European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBA00034.22S.0525.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] R* war bei der Erstbeklagten als Hilfsarbeiter beschäftigt. Der Zweitbeklagte ist der Geschäftsführer der Erstbeklagten. Am 29. 3. 2017 sollte R* im Zuge der Sanierung eines Hauses gemeinsam mit dem Drittbeklagten Abbrucharbeiten im Bereich eines Dachbodens durchführen.
[2] Vor Beginn der Abbrucharbeiten wurde keine Untersuchung des Bauzustands nach § 110 Abs 1 Bauarbeiterschutzverordnung (BauV) durchgeführt. Ebenso wenig wurde eine schriftliche Abbruchanweisung mit Gefahrenhinweisen und Sicherheitsmaßnahmen nach § 110 Abs 4 BauV erteilt. Es wurde auch keine Aufsichtsperson zur Überwachung der Sicherheit auf der Baustelle nach § 4 Abs 1 BauV bestellt.
[3] Als der Drittbeklagte mit einem Hammer auf eine tragende Ytong‑Wand einschlug, um sie abzutragen, machte ihn R* darauf aufmerksam, dass die Zwischendecke instabil werde. Der Drittbeklagte schlug aber unter Hinweis auf den bestehenden Zeitdruck weiter auf die Wand ein. Als sich die Zwischendecke senkte, konnte sich der Drittbeklagte noch in Sicherheit bringen. R* wurde von der herunterstürzenden Decke schwer verletzt und ist seither querschnittsgelähmt.
[4] Abbrucharbeiten sind nach den Feststellungen der Vorinstanzen besonders gefährliche Arbeiten. Weder R* noch der Drittbeklagte hatten eine Ausbildung für Abbrucharbeiten. Die Arbeiten wurden nicht fachgerecht durchgeführt, weil beim Abbruch in umgekehrter Reihenfolge zum Aufbau vorzugehen ist und die Zwischendecke daher vor den Wänden zu entfernen gewesen wäre. Auch waren keine Stützen aufgestellt oder andere Sicherheitsmaßnahmen ergriffen worden, die den Einsturz der Decke verhindern hätten können.
[5] Der Zweit‑ und der Drittbeklagte wurden vom Bezirksgericht Bruck an der Leitha zu 1 U 2/18m wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB schuldig gesprochen und jeweils zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Darüber hinaus verhängte das Verwaltungsgericht Wien über den Zweitbeklagten wegen der Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften mehrere Geldstrafen.
[6] Die klagenden Sozialversicherungsträger begehren insgesamt 273.140,25 EUR sA für die gegenüber R* bereits erbrachten Leistungen und die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle Leistungen, die sie ihm in Folge des Unfalls nach den geltenden sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften erbringen müssen.
[7] Das Erstgericht qualifizierte das Verhalten der Beklagten als grob fahrlässig und stellte mit Teil‑ und Zwischenurteil fest, dass die Zahlungsbegehren nach § 334 ASVG dem Grunde nach zu Recht bestehen und die Beklagten für die von den Klägern aufgrund des Unfalls zu erbringenden Leistungen haften. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.
[8] Die außerordentliche Revision der Erst‑ und des Zweitbeklagten ist mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nach § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
Rechtliche Beurteilung
[9] 1. Soweit die Revisionswerber die Zulässigkeit ihres Rechtsmittels damit begründen, die Vorinstanzen seien von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach über ein Feststellungsbegehren kein Zwischenurteil gefällt werden dürfe, abgewichen, ist ihnen entgegenzuhalten, dass das Erstgericht über das Feststellungsbegehren ohnehin mit Teilurteil entschieden hat.
[10] 2. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist das Zivilgericht nicht an eine Einstellung des Strafverfahrens gebunden (RIS‑Justiz RS0040267; RS0106015 [T1]). Es gibt auch keine Bindung an ein freisprechendes Strafurteil (RS0031554; RS0040267; RS0106015). Dies gilt sogar dann, wenn aufgrund des Beweisverfahrens vom Strafgericht festgestellt worden wäre, dass die Beschuldigten die ihnen zur Last gelegte Tat gar nicht begangen haben (RS0106015 [T3, T10]). Umso weniger waren die Vorinstanzen daran gebunden, dass die Revisionswerber bloß wegen des Vergehens der „leichten“ fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB, nicht aber wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1, 3 und 4 zweiter Fall StGB verurteilt wurden.
[11] 3. Die Revisionswerber machen geltend, dass der „Risikozusammenhang“ durch das nachträgliche grob fahrlässige Verhalten eines Dritten unterbrochen worden sei, weil der Drittbeklagte trotz Warnung mit einem Hammer auf die Wand eingeschlagen habe. Das Berufungsgericht hat in diesem Zusammenhang aber darauf hingewiesen, dass angesichts des Fehlens einer Abbruchanweisung, des Einsatzes nicht ausgebildeter Arbeiter und des Unterbleibens jeglicher Sicherheitsvorkehrungen eine Verletzung von Arbeitern durchaus vorhersehbar war. Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält sich im Rahmen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung, wonach das Dazwischentreten eines Dritten den Kausalzusammenhang nur dann unterbricht, wenn mit einer derartigen Handlung eines Dritten und dem dadurch bedingten Geschehensablauf nach der Lebenserfahrung nicht zu rechnen war (RS0022575; RS0022590; RS0022621).
[12] 4. Die Frage, ob die in § 334 Abs 1 ASVG geforderte grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist stets nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu lösen (RS0026555; RS0085228). Richtig ist, dass nicht jede Übertretung einer Unfallverhütungsvorschrift grobe Fahrlässigkeit bedeutet (RS0031083; RS0052197). Eine Mehrzahl jeweils für sich allein nicht grob fahrlässiger Fehlhandlungen kann aber grobe Fahrlässigkeit begründen, wenn diese in ihrer Gesamtheit als den Regelfall weit übersteigende Sorglosigkeit anzusehen sind (RS0030372). Bei der Beurteilung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes kommt es insbesondere auch auf die Gefährlichkeit der Situation an (RS0022698). Angesichts der hier vorliegenden Gleichgültigkeit gegenüber Arbeitnehmerschutzvorschriften in Verbindung mit der besonderen Gefährlichkeit von Abbrucharbeiten ist in der Annahme grober Fahrlässigkeit keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung zu erkennen (siehe RS0030652; RS0085362).
[13] 5. Die außerordentliche Revision ist daher mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.
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