European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0080OB00007.14H.0324.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
Die Ehe der Eltern ist geschieden, zuletzt kam der Mutter die alleinige Obsorge für die im Entscheidungszeitpunkt erster Instanz 4½ jährige Tochter zu. Der Vater lebt im Ausland.
Die Mutter leidet an einer psychiatrischen Erkrankung in Form einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und desorganisierten Zügen sowie einer aktuellen hypomanischen Befindlichkeit mit Größenideen, Antriebssteigerung und Ideenflucht sowie mangelnder Realitätsverarbeitung. Die Denkstörungen und die paranoide Realitätsverarbeitung schränken die Fähigkeit der Mutter ein, dem Kind als stabile Vertrauensperson zu dienen und ihm grundlegende Lernchancen zu eröffnen. Durch ihre Erkrankung, die sie nicht einsieht, ist die Mutter mit sich selbst beschäftigt, überfordert, und glaubt an politische Verfolgungen und Machenschaften gegen ihre Person. Die Bedürfnisse des Kindes sind ihr dadurch zunehmend nachrangig.
Im Kindergarten fiel sie durch häufiges Zuspätkommen und verspätetes Abholen der Tochter auf. Sie vermochte das Kind weder regelmäßig mit einer Jause, noch mit ausreichender Wechselkleidung zu versorgen. Die Mutter erkennt zwar, dass sie mit der Versorgung des Kindes überfordert ist, sie ist aber nicht krankheitseinsichtig und spricht davon, mit dem Kind in die USA auswandern zu wollen.
Seit Dezember 2012 wohnt das Kind mit Zustimmung der Mutter bei der mütterlichen Großmutter, bei der es sich wohlfühlt und die auch in Zukunft zur Betreuung bereit ist. Der Vater und der Jugendwohlfahrtsträger befürworten die Fortsetzung der Betreuung durch die Großmutter. Zwischen Kindesmutter und Großmutter besteht ein konfliktbeladenes, angespanntes Verhältnis, das Besuchskontakte erschwert.
Mit dem verfahrensgegenständlichen Beschluss entzog das Erstgericht der Mutter die Obsorge und übertrug sie dem antragstellenden Jugendwohlfahrtsträger, weiters traf es eine Besuchsrechtsregelung. Es erachtete das Wohl des Kindes unter Obsorge der Mutter für gefährdet, weil sie der Tochter derzeit aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung nicht als stabile Vertrauensperson dienen könne.
Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung über die Entziehung der Obsorge, hob aber den Beschluss über die Besuchsrechtsregelung zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.
Es vertrat die Rechtsansicht, die getroffenen Feststellungen über einen gestörten Realitätsbezug der Mutter seien im Anlassfall geeignet, die vom Erstgericht gezogenen Schlüsse zu rechtfertigen. Nicht zuletzt gefährde das Vorhaben, mit der Tochter in die USA auszuwandern, das Kindeswohl, weil es dazu der Mutter krankheitsbedingt an der nötigen Vorausschau, Planungsfähigkeit und Zuverlässigkeit mangle.
In ihrem Revisionsrekurs macht die Mutter geltend, die Rechtsansicht des Rekursgerichts finde in den Ergebnissen des Beweisverfahrens und im psychiatrischen Sachverständigengutachten keine Deckung. Die wenigen konkret festgestellten Vorfälle verspäteten Abholens, fehlender Jause oder Ersatzkleidung seien im Alltag alleinerziehender Eltern nicht völlig ungewöhnlich. Bei einem noch nicht in der Schule integrierten Kind sei eine allfällige Auswanderung kein Grund, eine wesentliche Gefährdung seines Wohls zu befürchten. Es sei auch nicht berücksichtigt worden, dass das Kind bereits ohne seinen Vater auskommen müsse und durch eine zusätzliche dauernde Trennung von der Mutter seelisch besonders belastet würde.
Der Jugendwohlfahrtsträger hat im Namen des Kindes eine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die bisherigen Verfahrensergebnisse eine abschließende rechtliche Beurteilung noch nicht zulassen. Er ist daher im Sinne seines Aufhebungsantrags berechtigt.
Die vom Jugendwohlfahrtsträger beantragte Entziehung der Obsorge ist nach § 181 Abs 1 ABGB (§ 176 Abs 1 ABGB idF vor dem KindNamRÄG 2013) zu beurteilen.
Eine solche Maßnahme darf nach ständiger Rechtsprechung nur angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten ist, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab angelegt werden muss (RIS‑Justiz RS0048699; RS0047841). Wegen des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) darf sie nur das letzte Mittel sein und nur soweit angeordnet werden, als das zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist (RIS‑Justiz RS0048712; RS0085168 [T5]; 8 Ob 304/00i; 3 Ob 155/11g; 5 Ob 63/13w; 4 Ob 165/13p). Dass ein Kind in sozialen Einrichtungen oder bei Dritten besser versorgt, betreut oder erzogen würde als bei seinen Eltern, rechtfertigt für sich allein noch keinen Eingriff in die elterliche Obsorge (RIS‑Justiz RS0048704; zuletzt 5 Ob 63/13w; 4 Ob 165/13p).
Das Kindeswohl ist gefährdet, wenn die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind (RIS‑Justiz RS0048633). Ob ein bestimmter Sachverhalt die Entziehung der Obsorge rechtfertigt, ist eine immer aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls zu treffende Ermessensentscheidung; sie kann nur auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage getroffen werden.
Im konkreten Fall reichen die Feststellungen des Erstgerichts für die Annahme einer nicht anders abwendbaren Gefährdung des Kindeswohls noch nicht aus.
Gefährliche Mängel in der physischen Versorgung des Kindes sind dem bisher festgestellten Sachverhalt insofern noch nicht zu entnehmen, als Verspätungen oder das Vergessen von Ersatzwäsche und Jause für den Kindergarten vor allem eine Belastung der dort tätigen Pädagoginnen mit sich bringen, die das Kind mit dem Fehlenden zu versorgen haben. Eine gefährdende Belastung des Kindes durch diese Vorkommnisse geht aus dem Sachverhalt nicht hervor. Ob es auch Versorgungs‑ und Betreuungsdefizite außerhalb der Kindergartenzeiten gegeben hat, ist den Entscheidungen der Vorinstanzen überhaupt nicht konkret zu entnehmen.
Dem Revisionsrekurs muss zugestanden werden, dass das Beweisverfahren zwar eine ernstzunehmende psychische Erkrankung der Mutter mit erheblicher Verhaltensauffälligkeit zutage gebracht hat, das den erstgerichtlichen Feststellungen zugrunde gelegte psychiatrische Sachverständigengutachten aber bezüglich der konkreten Auswirkungen der mütterlichen Erkrankung auf ihre Erziehungsfähigkeit ziemlich verschwommen geblieben ist. Wenn in der zusammenfassenden Beurteilung des Gutachtens, die von den Vorinstanzen übernommen wurde, lediglich ausgeführt wird, dass „die mit dieser Erkrankung verbundenen Symptome der Denkstörungen und paranoiden Realitätsverarbeitung (...) vor allem die für die Erziehungsfähigkeit notwendigen Kriterien der Fähigkeit, dem Kind als stabile Vertrauensperson zu dienen und ihm grundlegende Lernchancen zu eröffnen“ , ist allein damit eine so manifeste Gefährdung des Kindeswohls, dass ihr nur mit der äußersten Maßnahme einer Obsorgeentziehung begegnet werden kann, nicht ausreichend fassbar.
Ob die Erziehungsfähigkeit nur beeinträchtigt ist, aber mit unterstützenden Maßnahmen die Defizite kompensierbar wären, oder von Erziehungsunfähigkeit gesprochen werden muss, geht ebensowenig hervor wie eine konkrete Zukunftsprognose. Der Umstand, dass die Mutter nicht krankheitseinsichtig ist, schließt es nach dem bisherigen Stand der Feststellungen noch nicht aus, dass sie sich wenigstens im Interesse des angestrebten Ausgangs des Obsorgeverfahrens einer Behandlung unterziehen würde. Ob eine Behandlung unter den gegebenen Umständen überhaupt erfolgversprechend sein könnte, kann ohne Ergänzung des Sachverständigengutachtens nicht beurteilt werden.
Dem Revisionsrekurs ist auch beizupflichten, dass bei der Entscheidung über eine Obsorgeentziehung auch die zwangsläufig belastenden Auswirkungen dieser Maßnahme auf das Kindeswohl mit berücksichtigt werden müssen. Das Kind konnte nach der Scheidung seiner Eltern den im Ausland lebenden Vater, zu dem es eine innige Bindung hatte, nur mehr selten sehen. Feststellungen über die Qualität der persönlichen Bindung zwischen Mutter und Kind haben die Vorinstanzen aber nicht getroffen (vgl 4 Ob 165/13p).
Es muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass eine dauerhafte Trennung auch von der Mutter im Einzelfall eine besondere Belastung für das Kind darstellen würde. Eine Obsorgeentziehung kann nur dann angemessen sein, wenn die Nachteile und Gefahren der Aufrechterhaltung der bisherigen Verhältnisse für das Kindeswohl eindeutig jene übersteigen, die mit dem Wechsel notwendigerweise einhergehen.
Soweit eine Gefährdung durch die völlig unausgegorenen Auswanderungsüberlegungen der Mutter angenommen wurde, ist nicht klar hervorgekommen, ob sie nur Phantasiespielereien im Rahmen ihrer psychiatrischen Erkrankung nachhängt, oder aber eine praktische Umsetzung tatsächlich ernsthaft anstrebt.
Aus diesen Gründen sind die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben. Das Erstgericht wird nach Verfahrensergänzung im aufgezeigten Sinn seine neuerliche Entscheidung zu treffen haben.
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