European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00180.23F.1122.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision und dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kostenentscheidung wird bis zur Rechtskraft des Urteils vorbehalten.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin hat beim beklagten Versicherer eine Haushaltsversicherung (ua gegen Einbruchdiebstahl) für ihr Haus abgeschlossen. Dem Versicherungsvertrag liegen die *Bedingungen für die * Wohnungsversicherung Deckungsvariante „Optimal“ ZGWO Fassung 05/2014 (in Hinkunft AVB) zugrunde. Diese lauten auszugsweise:
„ Welche Sicherheitsmaßnahmen sind zu treffen? – Artikel 4
‑Wird die Wohnung von allen Personen verlassen, ist sie zu versperren und die vereinbarten Sicherungen anzuwenden
....
Bei Verletzung dieser Sicherheitsvorschriften kommen die in Artikel 3 ABS angeführten Rechtsfolgen zur Anwendung, das bedeutet, dass die Verletzung dieser Sicherheitsvorschriften zur Leistungsfreiheit des Versicherers führen kann.“
[2] Der Eingangsbereich zur Liegenschaft befindet sich direkt an einer stark befahrenen Straße. Das Haus ist in sogenannter geschlossener Bauweise errichtet, ein Betreten ist von der Straße nur durch dieses Eingangstor möglich. Es ist mit einer Gegensprechanlage ausgestattet. Der Gehflügel des Eingangstors ist innen mit einer Klinke, außen mit einem starren Knauf ausgestaltet.
[3] Durch das Eingangstor gelangt man in eine Einfahrt, die an der der Straße abgewandten Seite durch ein weiteres (verschließbares) Tor zum Gartenbereich führt. Im Bereich der Einfahrt folgt rechts eine Treppe zu einer versperrbaren Tür. Danach befindet sich ein Stiegenhaus. Im Erdgeschoss gelangt man durch eine weitere verschließbare Tür in den ebenerdigen Wohnbereich, der ausschließlich von der – mitversicherten – Mutter der Klägerin benutzt wird. Über die Treppe kommt man zur Wohneinheit im I. Stock, die nur von der Klägerin bewohnt wird. Auch diese ist vom Stiegenhaus durch eine versperrbare Tür abgetrennt.
[4] Zum Zeitpunkt des Einbruchs befand sich die Mutter der Klägerin nicht auf der Liegenschaft. Die Klägerin war im Garten, wo sie einige Meter hinter dem gartenseitigen Tor der Einfahrt Gartenarbeiten verrichtete. Das Eingangstor war in die Falle gezogen, und zwar bei geschlossener Verriegelung („Schnapperl zu“). Die Tür im Bereich der Einfahrt, die zum Stiegenhaus führt, war ebenso unversperrt wiedie Türen zu den jeweiligen Wohnbereichen.
[5] Der Täter oder ein Komplize öffnete dasgeschlossene aber nicht versperrte Eingangstor durch das Einbringen eines speziellen Werkzeugs zwischen dem Türblatt und dem Türstock bzw dem Stehflügel, um die Falle in den Schlosskasten zu drücken. Die Täter gelangten sodann durch die Tür ins Stiegenhaus und von dort in den Wohnbereich der Mutter. Aus einer unversperrten Kommode in ihrem Schlafzimmer wurden – von der im Garten befindlichen Klägerin unbemerkt – Gegenstände entwendet.
[6] Die Klägerin begehrte zuletzt die Zahlung von 41.200 EUR samt Zinsen an restlicher Versicherungsleistung (abzüglich einer bereits erhaltenen Zahlung von 750 EUR) für diverse beim Einbruchsdiebstahl vom 14. 7. 2020 abhanden gekommene – konkret bezeichnete – Gegenstände. Das nur mit Schlüssel (außen starrer Türknauf) öffenbare Eingangstor sei gewaltsam oder durch Hilfsmittel überwunden worden. Eine Versperr-Obliegenheit habe nicht bestanden, weil diese bei einem Objekt der vorliegenden Art ein Verlassen der Liegenschaft voraussetze; die Klägerin habe sich aber im Garten des versicherten Objektes aufgehalten und dieses somit nicht ungeschützt zurückgelassen.
[7] Die Beklagte bestritt den Versicherungsfall eines Einbruchsdiebstahls, weil sich das Eingangstor ohne Gewaltanwendung mit sanftem Druck habe öffnen lassen. Der somit nur einfache Diebstahl begrenze ihre Leistungspflicht für Bargeld und Schmuck mit 750 EUR sowie für den sonstigen Wohnungsinhalt mit 7.500 EUR. Ihre Leistungsfreiheit folge aus dem jeweiligen Verlassen der Wohnungen, ohne sie im Sinn von Artikel 4 AVB zu versperren, und der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sinn des § 61 VersVG.
[8] Das Erstgericht verhielt die Beklagte zur Zahlung von 7.500 EUR samt 4 % Zinsen seit 25. 11. 2022. Das Mehrbegehren auf Zahlung weiterer 32.700 EUR samt 4 % Zinsen seit 17. 4. 2021 sowie das Zinsenmehrbegehren auf Zahlung von 4 % Zinsen aus 7.500 EUR vom 17. 4. 2021 bis 24. 11. 2022 wies es ab. Die Kostenentscheidung behielt es bis zur Rechtskraft des Urteils vor. Es bejahte im Hinblick auf die festgestellte geschlossene Fallenverriegelung einen Einbruch im Sinn der Versicherungsbedingungen. Jedoch folge die Leistungsfreiheit der Beklagten für das versicherte Risiko Einbruchsdiebstahl aus der Obliegenheitsverletzung des Artikel 4 AVB. Danach sei die Wohnung zu versperren, wenn sie von allen Personen verlassen werde. Dies sei der Fall, habe sich die Klägerin doch im Garten und nicht im Wohnbereich aufgehalten. Die Obliegenheit gelte für das ebenfalls versicherte Risiko „einfacher Diebstahl“ nicht, in dem dafür begrenzten Umfang bestehe daher die Leistungsfrist der Beklagten. Der Zinsenanspruch bestehe erst ab Erhebung des Leistungsbegehrens.
[9] Über Berufung der Klägerin änderte das Berufungsgericht das angefochtene Urteil dahin ab, dass es die Beklagte – unter Einbeziehung der in Rechtskraft erwachsenen Teile – zur Zahlung von 9.350 EUR samt 4 % Zinsen seit 25. 11. 2022 verpflichtete und das Zinsenmehrbegehren auf 4 % Zinsen aus 41.200 EUR vom 17. 4. 2021 bis 24. 11. 2022 abwies. Im Übrigen, sohin in Ansehung des weiteren Begehrens von 31.850 EUR samt 4 % Zinsen seit 25. 11. 2022 hob es das erstgerichtliche Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Die Wohnung im engeren Sinn beginne bereits ab dem Eingangstor. Das „Offensein“ diverser weiterer im Inneren befindlicher Türen (hier: Tür zum Stiegenhaus und die Türen zu den beiden Wohneinheiten) sei nicht relevant. Der verständige Versicherungsnehmer müsse ein „Verlassen“ im Sinne der Klausel nicht bereits auf den baulich umschlossenen Raum beziehen, sondern dürfe darunter ein Entfernen vom Wohnobjekt in seiner Gesamtheit verstehen. Die Obliegenheitsverletzung liege schon deshalb nicht vor, weil ein Verlassen der Wohnung im Sinn der Klausel nicht gegeben gewesen sei. Das „bloße“ Zuziehen von Außentüren bei gleichzeitigem persönlichem Aufenthalt im Bereich des Gartens sei eine übliche Gepflogenheit, die für den Vorwurf eines grob fahrlässigen Herbeiführens des Versicherungsfalles nach § 61 VersVG keinen Raum lasse. Der Höhe nach endgültig geklärt sei bereits der Ersatzanspruch für die um 9.350 EUR wiederbeschaffte Cartier‑Uhr. Mangels Obliegenheitsverletzung komme die vom Erstgericht herangezogene Betragsgrenze von 7.500 EUR nicht zum Tragen, sodass im Umfang der verbleibenden Differenz (1.800 EUR) mit entsprechender Urteilsänderung vorzugehen gewesen sei. Im Übrigen sei aufgrund einer vom Berufungsgericht nicht geteilten Rechtsansicht noch keine ausreichende Feststellungsgrundlage für die verbleibenden Ansprüche geschaffen worden, sodass insoweit mit Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht vorgegangen werden müsse.
[10] Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision und der Rekurs zulässig seien, weil die Frage, obein „Verlassen der Wohnung“ bei einem ländlichen Zweifamilienobjekt schon beim Betreten des Hausgartens vorliege, vom Obersten Gerichtshof bisher noch nicht beurteilt worden sei.
[11] Gegen diese Entscheidung wenden sich die Revision und der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[12] Die Klägerin begehrt, die Rechtsmittel der Beklagten zurückzuweisen; hilfsweise ihnen keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[13] Die Revision und der Rekurs sind zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie sind aber nicht berechtigt.
[14] 1. Nach Art 4 AVB ist eine Wohnung zu versperren, wenn sie von allen Personen verlassen wird. Im Revisions‑ und Rekursverfahren ist daher die Frage zu klären, ob dies beim Betreten des Hausgartens der Fall ist.
[15] 1.1 Nach ständiger Rechtsprechung sind allgemeine Versicherungsbedingungen entsprechend den Grundsätzen der Vertragsauslegung nach den §§ 914, 915 ABGB auszulegen. Die Auslegung hat sich am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren (RS0050063; RS0112256). Die Klauseln sind, wenn sie – wie hier – nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen (RS0008901). Zu berücksichtigen ist in allen Fällen der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Versicherungsbedingung (RS0008901 [T5, T7, T87], RS0050063 [T1, T6]). Bei Unklarheiten findet § 915 ABGB Anwendung. Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).
[16] 1.2 Die Haushaltsversicherung bietet grundsätzlich Versicherungsschutz für die Wohnung in engerem Sinn, also für jene Räume, die der Versicherungsnehmer durch Versperren von der allgemeinen Benutzung ausschließt (RS0081042). Artikel 4 AVB enthält in diesem Zusammenhang eine Obliegenheit, mit dem jedem Versicherungsnehmer erkennbaren Zweck, ein unbefugtes Eindringen unmöglich zu machen oder zumindest erheblich zu erschweren.
[17] 1.3 Art 4 AVB enthält die Wortfolge „Verlassen der Wohnung“.
[18] 1.3.1 Unter Wohnung wird der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer die versicherten Wohnräumlichkeiten verstehen. Diese erfahren ihre Spezifizierung im Versicherungsvertrag.
[19] 1.3.2 Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass die Beklagte laut Police Versicherungsschutz für das Wohnhaus (ebenerdig 178 m² Innenfläche, Keller 64 m² Innenfläche, Stockwerk 129 m² Innenfläche, Mansarde 50 m² Innenfläche, Nebengebäude auf dem Versicherungsgrundstück [nicht für Wohnzwecke geeignet] bis zu einer Gesamtfläche von 35 m²) an der näher angeführten Adresse übernimmt. Versichert sind hier die Innenflächen des Wohnhauses, nicht nurjene der Wohnungen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das Wohnhaus als Mehrgenerationenhaus innerhalb einer Familie unter anderem zwei Wohneinheiten umfasst.
[20] 1.3.3 Die versicherten Wohnräumlichkeiten werden durch das Eingangs‑ und Gartentor von einer allgemeinen Benützung ausgeschlossen. Die Versperrobliegenheit bezieht sich damit auf diese Tore und nicht auf die im Inneren des Wohnhauses befindlichen Türen.
[21] 1.4 Als Verlassen der versicherten Wohnräumlichkeiten wird der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer das Entfernen vom Versicherungsobjekt in seiner Gesamtheit verstehen, also einschließlich der zur Risikoadresse gehörenden üblichen Außenbereiche wie Terrassen, Vor‑ oder Hausgärten. Keinesfalls wird er annehmen, durch einen Aufenthalt in seinem Garten, das Objekt zu verlassen und damit – ohne sämtliche Türen und Fenster zu versperren – unbefugtes Eindringen zu ermöglichen oder zu erleichtern.
[22] 1.5 Die Beurteilung des Berufungsgerichts, vor dem Hintergrund, dass sich die Klägerin im Garten aufhielt, bewirke das unversperrte Eingangstor keine Verletzung der Versperrobliegenheit, ist zutreffend.
[23] 2.1 Der Versicherer ist leistungsfrei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall im Sinn des § 61 VersVG grob fahrlässig herbeigeführt hat. Dabei handelt es sich um einen (verhaltensabhängigen) Risikoausschluss (RS0080128 [T2]).
[24] 2.2 Grobe Fahrlässigkeit im Sinn der zitierten Gesetzesstelle liegt vor, wenn sich das Verhalten des Schädigers aus der Menge der sich auch für den sorgsamsten nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens als eine auffallende Sorglosigkeit heraushebt (RS0031127 [T27]; vgl auch RS0030477; RS0030359). Dabei wird ein Verhalten vorausgesetzt, von dem der Handelnde wusste oder wissen musste, dass es geeignet ist, den Eintritt eines Schadens zu fördern. Die Schadenswahrscheinlichkeit muss offenkundig so groß sein, dass es ohne Weiteres naheliegt, zur Vermeidung eines Schadens ein anderes Verhalten als das tatsächlich geübte in Betracht zu ziehen (RS0030324 [T2]; RS0031127 [T28]; RS0080414 [T3]). Zur Annahme grobe Fahrlässigkeit ist es erforderlich, dass bei Vorliegen eines objektiv groben Verstoßes dem Kläger dies auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RS0030272 [T17, T31]). Als brauchbare Anhaltspunkte, von denen die Beurteilung im Einzelnen abhängen kann, kommen die Gefährlichkeit der Situation, die zu einer Sorgfaltsanpassung führen sollte, der Wert der gefährdeten Interessen, das Interesse des Handelnden an seiner Vorgangsweise und schließlich die persönlichen Fähigkeiten des Handelnden in Betracht (RS0030331). In diesem Sinn ist im Versicherungsvertragsrecht anerkannt, dass grobe Fahrlässigkeit dann gegeben ist, wenn schon einfachste, naheliegende Überlegungen nicht angestellt und Maßnahmen nicht ergriffen werden, die jedermann einleuchten müssen (RS0080371). Eine Reihe jeweils für sich alleine nicht grob fahrlässiger Fehlhandlungen kann in ihrer Gesamtheit grobe Fahrlässigkeit begründen. Voraussetzung ist, dass sie in ihrer Gesamtheit als den Regelfall weit übersteigende Sorglosigkeit anzusehen sind (RS0030372).
[25] 2.3 Die Beurteilung des Berufungsgerichts, das (bloße) Zuziehen von Außentüren bei gleichzeitigem persönlichen Aufenthalt im Garten des versicherten Objekts sei eine ausreichend übliche Gepflogenheit, die dem Vorwurf eines grob fahrlässigen Herbeiführens des Versicherungsfalls nach § 61 VersVG keinen Raum lasse, ist nicht zu beanstanden. Auch der von der Beklagten herangezogene Umstand, wonach die Klägerin sich mehr als 1 Stunde für Arbeiten im Garten aufgehalten habe, die es ihr nicht ermöglicht hätten, den Eingang und die Türen im Blick zu behalten, begründet keine grobe Fahrlässigkeit.
[26] 3. Der Revision und – infolge der vom Berufungsgericht aufgezeigten Ergänzungsbedürftigkeit des erstgerichtlichen Verfahrens – dem Rekurs der Beklagten war damit nicht Folge zu geben. Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 Abs 3 ZPO.
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