OGH 8ObS1/23i

OGH8ObS1/23i29.3.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Antonia Oberwalder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Stepanowsky (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei DI A* B*, vertreten durch Dr. Christoph Orgler, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei IEF Service GmbH, Geschäftsstelle Graz, 8020 Graz, Europaplatz 12, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1010 Wien, Singerstraße 17–19, wegen  19.363 EUR sA (Insolvenz‑Entgelt), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Juni 2020, GZ 7 Rs 7/20 h‑11, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. Oktober 2019, GZ 7 Cgs 35/19f‑7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:008OBS00001.23I.0329.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

I. Das unter 8 ObS 7/20t ausgesetzte Verfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.332,54 EUR (darin 222,09 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger ist seit 1. 7. 2017 bei der Insolvenzschuldnerin mit Sitz in Graz als Leiter der strategischen Geschäftsentwicklung beschäftigt. Die Arbeitgeberin des Klägers bietet auch in Deutschland Leistungen an und beschäftigt dafür dort einen freiberuflichen Vertriebsingenieur, aber keine weiteren Mitarbeiter.

[2] Nach seinem Dienstvertrag liegen der Arbeitsschwerpunkt sowie der gewöhnliche Arbeitsort des Klägers in Österreich. Er leitet zwei Abteilungen und trägt die Verantwortung für die Mitarbeiter im Büro in Graz. Tatsächlich arbeitet der Kläger abwechselnd jeweils eine Woche im Büro in Graz und eine Woche in seinem Homeoffice in Deutschland, wo sich sein Hauptwohnsitz befindet. Die Arbeit, die der Kläger im Homeoffice verrichtet, unterscheidet sich nicht signifikant von seiner Tätigkeit am Firmensitz. Der Kläger verfügt über eine Bescheinigung gemäß Art 13 Abs 1 lit a VO (EG) Nr 833/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (A1‑Bescheinigung), wonach er den deutschen Rechtsvorschriften unterliegt. Das Verfahren über den vom Kläger (auch) in Deutschland gestellten Antrag auf Insolvenzgeld ist offen.

[3] Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Insolvenz-Entgelt für offene Entgeltansprüche für den Zeitraum von Februar 2019 bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels inländischer Sozialversicherungspflicht ab.

[4] In der Klage wird vorgebracht, die Beklagte sei von einer veralteten Rechtslage ausgegangen. Von den Verordnungen (EG) Nr 833/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie (EG) Nr 987/2009 sei der Anspruch auf Insolvenz-Entgelt nicht erfasst. Zur Anwendung komme vielmehr die Insolvenz-Richtlinie (InsolvenzRL, neue Fassung) RL 2008/94/EG . Daraus ergebe sich, dass nur für den Fall, dass der Arbeitgeber mehrere Niederlassungen in verschiedenen Mitgliedstaaten habe, zur Bestimmung der zuständigen Garantieeinrichtung auf das zusätzliche Kriterium des Ortes der Tätigkeit des Arbeitnehmers abzustellen sei. Wenn daher ein Unternehmen wie die Schuldnerin über keine weitere Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat verfüge, sei grundsätzlich jene Garantieeinrichtung zuständig, bei der sich der Unternehmenssitz befinde und das Insolvenzverfahren eröffnet worden sei. An den gewöhnlichen Arbeitsort sei nur dann anzuknüpfen, wenn ein Unternehmen im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig sei und sich die Tätigkeit in einer Niederlassung manifestiere. Maßgeblich sei daher der vereinbarte Arbeitsort in Graz, an dem sich auch tatsächlich der gewöhnliche Arbeitsort des Klägers befinde. Der Umstand, dass eine Sozialversicherung des Arbeitnehmers in einem anderen Staat als dem der Verfahrenseröffnung bestehe, ändere an der Zuständigkeit der Beklagten nichts. Sofern § 1 Abs 1 IESG vorsehe, dass eine Pflichtversicherung in Österreich bestehen müsse, komme diese Bestimmung nicht zur Anwendung, soweit sie Art 9 der Insolvenzrichtlinie widerspreche.

[5] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.

[7] Rechtlich sei die Frage der Anspruchsberechtigung gemäß § 1 IESG selbstständig, unabhängig von der tatsächlichen Versicherungszuständigkeit und Beitragsentrichtung zu prüfen.

[8] Nach den Feststellungen befinde sich der Tätigkeitsschwerpunkt des Klägers eindeutig in Österreich. Es lägen daher ungeachtet der deutschen A1‑Bescheinigung die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine inländische Versicherungspflicht vor, sodass die Leistungspflicht der Beklagten bejaht werden müsse.

[9] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision mangels einschlägiger gefestigter Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für zulässig.

[10] Mit ihrer vom Beklagten beantworteten Revision strebt die beklagte Partei die Abweisung des Klagebegehrens an.

[11] I. Der Senat hat das Revisionsverfahren zu 8 ObS 7/20t mit Beschluss vom 14. 9. 2021 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das gleichzeitig gestellte Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.

[12] Der EuGH hat mit Urteil vom 16. 2. 2023 in der Rechtssache C‑710/21 über dieses Vorabentscheidungsersuchen entschieden.

[13] Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen.

Rechtliche Beurteilung

[14] II. Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist jedoch nicht berechtigt.

[15] 1. Nach § 1 Abs 1 IESG besteht ein Anspruch auf Insolvenz‑Entgelt für Arbeitnehmer, die in einem Arbeitsverhältnis (freien Dienstverhältnis, Auftragsverhältnis) stehen oder gestanden sind und gemäß § 3 Abs 1 oder Abs 2 lit a bis d ASVG als im Inland beschäftigt gelten.

[16] Eine Beschäftigung im Inland nach § 3 Abs 1 ASVG liegt bei unselbstständig Erwerbstätigen vor, deren Beschäftigungsort im Inland gelegen ist. Beim Beschäftigungsort handelt es sich nach § 3 Abs 4 ASVG um den Ort, an dem die Beschäftigung ausgeübt wird. Wird eine Beschäftigung abwechselnd an verschiedenen Orten ausgeübt, aber von einer festen Arbeitsstätte aus, so gilt diese als Beschäftigungsort. Wird eine Beschäftigung ohne feste Arbeitsstätte ausgeübt, so gilt der Wohnsitz des/der Versicherten als Beschäftigungsort.

[17] 2. Der Verweis auf die Inlandsbeschäftigung in § 1 Abs 1 IESG ist grundsätzlich als Anknüpfung an eine inländische Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers zu verstehen, die Regelungsgegenstand des ASVG ist. Diese Regelung korrespondiert mit der InsolvenzRL 2008/94/EG und der Rechtsprechung des EuGH (C‑198/98 , Everson), die bei grenzüberschreitenden Sachverhalten die Zuständigkeit der Garantieeinrichtung desjenigen Mitgliedstaats vorsieht, in dessen Hoheitsgebiet die betreffenden Arbeitnehmer ihre Arbeit gewöhnlich verrichten oder verrichtet haben, und die die Beiträge vom zahlungsunfähigen Arbeitgeber erhoben hat bzw hätte erheben müssen (Reissner in Reissner [Hrsg], Arbeitsverhältnis und Insolvenz5, Rz 98 ff; 8 ObS 148/99v DRdA 2001, 49 [K. Mayr]).

[18] 3. Nach den Sachverhaltsfeststellungen lag beim Kläger mit dem Grazer Büro, in dem er Leitungsfunktionen erfüllte, jedenfalls eine feste Arbeitsstätte im Inland vor.

[19] Die in der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen, inwieweit nach dem konkreten Sachverhalt von einer Tätigkeit des Arbeitgebers im Hoheitsgebiet zweier Mitgliedstaaten auszugehen ist und in welchem Verhältnis die aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO (EG) Nr 833/2004 ausgestellte sogenannte A1‑Bescheinigung, die dem Kläger die Zugehörigkeit zum deutschen Sozialversicherungssystem bestätigt, zu den Kriterien für die Zuständigkeit der Sicherungseinrichtung nach der InsolvenzRL 2008/94/EG steht, waren Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH.

[20] Mit Urteil vom 16. 2. 2023, Rs C‑710/21 , hat der EuGH die ihm gestellten Vorlagefragen zusammengefasst wie folgt beantwortet:

Art 9 Abs 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 10. 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des Mitgliedsstaats, dessen Garantieeinrichtung für die Befriedigung nicht erfüllter Arbeitnehmeransprüche zuständig ist, davon auszugehen ist, dass der Arbeitgeber, der zahlungsunfähig ist, nicht im Sinne dieser Bestimmung im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, wenn nach dem Arbeitsvertrag des betreffenden Arbeitnehmers dessen Arbeitsschwerpunkt und gewöhnlicher Arbeitsort im Sitzmitgliedsstaat des Arbeitgebers liegen, der Arbeitnehmer aber seine Aufgaben zu einem ebenso großen Teil seiner Arbeitszeit aus der Ferne von einem anderen Mitgliedsstaat aus verrichtet, in dem sich sein Hauptwohnsitz befindet.

[21] In der Entscheidungsbegründung stellt der EuGH klar, dass eine derartige Beschäftigung auch dann keine dauerhafte Präsenz des Arbeitgebers im Sinne der InsolvenzRL im anderen Mitgliedsstaat begründet, wenn dort daneben noch ein freiberuflicher Vertriebsmitarbeiter für ihn tätig ist (Rn 43).

[22] Diese Schlussfolgerung werde nicht durch die Ausstellung einer Bescheinigung iSd Art 19 Abs 2 der VO (EG) Nr 987/2009 (A1-Bescheinigung) in Frage gestellt, die ihre Bindungswirkung lediglich in Bezug auf die Verpflichtungen entfaltet, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit ergeben (Rn 45).

[23] 4. Davon ausgehend erweisen sich die Entscheidungen der Vorinstanzen, deren Erwägungen bereits mit den nunmehrigen Ausführungen des EuGH im Einklang stehen, als zutreffend.

[24] Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

[25] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 ASGG.

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