rechtskraft zugänglich. Allen Berufungen gegen Entscheidungen im Familienverfahren kommt aufschiebende Wirkung zu, sobald zumindest einer Berufung im selben Familienverfahren aufschiebende Wirkung zukommt.

Nach den Gesetzesmaterialien (EB zur RV, 952 der Beilagen zum Nationalrat XXII. GP, 55) vervollständigt diese Bestimmung das System des Familienverfahrens; wird von einem Familienmitglied gegen eine zurück- oder abweisende Entscheidung Berufung ergriffen, gelten alle verbundenen Verfahren als mit angefochten. Damit werde erreicht, "dass alle Anträge von Familienmitgliedern ... von der gleichen Behörde zum gleichen Zeitpunkt entschieden werden können".

Nach dem oben wiedergegebenen Wortlaut des § 36 Abs. 3 AsylG 2005 ("Wird ... auch nur von einem ... Familienmitglied Berufung erhoben ...") und dem damit nach den Materialien verfolgten Zweck (einheitliche Entscheidungen für alle Familienmitglieder) setzt die Begünstigung der genannten Gesetzesstelle also voraus, dass zumindest von einem betroffenen Familienmitglied eine rechtswirksame Berufung erhoben worden ist. Da dies - nach dem bisher Gesagten - im vorliegenden Fall nicht geschehen ist, lagen der belangten Behörde hinsichtlich der zweitbis viertbeschwerdeführenden Parteien keine (diesen zurechenbare) Berufungen vor. Folgerichtig wurde der angefochtene Bescheid auch nur gegenüber dem Erstbeschwerdeführer erlassen.

Mangels eines tauglichen Anfechtungsgegenstandes waren die Beschwerden der Zweitbeschwerdeführerin sowie des Dritt- und des Viertbeschwerdeführers gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen.

Bei diesem Ergebnis konnte auch von der beantragten mündlichen Verhandlung gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 (ad 1.) und § 39 Abs. 2 Z. 1 (ad 2.-4.) VwGG abgesehen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 30. März 2010

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