Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird in seinem zweiten, die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone feststellenden Spruchteil wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, seinen Angaben zufolge ein damals 14jähriger Staatsangehöriger von Sierra Leone, reiste am 18. Mai 1999 in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Bei seiner im Beisein eines Vertreters des Jugendwohlfahrtsträgers in englischer Sprache durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 29. Juli 1999 gab er im Wesentlichen an, er stamme aus Kukuna. Seine Muttersprache sei Susu, er könne aber kein einziges Wort in dieser Sprache sprechen. Seine Eltern hätten Susu gesprochen, aber nie mit ihm. Über Kukuna und dessen Bewohner bzw. - an anderen Stellen der Einvernahme - über sein Land könne er nicht zu viel sagen, denn sonst erinnere er sich an die Ermordung seiner Eltern bzw. - an anderen Stellen der Einvernahme - seines Vaters. Vor etwa vier oder fünf Monaten, wobei er unter einem Monat einen langen Zeitraum verstehe, seien die Leute gekommen, die seinen Vater ermordet hätten, und hätten auch den Beschwerdeführer mit einem Messer an der Stirn und mit einem Stock an der Lippe verletzt. Das sei passiert, als er diese Menschen gebeten habe, seinen Vater zu verschonen. Noch am Tag der Ermordung seines Vaters habe jemand den Beschwerdeführer genommen und mit einem Auto über die nahe gelegene Grenze nach Guinea gebracht. Die Leute, die den Vater des Beschwerdeführers getötet hätten und auch ihn getötet hätten, wenn er sich geweigert hätte, mitzukommen, hätten gesagt, der Beschwerdeführer solle mitkommen. Dann hätten sie das nächste Haus stürmen wollen, und in diesem Moment sei der Beschwerdeführer entkommen. Es seien Soldaten gewesen, "Leute, die andere töten". Auf die Frage, was ihm angesichts der Einstellung der Kampfhandlungen seit Ende Mai bzw. Anfang Juni 1999 im Falle einer Rückkehr nach Sierra Leone noch drohe, antwortete der Beschwerdeführer, das Haus seines Vaters sei zerstört und er habe in Sierra Leone niemand mehr.
Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 3. November 1999 den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig. Es ging davon aus, dass der Beschwerdeführer Staatsangehöriger von Sierra Leone sei und seine Heimat wegen der Kriegshandlungen und aus Furcht davor, von Rebellen zwangsrekrutiert zu werden, verlassen habe, und hielt ihm entgegen, eine allgemeine Bürgerkriegssituation stelle keine asylrelevante Verfolgung dar und die Lage in Sierra Leone habe sich inzwischen gebessert.
In der Berufung gegen diese Entscheidung führte der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers aus, es komme nicht nur in Teilen des Landesinneren, sondern auch in Freetown weiterhin zu Übergriffen und die wohlbegründete Furcht des Beschwerdeführers vor Verfolgung sei daher nach wie vor aufrecht.
In der mündlichen Berufungsverhandlung am 15. Mai 2000 wurden vor allem die Sprachkenntnisse des Beschwerdeführers, seine Angaben über andere Bewohner seines behaupteten Heimatortes und sein Allgemeinwissen über Sierra Leone erörtert. Dabei wurde ihm u. a. vorgehalten, sein Pidgin-English sei nach Ansicht des beigezogenen Krio-Dolmetschers "typisch für Nigeria". Der Beschwerdeführer schilderte auch etwas näher, wie die Personen, die in seinen Heimatort eingedrungen seien, zuerst seinen Vater und danach seine Mutter umgebracht hätten und dem Beschwerdeführer die Flucht gelungen sei, während andere Personen aus ihren Häusern gezerrt worden seien. Wenn er jetzt zurückkehren solle, dann müsse jemand mit ihm kommen. Von der Familie des Beschwerdeführers sei niemand mehr in Sierra Leone, der sich um ihn kümmern könne. Wenn ihn die Soldaten, denen er sich habe anschließen sollen, wieder sehen würden, würden sie ihn umbringen. Die abschließende Frage, ob das Rebellen gewesen seien, bejahte der Beschwerdeführer.
Die belangte Behörde wies mit dem angefochtenen Bescheid die Berufung gegen die Abweisung des Asylantrages gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt 1.) und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone sei zulässig (Spruchpunkt 2.). Sie ging davon aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers nicht glaubwürdig seien und er nicht aus Sierra Leone stamme. Eine Gesamtbetrachtung seiner Angaben zeige auch unter Berücksichtigung seiner Minderjährigkeit, dass das Vorbringen nicht wahr sei. Dies ergebe sich aus einer näher dargestellten "Vielzahl der mit der allgemeinen Lebenserfahrung nicht im Einklang stehenden Umstände in seinem Vorbringen", wie etwa der Behauptung, dass seine Eltern zwar Susu gesprochen, sich ihm gegenüber aber nie dieser Sprache bedient hätten. Da das Vorbringen unglaubwürdig sei, könne die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden und sei dem Beschwerdeführer auch in Bezug auf die gemäß § 8 AsylG zu treffende Entscheidung die Glaubhaftmachung hinsichtlich individueller Gefährdungsmomente "in keinster Weise gelungen". Dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone auch nicht aus anderen Gründen unzulässig sei, erläuterte die belangte Behörde wie folgt:
"Hinsichtlich der allgemeinen Verhältnisse in Sierra Leone, die seit Ende April 2000 von wiederaufflammenden Bürgerkriegsgeschehnissen und Übergriffen von Rebellenverbänden gekennzeichnet sind, ist auszuführen, dass der Verwaltungsgerichtshof bereits erkannt hat, dass 'von Rebellengruppen' ausgehenden Gefahren dem § 37 Abs. 1 FrG 1993 nicht subsumierbar sind. Die im § 37 Abs. 1 FrG 1993 bezeichnete Gefahr (unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe, Todesstrafe), vor welcher der Fremde geschützt werden soll, ist nämlich nur dann eine iS dieser Bestimmung, wenn sie von dem betreffenden Staat ausgeht oder von ihm gebilligt wird (Hinweis E 11.3.1993, 93/18/0083).
Weiters wurde vom VwGH bereits erkannt, dass 'die Tatsache, dass es in der Heimat des Fremden zu kriegerischen Handlungen kommt, keinen Grund bildet, darin eine Gefährdung bzw. Bedrohung des Fremden iSd § 37 Abs. 1 FrG 1993 und des § 37 Abs. 2 FrG 1993 zu erblicken' (VwGH vom 23.6.1994, Zahl 94/18/0295).
Gleiches muss sohin in Bezug auf § 57 Abs. 1 FrG 1997 gelten.
Letztlich ist auszuführen, dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Glaubhaftmachung einer konkreten Gefährdungssituation (im Sinne des § 57 FrG) das Feststehen der Identität voraussetzt (vgl. VwGH 21.2.1997, 97/18/0061). Da im konkreten Fall die Identität des Asylwerbers mangels jeglichen Dokumentes nicht feststeht, war es der Behörde auch aus diesem Grund verwehrt, festzustellen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Asylwerbers nach Sierra Leone unzulässig sei."
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die Beschwerde wendet sich zunächst gegen die Beweiswürdigung der belangten Behörde. Eine im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle aufzugreifende Unschlüssigkeit liegt jedoch - auch bei Bedachtnahme auf die Ausführungen in der Beschwerde - nicht vor. Der Verwaltungsgerichtshof hat der Entscheidung daher gemäß § 41 Abs. 1 VwGG den von der belangten Behörde angenommenen Sachverhalt zugrunde zu legen, weshalb die Beschwerde insoweit, als sie sich gegen Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides richtet, im vorliegenden Fall nicht erfolgreich sein kann.
Mit ihren abschließenden Ausführungen darüber, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Sierra Leone nicht unabhängig von seinen individuellen Verfolgungsbehauptungen unzulässig sei, hat die belangte Behörde in ihrem Bescheid vom 17. Mai 2000 auf den Umstand reagiert, dass sich die schon seit Monaten allgemein geäußerten Befürchtungen eines Zusammenbruches des an das Abkommen von Lome im Juli 1999 anschließenden Friedensprozesses in Sierra Leone Anfang Mai 2000 durch Angriffe von Rebellentruppen und deren Vorrücken gegen Freetown zu bewahrheiten schienen (vgl. nur beispielsweise den Bericht der Pan African News Agency vom 7. Mai 2000, Sierra Leone Slips Backwards to Anarchy, und einen Bericht ähnlichen Inhalts in der Zeitung "Der Standard" vom 8. Mai 2000), was u.a. neue Ströme von Binnenflüchtlingen und eine Verschärfung der Situation in den Lagern für diese zur Folge hatte (vgl. dazu die Berichte des UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs-OCHA vom Mai 2000).
Die belangte Behörde hat dieser Entwicklung ohne nähere Auseinandersetzung mit ihren Einzelheiten aus grundsätzlichen Erwägungen die Relevanz für die gemäß § 8 AsylG zu treffende Entscheidung abgesprochen und damit die Rechtslage verkannt. Was zunächst das vermeintliche Erfordernis einer Billigung nicht vom Herkunftsstaat ausgehender Bedrohungen durch diesen anlangt, so ist der Ordnung halber darauf hinzuweisen, dass das von der belangten Behörde zitierte, zum damaligen Fremdengesetz ergangene Erkenntnis vom 11. März 1993, Zl. 93/18/0083, nicht "Rebellengruppen", sondern einen Fall privater Blutrache betraf. Auf die in Wahrheit gemeinten Folgeerkenntnisse dazu braucht angesichts der inzwischen vorliegenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 8 AsylG und der erfolgten Klarstellungen in der Judikatur zum Fremdengesetz nicht mehr im Detail eingegangen zu werden (vgl. zu § 57 Abs. 1 FrG in Verbindung mit § 8 AsylG die Nachweise in den hg. Erkenntnissen vom 26. Februar 2002, Zl. 99/20/0509 und Zl. 99/20/0571, und zuletzt in dem auf Sierra Leone bezogenen Erkenntnis vom 17. September 2002, Zl. 2001/01/0597). Judikatur zur "Tatsache, dass es in der Heimat des Fremden zu kriegerischen Handlungen kommt", ist angesichts des Umstandes, dass sich die hier zu beurteilenden Vorgänge in Sierra Leone mit der Bezugnahme auf eine solche "Tatsache" nicht angemessen umschreiben lassen, von vornherein nicht einschlägig. Sowohl in dieser Hinsicht als auch in Bezug auf ihr abschließendes, auf das Feststehen der Identität des Fremden bezogenes Argument hätte die belangte Behörde das den Rebellenüberfall auf Freetown im Jänner 1999 betreffende hg. Erkenntnis vom 25. November 1999, Zl. 99/20/0465, zu beachten gehabt. Dass der Schutz des Art. 3 EMRK ("Verbot der Folter") und die ihn umsetzende Vorschrift im Fremdengesetz für Personen mit ungeklärter Identität nicht gelte, war aus dem von der belangten Behörde zitierten Erkenntnis aber von Anfang an nicht abzuleiten.
Da sich die belangte Behörde mit der einer Abschiebung - insbesondere bei Bedachtnahme auf das jugendliche Alter des Beschwerdeführers - allenfalls entgegen stehenden neuerlichen Verschärfung der Lage in Sierra Leone im Mai 2000 auf Grund einer vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht nicht näher auseinander gesetzt hat, war der angefochtene Bescheid in seinem zweiten Spruchpunkt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Im Übrigen war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.
Wien, am 21. November 2002
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)