OGH 7Ob186/06p

OGH7Ob186/06p13.9.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Hedwig R*****, vertreten durch die Bewohnervertreterin Edith Z*****, diese vertreten durch Dr. Friedrich Schwarzinger und Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwälte in Wels, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin gegen den Beschluss des Landesgerichtes Linz als Rekursgericht vom 31. Mai 2006, GZ 15 R 216/06z-10, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichtes Urfahr-Umgebung vom 6. April 2006, GZ 8 Ha 2/06x-4, infolge Rekurses der Bewohnervertreterin bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Hedwig R***** (im Folgenden Bewohnerin genannt) lebt in einem Pensionistenheim, einer Einrichtung im Sinne des § 2 Abs 1 HeimAufG. Sie leidet an fortgeschrittener Altersdemenz. Ihre höheren kognitiven Leistungen sind hochgradig eingeschränkt und sie ist nicht mehr in der Lage, ihre Bedürfnisse im vollen Ausmaß zu artikulieren und durchzusetzen. Bei Bedarf, etwa wenn sie versucht, eine [zur Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr erforderliche] PEG-Sonde zu entfernen, wird ihr - höchstens einmal im Monat - das sedierende Medikament Psychopax verabreicht. Unstrittig ist, dass die Bewohnervertreterin von dieser ärztlich angeordneten Maßnahme entgegen § 7 Abs 2 HeimAufG nicht verständigt wurde. Auf Antrag der Bewohnervertreterin erklärte das Erstgericht die freiheitsbeschränkende Maßnahme des nächtlichen Anbringens von Seitengittern „am Bett der Bewohnerin für unzulässig. Diese Entscheidung blieb unbekämpft und ist in Rechtskraft erwachsen. Den weiteren - noch verfahrensgegenständlichen - Antrag der Bewohnervertreterin auf Überprüfung der Zulässigkeit der Verabreichung von Psychopax wies es ab. Da Psychopax nur bei konkretem Bedarf und zu therapeutischen Zwecken verabreicht werde, stelle dies keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG dar. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es führte im Wesentlichen aus, dass zwar für Freiheitsbeschränkungen auch medikamentöse Mittel in Frage kämen. Von einer Freiheitsbeschränkung könne aber nicht bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen gesprochen werden, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele mitunter ergäben. Der die Bewohnerin behandelnde Arzt Dr. S***** habe bereits in der Verhandlung am 6. 4. 2006 angegeben, dass Psychopax nur zu therapeutischen Zwecken verabreicht worden sei, um zu verhindern, dass die Bewohnerin im Wundbereich der PEG-Sonde „nestle" und Infektionen an der Wundstelle einträten bzw um zu erreichen, dass die schon im Mai 2005 eingetretenen Infektionen im Bereich des Stomas schneller abheilten. Auch aus der vorliegenden Dokumentation über die Gabe des Medikamentes Psychopax ergebe sich, dass mit diesem Medikament „keine unmittelbare Unterbindung des Bewegungsdranges", sondern ein „anderes zeitlich begrenztes therapeutisches Ziel", nämlich die rasche Heilung der infizierten Wunde verfolgt worden sei, um die künstliche Ernährung der Bewohnerin sicherstellen zu können. Gerade einen solchen Fall habe der Gesetzgeber durch beispielsweise Anführung in den ErlBem der RV nicht als Freiheitsbeschränkung im Sinne des HeimAufG bewerten wollen. Entgegen der Meinung der Bewohnervertreterin sei der durch die ärztlich angeordnete Gabe von Psychopax angestrebte therapeutische Effekt auch eingetreten. Eine Freiheitsbeschränkung nach § 3 HeimAufG durch die Gabe von Psychopax sei demnach zu verneinen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Da die Entscheidung von den besonderen Umständen des Falles abhänge und es sich an der eindeutigen Gesetzeslage und den Gesetzesmaterialien orientieren habe können, sei eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zu lösen gewesen. In ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs macht die Bewohnervertreterin Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, die vorinstanzlichen Entscheidungen dahin abzuändern, dass die medikamentöse Freiheitsbeschränkung der Bewohnerin für unzulässig erklärt werde. In eventu möge der zweitinstanzliche Beschluss zur Gänze und der erstinstanzliche Beschluss in seinem abweislichen Teil aufgehoben und die Sache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen werden. Der außerordentliche Revisionsrekurs ist entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichtes, an den der Oberste Gerichtshof gemäß § 71 Abs 1 AußStrG nicht gebunden ist, zulässig, weil einschlägige oberstgerichtliche Judikatur zum Heimaufenthaltsgesetz, insbesondere zur Frage einer Freiheitsbeschränkung durch Medikamente, fehlt. Das Rechtsmittel der Bewohnervertreterin ist im Sinne des Aufhebungsantrages auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Vorweg ist zu bemerken, dass der Revisionsrekurs ein einseitiges Rechtsmittel darstellt. Nach § 16 Abs 3 HeimAufG ist die Zweiseitigkeit des Rekurses und des Revisionsrekurses lediglich für den Fall vorgesehen, dass der Beschluss, mit dem die Freiheitsbeschränkung für unzulässig erklärt wird, vom Leiter der Einrichtung bekämpft wird. Dem Leiter der Einrichtung in einem Fall wie dem vorliegenden ein Rechtsmittelbeantwortungsrecht und damit ein weiteres „Recht auf Gehör" einzuräumen, ist nicht geboten, weil das Verfahren zur Überprüfung von Freiheitsentziehungen nicht dem Art 6 EMRK unterliegt (Barth/Engel, Heimrecht, § 16 HeimAufG Anm 11 mwN). Die Revisionsrekurswerberin macht daher grundsätzlich zu Recht geltend, dass die vom Anstaltsleiter erstattete Rekursbeantwortung unzulässig war. Eine Differenzierung je nachdem, ob die Zulässigerklärung einer Freiheitsbeschränkung oder - wie hier - die Abweisung eines Überprüfungsantrages mit Rekurs bekämpft wurde, kommt nicht in Betracht, weil beide Formulierungen sinngemäß dasselbe, nämlich die Zulässigkeit der getroffenen Maßnahme, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, bedeuten. In beiden Fällen ist dem Leiter der Einrichtung keine Befugnis zur Rekursbeantwortung eingeräumt. Mit der Rekursbeantwortung des Leiters wurde im Wesentlichen lediglich eine Stellungnahme des die Gabe von Psychopax an die Bewohnerin anordnenden Arztes vorgelegt. Darin wird ausgeführt, dass diese Medikation deshalb angeordnet worden sei, weil es bei der Bewohnerin zu einer Wundinfektion gekommen sei, wobei die Bewohnerin immer wieder den Verband entfernt und an der infizierten Wunde genestelt habe. Es sei zu einer verzögerten Wundheilung gekommen und es habe die hochgradige Gefahr bestanden, dass sich die Bewohnerin auch die Nahrungssonde herausziehen könnte. Deshalb habe er, der Arzt, die Verabreichung von Psychopax als „Bedarfsmedikation" (falls es wieder zu einer Irritation durch den Verband im Bereich der Sonde komme) angeordnet. Dass die Bewohnerin Psychopax nur in Fällen bekommen habe, wenn sie so unruhig gewesen sei, dass sie an der PEG-Sonde genestelt habe und dass dies mit einer hohen Infektionsgefahr verbunden gewesen sei, wurde allerdings bereits in der Tagsatzung am 6. 4. 2006 erörtert. Schon weil die Stellungnahme des behandelnden Arztes entgegen der Ansicht der Revisionsrekurswerberin daher keine Neuerung darstellt, kann darin, dass der Bewohnervertreterin nicht Gelegenheit gegeben wurde, dazu Stellung zu nehmen, keine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegen. Der in diesem Zusammenhang von der Revisionsrekurswerberin behauptete Nichtigkeitsgrund ist daher nicht gegeben.

In ihrer Rechtsrüge macht die Revisionsrekurswerberin im Wesentlichen geltend, Psychopax habe offensichtlich keine unmittelbare wundheilende, sondern bloß eine sedierende Wirkung. Die bewegungsdämpfende Wirkung des Mittels sei geradezu beabsichtigt gewesen, um in weiterer Folge den therapeutischen Zweck der Wundheilung zu begünstigen. Wenn das Rekursgericht vermeine, dass die mit der Verabreichung eines sedierenden Medikamentes verbundene Verfolgung eines therapeutischen Zieles eine Freiheitsbeschränkung ausschließe, so verkenne es die Absicht des Gesetzgebers, sämtliche Fälle, in denen durch Medikamente eine unmittelbare bewegungsdämpfende Wirkung hervorgerufen werde und eine solche auch beabsichtigt sei, dem Regime des HeimAufG zu unterwerfen. Falls der Oberste Gerichtshof die Feststellungen zur sedierenden Wirkung des Medikamentes als nicht ausreichend betrachte, werde ein sekundärer Verfahrensmangel geltend gemacht, der durch ein ergänzendes Gutachten behoben hätte werden müssen.

Diese Ausführungen sind insofern berechtigt, als die Vorinstanzen den Hinweis in den Gesetzesmaterialien (ErlBem RV 353 22. GP) - wonach von einer Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur dann gesprochen werden könne, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdranges bezwecke, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele mitunter ergeben könnten - missverstanden haben. Es kann nämlich kein Zweifel daran bestehen, dass nach den ErlBem eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur dann von vornherein ausgeschlossen sein soll, wenn die Sedierung des Bewohners eine bloße Nebenwirkung des betreffenden Medikamentes darstellt. Ist das Medikament hingegen ein (reines) Sedativum, mit dem also unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdranges erreicht werden soll, kann von einer Nebenwirkung im Sinne der ErlBem keine Rede sein (vgl auch Barth/Engel aaO § 3 Anm 7).

Ob nun Psychopax ein solches Sedativum darstellt oder etwa in erster Linie ein Wundheilmittel ist, lässt sich auf Grund der Feststellungen der Vorinstanzen allerdings nicht verlässlich beurteilen. Zwar spricht nach dem Akteninhalt vieles dafür, dass Psychopax vor allem die Unterbindung des Bewegungsdranges des Patienten bezweckt; letztlich ist diese Frage aber unerörtert geblieben und kann vom Obersten Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, nicht geklärt werden. Es liegt daher ein für die rechtliche Beurteilung wesentlicher Feststellungsmangel vor. Der Frage, ob Psychopax (nur) ein Sedativum ist, kommt aus folgenden Erwägungen Entscheidungsrelevanz zu:

Auch wenn man im vorliegenden Fall wohl unterstellen kann, dass die Gabe von Psychopax im Sinne des § 4 Abs 2 HeimAufG zur Abwehr einer erheblichen Gefährdung der Bewohnerin materiell gerechtfertigt war bzw ist, wäre sie mangels Verständigung der Bewohnervertreterin gemäß § 7 Abs 2 HeimAufG (bis zu deren Kenntnis von der Maßnahme) unzulässig gewesen. Zutreffend wurde bereits in vorinstanzlicher Judikatur darauf hingewiesen, dass durch die Verständigung dem Bewohnervertreter eine Prüfung ermöglicht werden soll, ob die materiellen Voraussetzungen der Freiheitsbeschränkung gegeben sind. Wollte man das Unterlassen dieser Verständigung, die im HeimAufG ausdrücklich unter dem Abschnitt „Voraussetzungen einer Freiheitsbeschränkung" angeführt ist und die auf einem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht des Bewohners beruht (Kopetzki in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 4, 5 PersFrG Rz 50), nur als Verstoß gegen eine bloße Ordnungsvorschrift auffassen, bestünde die Gefahr, dass diese für eine effiziente Kontrolle so wichtige Verpflichtung nicht ausreichend beachtet würde (vgl LGZ Wien FamZ 39/06).

Wie in der eben genannten Entscheidung weiter zutreffend ausgeführt wird, dauert die Unzulässigkeit wegen Unterlassung der Verständigung gemäß § 7 Abs 2 HeimAufG allerdings nur bis zu jenem Zeitpunkt, in welchem der Bewohnervertreter tatsächlich Kenntnis von der angeordneten Freiheitsbeschränkung erlangt hat, weil die (nochmalige) Verständigung sonst ein unnötiger Formalismus hinsichtlich einer sachlich vielleicht dringend erforderlichen Maßnahme wäre. Ab Kenntnis des Bewohnervertreters von der Freiheitsbeschränkung ist die Unterlassung der Verständigung gemäß § 7 Abs 2 HeimAufG daher saniert, sodass die vorangegangene Unzulässigkeit der Freiheitsbeschränkung der Zulässigkeit hinsichtlich nachfolgender Zeiträume nicht entgegensteht.

Dass eine freiheitsbeschränkende Maßnahme nach Kenntnis durch den Bewohnervertreter allenfalls zulässig wird, ändert allerdings nichts an der Verpflichtung der Gerichte, freiheitsbeschränkende Maßnahmen auch noch nachträglich zu überprüfen. Dies erscheint im Hinblick darauf, dass die Einschränkung der persönlichen Freiheit einen Eingriff in ein Grundrecht darstellt, geboten; ansonsten würde die rechtzeitige Aufhebung unzulässiger Freiheitsentziehungen ja jede gerichtliche Überprüfung vereiteln. Auch nach der einhelligen Rechtsprechung zum UbG können bereits beendete Maßnahmen einer Überprüfung unterzogen werden. Dass der Gesetzgeber auch schon beendete Freiheitsbeschränkungen für überprüfungswürdig erachtet, ergibt sich etwa aus § 15 Abs 4 HeimAufG, wonach ein Beschluss über die Aufhebung einer Freiheitsbeschränkung binnen sieben Tagen schriftlich auszufertigen ist, wenn die Freiheitsbeschränkung noch andauert (vgl LGZ Wien FamZ 13/06).

Zur demnach - auch nachträglich - erforderlichen Überprüfung der Medikation mit Psychopax wird das Erstgericht daher durch entsprechende Verbreiterung der Sachverhaltsbasis im aufgezeigten Sinn - therapeutischer Anwendungsbereich, Zusammensetzng (Wirkstoffkomponenten) und Wirkungsweise des Medikaments - zu klären haben, damit beurteilt werden kann, ob die Gabe von Psychopax eine (mangels Verständigung der Bewohnervertreterin gemäß § 7 Abs 2 HeimAufG unzulässige) freiheitsbeschränkende Maßnahme war oder nicht. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

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