European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:008OBS00007.20T.0914.000
Spruch:
1. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art 9 Abs 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers dahin auszulegen, dass ein Unternehmen im Sinne dieses Artikels bereits dann im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedsstaaten tätig ist, wenn es in einem anderem Mitgliedsstaat seine Leistungen anbietet, zu diesem Zweck dorteinen freiberuflichen Vertriebsingenieur beschäftigt und ein am Unternehmenssitz angestellter Arbeitnehmer regelmäßig jede zweite Woche im anderen Mitgliedsstaat im Homeoffice arbeitet?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird:
Ist Art 9 Abs 1 der Richtlinie 2008/94/EG dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer eines solchen Unternehmens, der im zweiten Mitgliedsstaat seinen Wohnsitz hat und dort der Sozialversicherungspflicht unterliegt, aber abwechselnd je eine Woche seine Arbeit in dem Mitgliedsstaat verrichtet, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat und dann in dem Mitgliedsstaat verrichtet, in dem er seinen Wohnsitz hat und der Sozialversicherung unterliegt, diese im Sinne dieses Artikels „gewöhnlich“ in beiden Mitgliedsstaaten verrichtet?
3. Falls die Frage 2 bejaht wird:
Ist Art 9 Abs 1 der Richtlinie 2008/94/EG dahin auszulegen, dass für die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche eines Arbeitnehmers, der seine Arbeit gewöhnlich in zwei Mitgliedsstaaten verrichtet oder verrichtet hat,
a) die Garantieeinrichtung des Mitgliedsstaats zuständig ist, dessen Rechtsvorschriften er im Rahmen der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Sozialversicherung) unterliegt, wenn die Garantieeinrichtungen gemäß Artikel 3 der Richtlinie 2008/94/EG in beiden Staaten so gestaltet sind, dass die Arbeitgeberbeiträge zur Finanzierung der Sicherungseinrichtung als Teil der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung zu entrichten sind,
b) oder die Garantieeinrichtung des anderen Mitgliedsstaats, in dem das zahlungsunfähige Unternehmen seinen Sitz hat, oder
c) die Garantieeinrichtungen beider Mitgliedsstaaten, sodass der Arbeitnehmer bei der Antragstellung wählen kann, welche er in Anspruch nehmen will?
2. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Begründung:
A. Sachverhalt
[1] Der Kläger ist seit 1. 7. 2017 bei der Insolvenzschuldnerin mit Sitz in Graz als Leiter der strategischen Geschäftsentwicklung beschäftigt. Die Arbeitgeberin des Klägers bietet auch in Deutschland ihre Leistungen an und beschäftigt dort einen freiberuflichen Vertriebsingenieur, aber keine weiteren Mitarbeiter.
[2] Nach seinem Dienstvertrag liegen der Arbeitsschwerpunkt sowie der gewöhnliche Arbeitsort des Klägers in Österreich. Er leitet zwei Abteilungen und trägt die Verantwortung für die Mitarbeiter im Büro in Graz. Tatsächlich arbeitete der Kläger abwechselnd jeweils eine Woche im Büro in Graz und eine Woche in seinem Homeoffice in Deutschland, wo sich sein Hauptwohnsitz befindet. Die Arbeit, die der Kläger im Homeoffice verrichtet, unterscheidet sich nicht signifikant von seiner Tätigkeit am Firmensitz.
[3] Der Kläger verfügt über eine Bescheinigung gemäß Art 13 Abs 1 lit a VO (EG) 883/04 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (A1‑Bescheinigung), wonach er den deutschen Rechtsvorschriften unterliegt.
[4] Mit Beschluss des Insolvenzgerichts vom 4. 6. 2019 wurde über das Vermögen der Arbeitgeberin ein Sanierungsverfahren ohne Eigenverwaltung eröffnet.
[5] Der Kläger hat sowohl bei der Beklagten als auch bei der deutschen Garantieeinrichtung einen Antrag auf Insolvenzgeld gestellt. Der Ausgang des Verfahrens ist noch offen.
B. Anträge und Vorträge der Parteien
[6] Die Klage ist auf Insolvenz-Entgelt für die bis zur Eröffnung des Sanierungsverfahrens rückständigen Entgeltforderungen des Klägers gerichtet. Die Insolvenz-Richtlinie 2008/94/EG sehe vor, dass zur Bestimmung der zuständigen Garantieeinrichtung auf das zusätzliche Kriterium des Ortes der Tätigkeit des Arbeitnehmers nur dann abzustellen sei, wenn der Arbeitgeber mehrere Niederlassungen in verschiedenen Mitgliedsstaaten habe. Die Schuldnerin verfüge über keine weitere Niederlassung in einem anderen Mitgliedsstaat, sodass jene Garantieeinrichtung zuständig sei, bei der sich der Unternehmenssitz befinde und das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Maßgeblich sei daher der Standort und vereinbarte Arbeitsort des Klägers in Österreich. Das Bestehen einer Sozialversicherungspflicht des Klägers in Deutschland ändere an der Zuständigkeit der Beklagten nichts. Soweit aus § 1 Abs 1 Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz (IESG) abgeleitet werden könnte, dass die Leistungspflicht der Beklagten eine Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers in Österreich voraussetze, widerspreche die Bestimmung dem Art 9 Abs 1 der RL 2008/94/EG und sei nicht anzuwenden.
[7] Die Beklagte wandte im Verfahren ein, sie sei an die für den Kläger aufgrund des Art 12 Abs 1 der VO (EG) 883/2004 in der durch die Verordnung 1244/2010 geänderten Fassung ausgestellte A1‑Bescheinigung des deutschen Spitzenverbandes DVKA gebunden. Nach den Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Insolvenz-Entgeltsicherungsesetz (IESG), der auf die Versicherungspflicht nach § 3 Abs 1 und Abs 2 lit a bis d des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) verweise, seien die Voraussetzungen für eine Leistungszuständigkeit der Beklagten nicht erfüllt.
C. Bisheriges Verfahren
[8] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es kam zu dem Ergebnis dass die A1-Bescheinigung des Klägers lediglich im Geltungsbereich der ihre Ausstellung regelnden VO (EG) 883/2004 idF VO (EU) 1244/2010 Bedeutung habe, der nicht die Sicherung von Arbeitnehmeransprüchen bei Insolvenz des Arbeitgebers umfasse. Maßgeblich sei vielmehr der Geltungsbereich der RL 2008/94/EG , in dem es bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht darauf ankomme, in welchem Mitgliedsstaat der Arbeitnehmer pflichtversichert war oder ist.
[9] Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Beklagten keine Folge.
[10] Nach der VO (EG) 883/2004 seien bei grenzüberschreitender Beschäftigung die Rechtsvorschriften jenes Mitgliedsstaates anzuwenden, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, sofern die Arbeitnehmer keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeiten in dem Wohnsitzstaat ausüben. Nach diesen Grundsätzen habe der Kläger, der mit der Leitung zweier Abteilungen am Sitz des Unternehmens in Österreich betraut sei, den wesentlichen Teil seiner Tätigkeit im Inland verrichtet. Er erfülle nach dem Sachverhalt die Kriterien einer Beschäftigung im Inland, weil sich auch seine im Homeoffice verrichtete Tätigkeit letztlich am Sitz des Unternehmens in Graz ausgewirkt habe. Die Bindungswirkung einer aufrechten A1‑Bescheinigung stehe einer selbstständigen Prüfung der Voraussetzungen des § 1 Abs 1 IESG nicht entgegen.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Oberste Gerichtshof hat über die Revision der Beklagten zu entscheiden, die eine Abweisung der Klage anstrebt.
[12] Der Oberste Gerichtshof beschließt, das Revisionsverfahren auszusetzen, um dem Gerichtshof der Europäischen Union die im Spruch genannten, für die Entscheidung der Rechtssache wesentlichen Fragen der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen.
D. Rechtsgrundlagen
1. Unionsrecht
1.1. RL 2008/94/EG :
Artikel 9
(1) Ist ein Unternehmen, das im Hoheitsgebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten tätig ist, zahlungsunfähig im Sinne von Artikel 2 Absatz 1, so ist für die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche die Einrichtung desjenigen Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet die betreffenden Arbeitnehmer ihre Arbeit gewöhnlich verrichten oder verrichtet haben.
(2) Der Umfang der Rechte der Arbeitnehmer richtet sich nach dem für die zuständige Garantieeinrichtung geltenden Recht.
1.2. VO (EG) Nr 883/2004:
Artikel 11
Allgemeine Regelung
(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel. (...)
(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats (…)
Artikel 12 Sonderregelung
(1) Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere Person ablöst.
Artikel 13
Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten
(1) Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, unterliegt
a) den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt oder wenn sie bei mehreren Unternehmen oder Arbeitgebern beschäftigt ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten haben, oder
b) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber, das bzw. der sie beschäftigt, seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeiten in dem Wohnmitgliedstaat ausübt.
[13] 1.3. VO (EG) 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit:
Artikel 5
Rechtswirkung der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Dokumente und Belege
(1) Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.
2. Nationales Recht:
2.1. Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz (IESG)
§ 1 (1) Anspruch auf Insolvenz-Entgelt haben Arbeitnehmer, freie Dienstnehmer im Sinne des § 4 Abs 4 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, Heimarbeiter und ihre Hinterbliebenen sowie ihre Rechtsnachfolger von Todes wegen (Anspruchsberechtigte) für die nach Abs 2 gesicherten Ansprüche, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis (freien Dienstverhältnis, Auftragsverhältnis) stehen oder gestanden sind und gemäß § 3 Abs 1 oder Abs 2 lit a bis d ASVG als im Inland beschäftigt gelten (galten) und über das Vermögen des Arbeitgebers (Auftraggebers) im Inland ein Verfahren nach der Insolvenzordnung (...) eröffnet wird.
(...)
§ 12 (1) Die Ausgaben des Insolvenz-Entgelt-Fonds werden bestritten aus:
(…) 4. einem vom Arbeitgeber zu tragenden Zuschlag zu dem vom Dienstgeber zu leistenden Anteil des Arbeitslosenversicherungsbeitrages (...)
2.2. Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG)
§ 3 (1) Als im Inland beschäftigt gelten unselbständig Erwerbstätige, deren Beschäftigungsort (Abs 4) im Inland gelegen ist, selbständig Erwerbstätige, wenn der Sitz ihres Betriebes im Inland gelegen ist.
(2) Als im Inland beschäftigt gelten auch
a) Dienstnehmer, die dem fahrenden Personal einer dem internationalen Verkehr auf Flüssen oder Seen dienenden Schiffahrtsunternehmung angehören, (...);
d) Dienstnehmer, deren Dienstgeber den Sitz in Österreich haben und die ins Ausland entsendet werden, sofern ihre Beschäftigung im Ausland die Dauer von fünf Jahren nicht übersteigt; (...)
§ 4 (1) In der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung sind auf Grund dieses Bundesgesetzes versichert (vollversichert), wenn die betreffende Beschäftigung weder gemäß den §§ 5 und 6 von der Vollversicherung ausgenommen ist, noch nach § 7 nur eine Teilversicherung begründet:
1. die bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigten Dienstnehmer; (...)
3. Deutschland:
3.1. Sozialgesetzbuch (SGB) Viertes Buch
§ 3 Persönlicher und räumlicher Geltungsbereich
Die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung gelten,
1. soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit voraussetzen, für alle Personen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs beschäftigt oder selbstständig tätig sind, (...)
§ 9 Beschäftigungsort
(1) Beschäftigungsort ist der Ort, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wird. (...)
(6) In den Fällen der Ausstrahlung gilt der bisherige Beschäftigungsort als fortbestehend. Ist ein solcher nicht vorhanden, gilt als Beschäftigungsort der Ort, an dem der Betrieb, von dem der Beschäftigte entsandt wird, seinen Sitz hat.
(7) Gelten für einen Arbeitnehmer auf Grund über- oder zwischenstaatlichen Rechts die deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit und übt der Arbeitnehmer die Beschäftigung nicht im Geltungsbereich dieses Buches aus, gilt Absatz 6 entsprechend. Ist auch danach kein Beschäftigungsort im Geltungsbereich dieses Buches gegeben, gilt der Arbeitnehmer als in Berlin (Ost) beschäftigt. (...)
Zweiter Teil, Beiträge
§ 20 Aufbringung der Mittel, Übergangsbereich
(1) Die Mittel der Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung werden nach Maßgabe der besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige durch Beiträge der Versicherten, der Arbeitgeber und Dritter, durch staatliche Zuschüsse und durch sonstige Einnahmen aufgebracht. (...)
§ 28d Gesamtversicherungsbeitrag
Die Beiträge in der Kranken- und Rentenversicherung (...) sowie der Beitrag aus Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach dem Recht der Arbeitsförderung werden als Gesamtsozialversicherungsbeitrag gezahlt (...)
3.2. Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch – Arbeitsförderung
Zweiter Abschnitt – Insolvenzgeld
§ 165 Anspruch
(1) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei einem Insolvenzereignis für die vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. (...)
Auch bei einem ausländischen Insolvenzereignis haben im Inland beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Anspruch auf Insolvenzgeld. (...)
E. Begründung der Vorlagefrage
[14] In der Rs C‑527/16, Alpenrind hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausgesprochen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art 12 Abs 1 der VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der durch die Verordnung Nr 1244/2010 geänderten Fassung) ausgestellte, aufrechte A1‑Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.
[15] Der Oberste Gerichtshof hat daher für den Bereich der sozialen Sicherheit (vgl Art 3 der VO 883/2004 – Leistungen bei Krankheit, Invalidität, Alter …) davon auszugehen, dass der Kläger trotz seines in Österreich geschlossenen Arbeitsvertrags und seiner zur Hälfte der Arbeitszeit am Unternehmenssitz in Österreich ausgeübten Beschäftigung die Voraussetzungen für die Pflichtversicherung in seinem Wohnsitzstaat Deutschland erfüllt und die deutschen Rechtsvorschriften auf ihn anzuwenden sind. Nach § 9 Abs 7 SGB (IV) hat er insoweit wohl auch einen (zumindest fiktiven) Arbeitsort in Deutschland.
[16] Nach Erwägungsgrund 15 und 16 der VO (EG) 883/2004 ist es erforderlich, Personen, die sich innerhalb der Gemeinschaft bewegen, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, um eine Kumulierung anzuwendender nationaler Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen zu vermeiden. Innerhalb der Gemeinschaft ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Ansprüche der sozialen Sicherheit vom Wohnort der betreffenden Person abhängig zu machen; in besonderen Fällen jedoch – vor allem bei besonderen Leistungen, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld der betreffenden Person gebunden sind – könnte der Wohnort berücksichtigt werden. Nach Erwägungsgrund 17 ist es zweckmäßig, als allgemeine Regel die Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorzusehen, in dem die betreffende Person eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt.
[17] Für den Regelungsbereich der Insolvenz-Entgeltsicherung legt Artikel 9 Abs 1 der RL 2008/94/EG fest, dass in grenzübergreifenden Fällen die Garantieeinrichtung jenes Mitgliedsstaats für die Befriedigung der Ansprüche der Arbeitnehmer zuständig ist, in dessen Hoheitsgebiet sie die Arbeit gewöhnlich verrichten oder verrichtet haben. Dies gilt auch, wenn die Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat in einer dort bestehenden Zweigniederlassung einer insolventen Gesellschaft tätig waren, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründet wurde, in dem sie ihren Sitz hat (EuGH Rs C‑198/98 Everson). Als entscheidend erachtet wird die „feste wirtschaftliche Präsenz“ des Unternehmens in einem Staat (EuGH RS C‑310/07 Holmgvist; vgl auch EuGH C‑477/09 Defossez zur Bedeutung des Sitzes des Arbeitgebers und der Beitragspflicht zur Finanzierung).
[18] Der österreichische Gesetzgeber hat die Vorgaben der RL 2008/94/EG in § 1 Abs 1 IESG dahin umgesetzt, dass eine Beschäftigung im Inland vorliegt, wenn ein Arbeitsverhältnis im Sinn des § 3 Abs 1 oder Abs 2 lit a bis d ASVG vorliegt. Unter diesen Voraussetzungen besteht für dieses Arbeitsverhältnis die Versicherungspflicht im Inland.
[19] Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist nach § 1 Abs 1 IESG kein Anspruch auf Insolvenz-Entgelt gegeben, wenn ein im Ausland beschäftigter Arbeitnehmer aufgrund seiner Tätigkeit keiner Versicherungspflicht in Österreich unterliegt (8 ObS 13/14s).
[20] Im vorliegenden Fall, in dem der Kläger im gleichen zeitlichem Ausmaß sowohl in Österreich als auch in Deutschland arbeitet, aber der deutschen Sozialversicherung unterliegt, stellt sich zunächst die Frage, ob der Artikel 9 der RL 2008/94/EG über grenzübergreifende Fälle überhaupt zum Tragen kommt. Dies hängt nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs davon ab, ob das Anbieten der Leistungen des Unternehmens, die festgestellte Beschäftigung eines freiberuflichen Vertriebsingenieurs und die regelmäßige Arbeit des Klägers im Homeoffice in Deutschland als Anknüpfungspunkte ausreichen, um eine „feste wirtschaftliche Präsenz“ des Arbeitgebers in Deutschland zu bejahen.
[21] Sollte dies der Fall sein, ist angesichts der gleichen Verteilung der Arbeitszeit bei gleichem Inhalt der Tätigkeit und den Kriterien des Wohnsitzes und der Versicherungspflicht des Klägers zu klären, in welchem Staat er die Arbeit „gewöhnlich“ im Sinn des Art 9 Abs 1 RL 2008/94/EG verrichtet hat, um danach die Zuständigkeit der nationalen Garantieeinrichtung ermitteln zu können.
[22] Letztlich wäre in einer Konstellation wie der vorliegenden vorstellbar, dass ein Arbeitnehmer in der Situation des Klägers in beiden Mitgliedsstaaten einen gewöhnlichen Arbeitsort hat und es seiner Wahl obliegt, welche der beiden in Frage kommenden Garantieeinrichtungen er nach dem Prinzip des Zuvorkommens in Anspruch nehmen will. Gegen ein solches Ergebnis spricht nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs das im Erwägungsgrund 6 zur RL 2008/94/EG ausgesprochene Ziel der Richtlinie, die Zuständigkeit der Garantieeinrichtungen für Arbeitnehmer in den grenzübergreifenden Fällen ausdrücklich festzulegen. Auch ausgehend davon, dass kein zwingender Zusammenhang zwischen Beitragspflicht und Sicherungsanspruch besteht (EuGH C‑292/14 Elliniko Dimosio Rz 68), entspricht es wohl der Zielrichtung der Grundfreiheiten, eine Doppelbelastung von Arbeitgebern, deren Arbeitnehmer in zwei Mitgliedstaaten mit beitragsfinanzierten Insolvenzentgeltsicherung arbeiten, zu vermeiden und eine Auslegung der Zuständigkeitsbestimmung des Art 9 der RL 2008/94/EG im Sinne einer solchen Koordinierung zu ermöglichen.
F. Verfahrensrecht:
[23] Als Gericht letzter Instanz ist der Oberste Gerichtshof zur Vorlage verpflichtet, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass kein Raum für vernünftige Zweifel besteht. Solche Zweifel liegen hier vor.
[24] Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist das Verfahren über das Rechtsmittel des Klägers auszusetzen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)