European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:008OBS00006.16I.0427.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.175,22 EUR (darin enthalten 195,87 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
Die Klägerin war vom 14. 11. 1989 bis 26. 3. 2015 bei einer GmbH & Co KG als Angestellte beschäftigt. Mit Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 3. 2. 2015 zu 7 S 5/15t wurde über das Vermögen der GmbH & Co KG das Sanierungsverfahren ohne Eigenverwaltung eröffnet. Das Dienstverhältnis der Klägerin endete am 26. 3. 2015 durch Austritt gemäß § 25 IO.
In der Folge begehrte die Klägerin die Gewährung von Insolvenz‑Entgelt unter anderem aus dem Titel der Kündigungsentschädigung vom 27. 3. 2015 bis 31. 8. 2015 sowie der Urlaubsersatzleistung für 52,51 Werktage. Im Insolvenzverfahren wurden die von der Klägerin angemeldeten Ansprüche vom Insolvenzverwalter anerkannt. Mit Bescheid vom 2. 6. 2015 lehnte die Beklagte die geltend gemachten Ansprüche aus dem Titel der Kündigungsentschädigung und der Urlaubsersatzleistung ab.
Die Klägerin begehrte die Zahlung von 16.286 EUR. Ihr Arbeitsverhältnis habe gemäß § 25 IO geendet. Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten sehe Art 3 der Insolvenzrichtlinie 2002/74/EG vor, dass als Mindestsicherung auch eine „Abfindung“ bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu gewähren sei. Kündigungs-entschädigung und Urlaubsersatzleistung seien unter den Begriff der „Abfindung“ zu subsumieren.
Die Beklagte entgegnete, dass als „Abfindung“ nur eine einmalige Geldzahlung zu verstehen sei, die aus Anlass einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses geleistet werde. Für den österreichischen Rechtsbereich handle es sich dabei um die Abfertigung. Die „Abfindung“ sei aber von Schadenersatzansprüchen, wie etwa der Kündigungsentschädigung oder der Urlaubsersatzleistung, abzugrenzen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach Art 3 der Insolvenzrichtlinie (2002/74/EG bzw 2008/94/EG) seien nicht erfüllte Ansprüche auf Arbeitsentgelt sowie ‑ sofern dies nach innerstaatlichem Recht vorgesehen sei ‑ eine Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich (vorbehaltlich einer Begrenzung der Zahlungspflicht nach Art 4) zu sichern. Unter dem Begriff der „Abfindung“ in Art 3 der Insolvenzrichtlinie könne nur eine einmalige Geldzahlung des Arbeitgebers verstanden werden. Schadenersatzansprüche, wie etwa die Kündigungsentschädigung oder Urlaubsersatzleistung, fielen nicht darunter.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und ihrem Klagebegehren statt. Art 3 der Insolvenzrichtlinie entfalte unmittelbare Wirkung, sodass sich der Einzelne gegenüber dem Staat sowie gegenüber einer dem Staat zurechenbaren juristischen Person des Privatrechts auf diese Bestimmung berufen könne. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (C‑520/03, Valero ; C‑177/05, Pecino ) sei für die Frage, ob eine Leistung unter die Mindestsicherung der Richtlinie falle, entscheidend, ob diese (hier Entschädigung wegen rechtswidriger Kündigung) unter den Begriff des Arbeitsentgelts nach nationalem Recht falle. Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung gebührten dem Arbeitnehmer bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Diese Leistungen seien daher als „Abfindungen“ im Sinn des Art 3 der Insolvenzrichtlinie zu verstehen. Nach Art 12 der Insolvenzrichtlinie könne die Zahlungspflicht für den Fall einer Kollusion oder eines beträchtlichen Einflusses des Arbeitnehmers auf das Unternehmen abgelehnt oder eingeschränkt werden. Eine Kollusion habe die Beklagte ausdrücklich nicht behauptet. Auch auf die Abweisung des Klagebegehrens wegen eines atypischen Arbeitsverhältnisses habe sich die Beklagte nicht berufen. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil sich das Berufungsgericht bei der von ihm gefundenen Lösung auf keine höchstgerichtliche Judikatur hätte stützen können.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten, die auf eine gänzliche Abweisung des Klagebegehrens abzielt.
Mit ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die Klägerin, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch ‑ des Berufungsgerichts ist der Revision mangels Vorliegens einer entscheidungsrelevanten erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig.
1.1 Trotz Zulässigerklärung der Revision durch das Berufungsgericht muss der Rechtsmittelwerber die Revision ausführen und eine Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO aufzeigen. Macht er hingegen nur solche Gründe geltend, deren Erledigung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage abhängt, so ist das Rechtsmittel zurückzuweisen.
1.2 In ihren Rechtsmittelschriften gehen beide Parteien davon aus, dass im Anlassfall die Frage zu klären sei, ob unter der Wendung „Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ in Art 3 der Insolvenzrichtlinie (nunmehr 2008/94/EG) auch eine Kündigungsentschädigung und eine Urlaubsersatzleistung zu subsumieren seien.
Diese Frage stellt sich hier jedoch nicht. Auch sonst zeigt die Beklagte keine Rechtsfrage auf, die die Revision zulässig machen würde.
2.1 Unter Hinweis auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 8 ObS 16/03s (auch 8 ObS 11/03f) führt die Beklagte aus, dass im Zusammenhang mit einem atypischen Arbeitsverhältnis bei Fehlen von Kollusion Arbeitnehmeransprüche in dem vom Europäischen Gerichtshof beschriebenen Mindestumfang, also entsprechend der Mindestsicherung nach Art 3 der Insolvenzrichtlinie, gesichert seien, auch wenn nach nationalem Recht ein Sicherungsanspruch nicht bestehe.
Die diesen Ausführungen zugrunde liegenden Überlegungen hat die Beklagte im erstinstanzlichen Verfahren (ON 6) etwas verständlicher wie folgt dargelegt: Das IESG gehe weit über den Europäischen Mindeststandard, also das Mindestschutzniveau der Insolvenzrichtlinie, hinaus. In diesem Sinn kenne das IESG als Beendigungsansprüche die Abfertigung, die Kündigungsentschädigung und die Urlaubsersatzleistung. Eine qualitativ höhere nationale Sicherung werde von der Insolvenzrichtlinie gestattet. Wenn von der Beklagten eine Zuerkennung im Sinn der Europäischen Mindestsicherung erfolge, diene als Rechtsgrund dafür nicht das österreichische IESG, sondern leite sich der Anspruch direkt aus der Insolvenzrichtlinie ab.
2.2 Mit diesen Überlegungen wird die unmittelbare Wirkung von Richtlinienbestimmungen angesprochen. Diese richtet sich nach folgenden Grundsätzen:
Der Einzelne kann sich in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalem Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat (C‑468/10, ASNEF , Rn 51; C‑55/11, Vodafone Espana , Rn 37; 8 Ob 45/13w). Dies gilt auch gegenüber einer Einrichtung, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse erbringt, oder die durch ein Gesetz eingerichtet wurde und einen öffentlichen Zweck verfolgt, also verpflichtet ist, ihre Tätigkeit nach dem gesetzlich definierten Gesamtinteresse auszurichten (C‑614/11, Kuso , Rn 32; 8 Ob 45/13w). Im (horizontalen) Verhältnis zwischen Privaten kann eine Richtlinie grundsätzlich (außer im Fall der sogenannten objektiv unmittelbaren Wirkung) aber keine Verpflichtungen bzw Belastungen für einen Einzelnen begründen, sodass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie nicht möglich ist (C‑282/10, Dominguez , Rn 37; C‑351/12, OSA , Rn 43; 8 Ob 49/13t).
3.1 In der Argumentation der Beklagten besteht zunächst ein Widerspruch. Während laut Revision die Mindestsicherung nach der Insolvenzrichtlinie zum Tragen kommt, wenn ein korrespondierender Anspruch im nationalen Recht nicht besteht, behauptete die Beklagte im erstinstanzlichen Verfahren, dass es auf die (weitergehende) Sicherung nach nationalem Recht gar nicht ankomme. In diesem Zusammenhang gesteht die Beklagte zu, dass Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung nach dem IESG gesichert wären.
3.2 Davon abgesehen unterliegt die Beklagte in ihrer Argumentation auch einem Irrtum, der in der Interpretation der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C‑201/01, Walcher , seinen Ausgang findet.
In dieser Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof zu den Fragen Stellung genommen, wann eine missbräuchliche Verhaltensweise zu Lasten der Garantieeinrichtung vorliegt und welche Rechtsfolgen sich daran knüpfen. Konkret ist es um die Problematik des sogenannten „Stehenlassens“ (der Vorenthaltung) des Entgelts ohne Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer gegangen. Der Europäische Gerichtshof gelangte zum Ergebnis, dass die (ohne sachlichen Grund erfolgende) Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Zeitpunkt hinaus, zu dem der Arbeitnehmer die finanzielle Krise der Gesellschaft erkennen konnte, eine missbräuchliche Verhaltensweise darstelle, die es dem Mitgliedstaat erlaube, eine Ausnahme von der Entgeltsicherung vorzusehen. Nach der Insolvenzrichtlinie (Art 4) könne die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer aber nicht als ungewöhnlich angesehen werden, wenn das unbezahlte Arbeitsentgelt einen Zeitraum von weniger als drei Monaten betreffe.
Aus dieser Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs folgt somit, dass die Ausnahme von der Entgeltsicherung für Missbrauchsfälle mit der Insolvenzrichtlinie und demnach mit dem Unionsrecht im Einklang steht. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl C‑435/10, van Ardennen , Rn 38; C‑311/13, Tümer , Rn 48; vgl allgemein auch C‑126/10, Foggia , Rn 50). In einem Missbrauchsfall ist die Beklagte daher berechtigt, die geltend gemachten Ansprüche abzulehnen (vgl 8 ObS 2/11v; 8 ObS 3/16y). Weiters ergibt sich aus der zitierten Entscheidung, dass bei einem „Stehenlassen“ des Entgelts bis zu drei Monaten grundsätzlich nicht von einem Missbrauchsfall auszugehen ist. Dies gilt freilich nicht für ein atypisches Arbeitsverhältnis, das einem Fremdvergleich nicht standhält und daher ebenfalls einen Missbrauchsvorwurf rechtfertigt.
3.3 Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und überhaupt dem Unionsrecht nicht zu entnehmen, dass trotz eines Missbrauchsfalls dem Arbeitnehmer die Mindestsicherung nach Art 3 der Insolvenzrichtlinie zusteht. Ebenso verfehlt ist der Ansatz, im Fall eines atypischen Arbeitsverhältnisses (hier aufgrund der Angaben der Klägerin im Fragebogen), aber ohne Kollusion, stehe die Mindestsicherung nach der Insolvenzrichtlinie zu, was weitergehende Ansprüche nach dem IESG ausschließe.
Entweder liegt ein Missbrauchsfall (im Sinn eines atypischen Arbeitsverhältnisses, das einem Fremdvergleich nicht standhält) vor, der zur Ablehnung der Ansprüche führt, oder die Ansprüche sind nach dem IESG zu beurteilen. Nur wenn das IESG einen Anspruch nicht gewährt, der nach der Insolvenzrichtlinie als Mindestanspruch zu qualifizieren ist, kann sich der Arbeitnehmer auf die unmittelbare Wirkung des Art 3 der Insolvenzrichtlinie berufen. Ein Mindestschutz in einer Richtlinie (zur Mindestharmonisierung) kann einen höheren Schutz im nationalen Recht aber nicht ausschließen. Die Insolvenzrichtlinie unterscheidet auch nicht zwischen einem atypischen Arbeitsverhältnis mit Kollusion und einem atypischen Arbeitsverhältnis ohne Kollusion. Wie bereits erwähnt, stellt sich vielmehr die Frage, ob ein Missbrauchsfall vorliegt. In dem der zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zugrunde liegenden Fall ist es zwar um einen Gesellschafter‑Arbeitnehmer gegangen. Der Europäische Gerichtshof hat dazu aber festgehalten, dass ein Gesellschafter‑Arbeitnehmer grundsätzlich nicht anders als ein gewöhnlicher Arbeitnehmer zu behandeln sei.
Überlegungen zum Mindestschutz nach der Insolvenzrichtlinie dürfen somit nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Richtlinie eine Mindestharmonisierung bewirkt. Ein höheres Schutzniveau nach nationalem Recht bleibt somit bestehen.
3.4 Wie schon erwähnt, gesteht die Beklagte zu, dass Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung nach dem IESG gesichert sind. Dies trifft auch zu.
Der Anspruch auf Schadenersatz nach § 25 Abs 2 IO entspricht der arbeitsrechtlichen Kündigungs-entschädigung. Nach dem für das IESG maßgeblichen sozialversicherungsrechtlichen Entgeltbegriff handelt es sich bei der Kündigungsentschädigung um einen Entgeltanspruch (8 ObS 7/14h). Die hier in Rede stehende Kündigungsentschädigung ist daher nach § 1 Abs 2 Z 1 IESG gesichert. Dasselbe gilt für die Urlaubsersatzleistung. Zur Höhe der von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche auf die hier in Rede stehenden Anspruchskategorien hat die Beklagte keine Einwendungen vorgetragen.
4. In Pkt C der Revision verweist die Beklagte ‑ wenn auch kryptisch ‑ auf die Situation eines atypischen Arbeitnehmers. Sollte die Beklagte damit auf die Eigenschaft der Klägerin als Schwester des Kommanditisten der Schuldnerin Bezug nehmen und ableiten wollen, dass das Verhalten der Klägerin einem Fremdvergleich nicht standhalte, so hätte sie nur die Möglichkeit, sich auf einen Missbrauchsfall zu berufen. Im Anlassfall ist dazu jedoch auf die Ausführungen des Berufungsgerichts hinzuweisen, wonach die Beklagte eine Kollusion ausdrücklich nicht behauptet und sich auch nicht darauf berufen habe, dass das Klagebegehren wegen Rechtsmissbrauchs abzuweisen sei. Dass die Beklagte nicht von einem Missbrauchsfall ausgeht, wird auch dadurch bestätigt, dass sie eine Reihe der von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche mit Teilbescheiden aus April und Juni 2015 anerkannt hat.
Eine in der Berufung nicht erhobene Rechtsrüge kann in dritter Instanz nicht mehr nachgetragen werden. Auch die Frage nach einem anspruchsvernichtenden Missbrauchsfall (atypisches Arbeitsverhältnis, das einem Fremdvergleich nicht standhält) stellt sich hier nicht.
5. Insgesamt gelingt es der Beklagten nicht, mit ihren Ausführungen eine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts erweist sich ‑ im Ergebnis ‑ als zutreffend. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 ASGG. Die Klägerin hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
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