VwGH 2005/01/0463

VwGH2005/01/046316.4.2007

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gruber und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Mag. Nedwed und Dr. Doblinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Matt, über die Beschwerde des MDB in I, geboren 1985, vertreten durch Mag. Michael Goller, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Edith-Stein-Weg 2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 24. Mai 2005, Zl. UBAS- 243.661/8-III/12/05, betreffend Zurückweisung der Berufung in einer Asylangelegenheit (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §28;
AVG §37;
AVG §45 Abs1;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;
AsylG 1997 §28;
AVG §37;
AVG §45 Abs1;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, seinen Angaben zufolge ein am 10. Oktober 1985 geborener Staatsangehöriger von Sierra Leone, stellte am 7. Oktober 2002 einen Asylantrag und behauptete minderjährig zu sein.

Mit Bescheid vom 4. April 2003 wies das Bundesasylamt diesen Asylantrag gemäß § 6 Z 3 Asylgesetz 1997 (AsylG) als offensichtlich unbegründet ab (Spruchpunkt I) und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach "Sierra Leone bzw. Nigeria" zulässig sei (Spruchpunkt II).

In der Begründung stellte das Bundesasylamt fest, der Beschwerdeführer sei älter als 18 Jahre und somit volljährig. Nach einem mit 7. April 2003 datierten Aktenvermerk des Bundesasylamtes wurde dem Beschwerdeführer (vor seiner Festnahme) der Bescheid vom 4. April 2003 "persönlich zugestellt".

Der Beschwerdeführer beantragte mit (am 1. Oktober 2003 zur Post gegebenen) Schriftsatz vom 1. Oktober 2003 die "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" gegen die Versäumung der Berufungsfrist, erhob gleichzeitig "Berufung" (gegen den Bescheid vom 4. April 2003) und stellte mit der Begründung, es sei kein Bescheid an ihn ergangen und kein rechtmäßiger Zustellvorgang erfolgt, den Antrag "auf Zustellung des Bescheides".

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 4. April 2003 gemäß § 63 Abs. 5 AVG als verspätet zurück.

Zur Begründung führte die belangte Behörde - soweit für die Behandlung der Beschwerde relevant - aus, der Beschwerdeführer sei in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 24. Mai 2005 einvernommen worden. Als erwiesen werde festgestellt, dass der Beschwerdeführer "etwa 30 Jahre alt" sei und der Bescheid des Bundesasylamtes von einer näher bezeichneten Bediensteten der Erstbehörde dem Beschwerdeführer am 7. April 2003 im Bundesasylamt "persönlich ausgefolgt" worden sei.

Zu den Feststellungen über das Alter des Beschwerdeführers führte die belangte Behörde (unter Abschnitt III, 2.1.) wie folgt aus:

"Die Feststellungen über das Alter des Berufungswerbers gründen sich auf die Einschätzung der Verhandlungsleiterin bei der öffentlichen mündlichen Verhandlung. Sie stützt sich einerseits auf das äußere Erscheinungsbild des Berufungswerbers, andererseits auf die persönliche Ausstrahlung und das reife Auftreten des Berufungswerbers bei der Befragung. Die Einschätzung offensichtlich bei Asylantragstellung erreichter Volljährigkeit wurde im Übrigen auch sowohl vom Einvernahmeleiter im erstinstanzlichen Verfahren (Seite 25 oben des erstinstanzlichen Aktes) als auch von dem Organ des für den Wohnort des Berufungswerbers zuständigen Jugendwohlfahrtsträgers (Seite 19 und 21 des erstinstanzlichen Aktes), die beide jeweils über eine langjährige Erfahrung im Umgang mit afrikanischen Asylwerbern verfügen, geteilt. Diese Einschätzung konnte vom Berufungswerber, der im Verfahren keine Dokumente vorlegte, mit dem bloßen Hinweis darauf, dass er die getroffene Altersangabe (10.10.1985) auf die Angaben seiner Mutter stütze und man 'in Afrika auf Grund der vielen Arbeit älter wirke', nicht entkräftet werden, zumal auch die Verhandlungsleiterin der Berufungsbehörde über eine mehrjährige Erfahrung im Umgang mit afrikanischen Asylwerbern aufweist, die es erlaubt, entsprechende Alters- und Reifevergleiche herzustellen. Dazu kommt, dass es sich bei der Einschätzung des Berufungswerbers nicht um bloß geringe Altersabweichungen handelt, sondern der Berufungswerber offensichtlich um viele Jahre älter als von ihm angegeben einzustufen ist, sodass selbst für den Fall, dass der Berufungswerber 'arbeitsbedingt' älter wirken sollte, als er tatsächlich ist, keinesfalls von gegebener Minderjährigkeit bei Asylantragstellung ausgegangen werden kann."

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, gegen den Spruchpunkt I des erstinstanzlichen Bescheides habe der Beschwerdeführer - weil sein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden sei - binnen 10 Tagen Berufung erheben können, für die Berufung gegen Spruchpunkt II des erstinstanzlichen Bescheides sei die (längere) Frist des § 63 Abs. 5 AVG von zwei Wochen offen gestanden. Die Berufung des Beschwerdeführers sei als verspätet zurückzuweisen, weil dem als "volljährig eingestuften" Beschwerdeführer der erstinstanzliche Bescheid am 7. April 2003 durch persönliche Ausfolgung wirksam zugestellt worden sei, die Berufung aber erst nach Ablauf der zweiwöchigen Berufungsfrist, nämlich am 1. Oktober 2003, eingebracht worden sei.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Der Beschwerdeführer behauptete, am 10. Oktober 1985 geboren worden zu sein; er sei daher minderjährig. Demgegenüber stellte die belangte Behörde - ausgehend von einer Alterseinschätzung der Verhandlungsleiterin in der mündlichen Verhandlung (am 24. Mai 2005) - fest, der Beschwerdeführer sei "etwa 30 Jahre alt"; er habe das 18. Lebensjahr bereits vollendet und sei daher schon im Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrages volljährig gewesen.

Zur Altersfeststellung eines Asylwerber hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung bereits mehrfach Stellung genommen.

Im Erkenntnis vom 22. November 2005, Zl. 2005/01/0415, wurde der Auffassung der belangten Behörde zugestimmt, eine Beurteilung des Alters eines Asylwerbers (Feststellung seiner Volljährigkeit) abweichend von seiner Behauptung lasse sich nicht allein auf einen Augenschein des Bundesasylamtes gründen; den (in diesem Fall) vorgelegten Akten sei eine "besondere fachliche Qualifikation" des einvernehmenden Organwalters (der erstinstanzlichen Behörde) in Fragen der Altersbeurteilung nicht zu entnehmen gewesen.

Im Erkenntnis vom 9. Mai 2006, Zl. 2003/01/0171, wurde die Frage der Zulässigkeit einer Altersschätzung durch den Organwalter des Bundesasylamtes auf Grund des persönlichen Eindrucks ausdrücklich offen gelassen, aber - über Amtsbeschwerde des zuständigen Bundesministers - eine von der belangten Behörde vorgenommen "Umwürdigung" der Alterseinschätzung eines Asylwerbers (i.S. einer Feststellung seiner Minderjährigkeit) als rechtswidrig erkannt.

Im Erkenntnis vom 17. Oktober 2006, Zl. 2005/20/0061, wurde eine - auf das äußere Erscheinungsbild und das Verhalten dieses Asylwerbers bei seiner Einvernahme gestützte - Alterseinschätzung des Bundesasylamtes unter Verweis auch auf das genannte Erkenntnis Zl. 2005/01/0415 für unschlüssig (nicht nachvollziehbar) erachtet.

Im Erkenntnis vom 23. November 2006, Zl. 2005/20/0547, wurde ein Verfahrensmangel in diesem Beschwerdefall mit der Begründung verneint, die Altereinschätzung des Bundesasylamtes habe sich nicht allein auf den "persönlichen Eindruck (optisches Erscheinungsbild und Auftreten bei der Behörde)", sondern auch auf weitere, nachvollziehbar dargestellte Umstände (gravierende Widersprüche in Bezug auf eine zeitliche Einordnung einzelner Ereignisse im Verhältnis zum angeblich jeweiligen Alter dieses Asylwerbers) gestützt.

Schließlich wurde im Erkenntnis vom 21. Dezember 2006, Zl. 2005/20/0267, ausgeführt, dass die allein auf einen Augenschein im Rahmen der Berufungsverhandlung gegründete Einschätzung der belangten Behörde nicht geeignet sei, die in Bezug auf das Alter (dieses Asylwerbers) getroffenen Feststellungen schlüssig zu begründen. Den Verwaltungsakten dieses Beschwerdefalles sei nicht zu entnehmen gewesen, dass der Verhandlungsleiter der belangten Behörde über eine besondere fachliche Qualifikation verfügen würde, und es könne aus der "langjährigen Erfahrung des Entscheiders im täglichen Umgang mit Staatsangehörigen aus dem Kulturkreis und der Rasse des Asylwerbers" nichts gewonnen werden, weil sich die nicht näher dargestellten Vergleichsfälle einer nachprüfenden Kontrolle entziehen würden.

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist im vorliegenden Beschwerdefall zunächst festzuhalten, dass die Alterseinschätzung der belangten Behörde nicht wie im genannten Erkenntnis Zl. 2005/20/0547 auf "weitere, nachvollziehbar dargestellte Umstände" gestützt wurde; ein dieser Entscheidung vergleichbarer Fall liegt daher nicht vor.

Die allein auf eine Einschätzung der Verhandlungsleiterin bei der öffentlichen mündlichen Verhandlung gestützte Begründung (äußeres Erscheinungsbild, persönliche Ausstrahlung und reifes Auftreten des Beschwerdeführers bei seiner Befragung) ist aber auch nicht hinreichend, um die Alterseinschätzung schlüssig zu begründen.

Im vorliegenden Beschwerdefall bestehen keine Anhaltspunkte dafür, die Altersangaben des Beschwerdeführers seien offenkundig unrichtig. Dies würde nämlich voraussetzen, dass diese Tatsache entweder allgemein bekannt (also notorisch) sei, oder von jedermann bereits ohne besondere Fachkenntnisse erkannt werden könnte (vgl. hiezu die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze, Band I, zweite Auflage, zu § 45, E 27 und 28 wiedergegebene Judikatur).

Die belangte Behörde argumentierte zwar, ihr entscheidendes Mitglied verfüge über eine "mehrjährige Erfahrung im Umgang mit afrikanischen Asylwerbern", die es "erlaube, entsprechende Alters- und Reifevergleiche" herzustellen. Damit wird jedoch dem in der bisherigen Rechtsprechung aufgestellten Erfordernis einer "besonderen fachlichen Qualifikation" nicht entsprochen, weil sich zum einen die nicht näher dargestellten Vergleichsfälle einer nachprüfenden Kontrolle entziehen (vgl. dazu das zitierte Erkenntnis Zl. 2005/20/0267), zum anderen die Alterseinschätzung eines Asylwerbers in der Regel medizinisches Fachwissen voraussetzt, das durch bloßen "Umgang" mit Asylwerbern - im Rahmen von Einvernahmen oder Verhandlungen - nicht erlangt werden kann. Aus diesem Grund reicht es auch nicht aus, wenn die belangte Behörde ergänzend darauf verwiesen hat, ihre Einschätzung sei auch vom Einvernahmeleiter im erstinstanzlichen Verfahren und vom Vertreter des Jugendwohlfahrtsträgers geteilt worden.

Um daher eine Alterseinschätzung in derartigen Fällen überprüfbar zu machen, bedarf es im Regelfall einer Untersuchung und Beurteilung durch geeignete (zumeist wohl medizinische) Sachverständige.

Derartige Ermittlungen hat die belangte Behörde im gegenständlichen Fall ausgehend von ihrer vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht, zur selbständigen Alterseinschätzung berufen zu sein, unterlassen. Ausgehend davon lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob die Zustellung des erstinstanzlichern Bescheides an den Beschwerdeführer persönlich wirksam erfolgen konnte und die von ihm eingebrachte Berufung verspätet war.

Für das fortgesetzte Verfahren sieht sich der Verwaltungsgerichtshof noch zu folgenden Ausführungen veranlasst:

An der für das Sachverständigengutachten notwendigen Befundaufnahme muss der Asylwerber mitwirken. Eine Weigerung des Asylwerbers, an der Klärung des Sachverhaltes mitzuwirken, wäre von der Behörde - innerhalb der Grenzen der Mitwirkungspflicht, die einem Asylwerber zumutbar ist - in der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.

Der Verwaltungsgerichtshof verkennt weiters nicht, dass auch nach Einholung eines Sachverständigengutachtens im Einzelfall über das Alter (Volljährigkeit oder Minderjährigkeit) eines Asylwerbers nicht hinreichend gesicherte Aussagen bzw. eine Aussagesicherheit nur innerhalb einer Bandbreite möglich sind. In einem solchen Zweifelsfall wäre dann von dem vom Antragsteller (Asylwerber) angegebenen Geburtsdatum (Alter) auszugehen (vgl. sinngemäß die zum "tatsächlichen" Herkunftsstaat ergangene Judikatur wie etwa die hg. Erkenntnisse vom 23. Juli 1999, Zl. 98/20/0464, vom 21. Oktober 1999, Zl. 98/20/0512, und vom 31. Mai 2001, Zl. 2001/20/0041).

Die mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Zurückweisung der Berufung des Beschwerdeführers wegen Verspätung erweist sich nach dem oben Gesagten als rechtswidrig. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Verordnung 2003.

Wien, am 16. April 2007

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