OGH 8Ob149/10k

OGH8Ob149/10k15.7.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling als Vorsitzenden, den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei ***** M***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Andreas Haberl und Dr. Gotthard Huber, Rechtsanwälte in Vöcklabruck, gegen die beklagte Partei L***** s.r.l., *****, Italien, vertreten durch Corazza Laimer Rechtsanwaltspartnerschaft in Innsbruck, wegen 133.640,71 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht vom 8. November 2010, GZ 4 R 167/10x-28, womit der Beschluss des Landesgerichts Wels vom 12. Juli 2010, GZ 4 Cg 55/10w-24, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 4.078,62 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin 679,77 EUR USt) zu bezahlen.

Text

Begründung

Die in Österreich ansässige Klägerin bezog von der Beklagten, die ihren Sitz in Italien hat, Stoffe zur Verarbeitung für Konfektionsbekleidung.

Mit dem Vorbringen, die gelieferten Stoffe seien von mangelhafter Qualität gewesen, sodass die Klägerin berechtigten Reklamationen ihrer Kunden ausgesetzt gewesen sei, begehrt sie in der am 12. 10. 2009 beim Erstgericht eingelangten Klage Schadenersatz und Feststellung der Haftung der Beklagten für allfällige künftige Schäden.

Bereits am 17. 6. 2009, nach Erhalt eines die Schadenersatzforderungen ankündigenden Mahnschreibens der Klagevertreter, hatte die Beklagte ihrerseits beim Landesgericht in Mailand eine auf Feststellung des Nichtbestehens der erhobenen Ansprüche aus fehlerhafter Warenlieferung gerichtete Klage gegen eine „***** M***** GmbH & Co KG“ eingebracht. Diese Klage wurde am 6. 7. 2009 an die ***** M***** GmbH zugestellt, welche sich mit Schriftsatz vom 3. 2. 2010 unter Einwendung mangelnder Passivlegitimation in den Streit einließ, gleichzeitig aber auch ihre Schadenersatzforderung mit Widerklage geltend machte. Über den daraufhin von der Klägerin (hier: Beklagten) gestellten Antrag auf Berichtigung der Parteienbezeichnung auf „***** M***** GmbH“ hat das italienische Gericht noch nicht entschieden.

Die Klägerin ist Rechtsnachfolgerin der „D*****“ ***** M***** GmbH & Co KG (FN *****h), deren Vermögen am 21. 12. 2005 gemäß § 142 HGB an die ***** M***** Holding GmbH (FN *****k) übertragen wurde. Die Gesellschaft wurde infolge dessen aufgelöst und im Firmenbuch am 4. 2. 2006 gelöscht. Aufgrund eines Spaltungs- und Übernahmevertrags vom 21. 12. 2005 übertrug die ***** M***** Holding GmbH ihren aus dem Betrieb der ehemaligen Kommanditgesellschaft samt Geschäftsführung bestehenden Vermögensteil an die nunmehrige Klägerin (FN *****g). Dieser Vorgang wurde am 7. 2. 2006 im Firmenbuch eingetragen.

Die streitgegenständliche Warenlieferung betraf den auf die Klägerin abgespaltenen Betrieb der ehemaligen GmbH & Co KG.

Das Erstgericht erklärte das Verfahren wegen internationaler Streitanhängigkeit nach Art 27 EuGVVO bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die vor dem Landesgericht Mailand anhängige Klage für unterbrochen.

Das Rekursgericht änderte diese Entscheidung mit dem angefochtenen Beschluss dahin ab, dass es die Einrede der Streitanhängigkeit verwarf und die Beklagte zum Ersatz der Kosten des Zwischenstreits verpflichtete.

Die Beklagte habe vor dem italienischen Gericht nicht die Klägerin, sondern ein nicht mehr existierendes Rechtssubjekt als Beklagte bezeichnet. Solange keine Entscheidung über die Berichtigung der Parteienbezeichnung vorliege, sei die Klägerin nicht Partei des italienischen Verfahrens und fehle es an den Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nach Art 27 EuGVVO.

Der von der Klägerin beantwortete Revisionsrekurs der Beklagten ist zulässig, weil das Rekursgericht die Rechtslage verkannt hat (zur Anfechtbarkeit an sich vgl Mayr in Fasching/Konecny² V/1, Art 27 EuGVVO Rz 23 mwN). Er ist dementsprechend auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so hat das später angerufene Gericht gemäß Art 27 EuGVVO das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, hat sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig zu erklären.

Nach dem vorliegenden Sachverhalt ist nicht strittig, dass die in Italien erhobene Feststellungsklage noch vor der beim Erstgericht eingebrachten Klage im Sinn des Art 27 EuGVVO anhängig war (vgl Mayr aaO Rz 4).

2. Der Begriff „desselben Anspruchs“ ist nach der Rechtsprechung des EuGH (Rs C-144/86 [Gubisch/Palumbo] Slg 1987, 4861 = EuGHE 1987, 4861; Rs C-406/92 [Tatry/Maciej Rataj] Slg 1994, I-5439; Rs C-111/01 [Gantner/Basch] wbl 2003/192) nicht nach dem nationalen Prozessrecht, sondern verordnungsautonom nach dem Zweck der Bestimmung auszulegen. Der EuGH postuliert dazu einen weiten Verfahrensgegenstandsbegriff, („Kernpunkttheorie“, vgl Mayr aaO Rz 16 mwN; RIS-Justiz RS0111769; RS0118405). Identität des Klagsanspruchs ist immer schon dann gegeben, wenn Gegenstand und Grundlage der Klagen ident sind.

„Derselbe Gegenstand“ bedeutet nicht, dass die Klagebegehren ident sein müssen. Entscheidend ist, ob es im Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten um dieselbe Frage geht, sodass nach der Logik nur eine einheitliche Entscheidung für beide Parteien möglich ist (Mayr aaO Rz 15). Das Ziel des Art 27 EuGVVO ist die Vermeidung miteinander unvereinbarer Urteile nach dem Unvereinbarkeitsbegriff des Art 34 Abs 3 EuGVVO, und damit eines unauflösbaren Widerspruchs der Entscheidungen (ua 6 Ob 122/09y; Leible in Rauscher, EuZPR², Art 27 Brüssel I-VO Rz 1; vgl auch Rassi in Fasching/Konecny² V/1 Art 34 EuGVVO Rz 65 mwN).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Verfahren zu bejahen. Nach dem wechselseitigen Vorbringen der Streitteile - unbeschadet der Frage, ob das in Italien gestellte Klagebegehren den prozessualen Anforderungen an Bestimmtheit und Schlüssigkeit genügte - ist als unstrittig anzusehen, dass sich beide Klagen auf denselben anspruchsbegründenden Sachverhalt, nämlich mangelhafte Erfüllung eines konkreten Kaufvertrags, und auch auf die selben rechtlichen Grundlagen (vgl 6 Ob 122/09y), nämlich die von der Klägerin aus der Schlechterfüllung abgeleiteten Gewährleistungs- und Schadenersatzansprüche, beziehen. Auf die exakte Formulierung des Klagebegehrens kommt es nicht an (4 Ob 60/05k); der Umstand, dass eine frühere negative Feststellungsklage einer später anhängig gemachten Leistungsklage gegenübersteht, schließt die Streitanhängigkeit nicht aus (RIS-Justiz RS0111768; vgl auch 10 Ob 147/05y mwN).

3. Auch der Begriff „zwischen denselben Parteien“ nach Art 27 EuGVVO ist autonom anhand der dargestellten Zielsetzung des Übereinkommens zu interpretieren, einander widersprechende Gerichtsentscheidungen in verschiedenen Mitgliedstaaten zu verhindern (vgl EuGH C-406/92 [Tatry]). „Dieselbe Partei“ kann nach der Rechtsprechung des EuGH ausnahmsweise auch ein selbst nicht unmittelbar am Verfahren Beteiligter sein, auf den sich die Rechtskraft eines Urteils zwingend erstrecken würde (EuGH Rs C-351/96 [Drouot/CMI]; 6 Ob 64/06i mwN; krit Leible aaO mwN, Rz 6; Mayr aaO Rz 1).

Die Klägerin ist aufgrund der dargestellten Übernahme- und Spaltungsvorgänge kein von der „D*****“ ***** M***** GmbH & Co KG völlig verschiedenes Rechtssubjekt, sondern vielmehr deren Gesamtrechtsnachfolgerin (§ 142 UGB bzw § 1 Abs 2 Z 2 SpaltG; Koppensteiner in Straube, HGB³ § 142 Rz 10; Koppensteiner/Auer in Straube zum UGB [I4] § 142 Rz 8). Da im Verfahren nicht hervorgekommen ist, dass neben der „D*****“ ***** M***** GmbH & Co KG auch noch eine „***** M***** GmbH & Co KG“ existiert oder existiert hat, ist trotz Fehlens des zusätzlichen Firmenbestandteils „D*****“ in der italienischen Klagsschrift unzweifelhaft, welche Kommanditgesellschaft dort gemeint war.

Die Gesamtrechtsnachfolge hatte die prozessrechtliche Konsequenz, dass die aufgelöste Kommanditgesellschaft nicht unter-, sondern in der Übernehmerin aufgegangen ist; aus einem Titel gegen die übernommene Gesellschaft könnte auch gegen die Übernehmerin vollstreckt werden.

4. Angesichts der Wirkungen der Gesamtrechtsnachfolge wäre es mit dem zentralen Regelungszweck der Verordnung, aufwändige parallele Verfahren und divergierende Entscheidungen verschiedener nationaler Gerichte in derselben Sache zu verhindern, nicht vereinbar, den Universalsukzessor einer Verfahrenspartei nicht als „dieselbe“ Partei im Sinn des Art 27 EuGVVO zu behandeln.

Der ausstehenden Entscheidung des italienischen Gerichts über die beantragte Berichtigung der Parteienbezeichnung kommt unter diesen Umständen keine Relevanz für die Prüfung der Voraussetzungen des Art 27 EuGVVO zu. Auch die Rechtskraft einer gegen die Kommanditgesellschaft ergangenen Sachentscheidung würde sich auf die Klägerin als deren Gesamtrechtsnachfolgerin erstrecken. Diese Konsequenz entspricht offenbar auch dem eigenen Verständnis der Klägerin, zumal sie sich in das italienische Verfahren eingelassen hat, anstatt die Annahme der - nach ihrem Standpunkt - ein „nicht existentes Rechtssubjekt“ betreffenden Klage zu verweigern. Durch die vorläufige Maßnahme der bloßen Aussetzung des gegenständlichen Verfahrens besteht auch für den Fall, dass das Landesgericht Mailand eine Richtigstellung der Parteienbezeichnung nicht bewilligt und keine Sachentscheidung fällt, nicht die Gefahr eines negativen Kompetenzkonflikts.

Die Aussetzung des Verfahrens nach Art 27 EuGVVO darf auch nicht von einer Prüfung der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts abhängig gemacht werden, und zwar selbst dann nicht, wenn der von der Klägerin behauptete Verdacht bestünde, dass sich die Beklagte mit ihrem Zuvorkommen einen ungerechtfertigten Standortvorteil verschaffen wollte („Torpedoklage“, EuGH Rs C-116/02 [Gasser/MISAT]; Leible aaO Rz 18 mwN).

In Stattgebung des Rekurses war daher die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

In Bezug auf das erstinstanzliche Zwischenverfahren hat es bei dem unbekämpft gebliebenen Kostenvorbehalt zu bleiben. Eine Grundlage für die begehrte Zuerkennung von gesonderten Kosten nach TP1 RATG für die Vorlage eines Rechtsmittelschriftsatzes als Pdf-Datei im Wege des ERV besteht nicht.

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