European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00142.18K.0424.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, sodass die Entscheidung zu lauten hat:
„Das Klagebegehren, es werde festgestellt, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei aufgrund und im Umfang des zwischen den Parteien abgeschlossenen Haftpflichtversicherungsvertrags zur Polizzen-Nummer ***** für den Schadensfall vom 31. 7. 2016 Deckungsschutz zu gewähren, wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 4.634,28 EUR (darin enthalten 772,38 EUR USt) bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist ferner schuldig, der beklagten Partei die mit 5.192,88 EUR (darin enthalten 436,48 EUR USt und 2.574 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin ist Versicherte eines privaten Haftpflichtversicherungsvertrags, dem die Allgemeinen Haftpflichtversicherungsbedingungen (AHVB) 2012 sowiedie Ergänzenden Haftpflichtversicherungs-bedingungen (EHVB) 2012 zu Grunde liegen.
Art 7 AHVB 2012 lautet:
„ Was ist nicht versichert? (Risikoausschlüsse)
[...]
2. Die Versicherung erstreckt sich nicht auf tatsächliche oder behauptete Schadenersatzverpflichtungen der Personen, die den Schaden, für den sie von einem Dritten verantwortlich gemacht werden, rechtswidrig und vorsätzlich herbeigeführt haben. Dem Vorsatz wird gleichgehalten
2.1. eine Handlung oder Unterlassung, bei welcher der Schadenseintritt mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden musste, jedoch in Kauf genommen wurde [….]“
Art 16 EHVB 2012 lautet wie folgt:
„Privathaftpflicht
1. Die Versicherung erstreckt sich nach Maßgabe des Deckungsumfanges der AHVB auf Schadenersatzverpflichtungen des Versicherungsnehmers als Privatperson aus den Gefahren des täglichen Lebens mit Ausnahme der Gefahr einer betrieblichen, beruflichen oder gewerbsmäßigen Tätigkeit, insbesondere [….]“
Am 31. 7. 2016 gegen 03:00 Uhr trafen die Klägerin und die sich in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand befindliche J***** H***** (idF: Geschädigte) auf dem Gelände eines Dorffestes tätlich aufeinander. In der Folge zog sich die Geschädigte bei einem Sturz eine Fraktur des linken Handgelenks, eine Schürfwunde an der rechten Hand und ein Hämatom am rechten Ellbogen zu.
Mit Schreiben ihres Rechtsvertreters vom 30. 8. 2016 erhob die Geschädigte aus diesem Vorfall Schadenersatzansprüche und forderte von der Klägerin eine Schmerzengeld-Akontozahlung in Höhe von 2.000 EUR.
Die Beklagte lehnte die Deckung ab.
Bei der Staatsanwaltschaft behing ein Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin wegen des Verdachts des Vergehens nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB zum Nachteil der Geschädigten, dem sich diese als Privatbeteiligte angeschlossen hatte. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein. Im Zweifel sei vom Vorliegen einer Notwehrsituation auszugehen; ein Schuld- und Tatnachweis sei nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit zu erbringen. Ein von der Geschädigten gestellter Fortführungsantrag wurde abgewiesen.
Bislang hat die Geschädigte gegen die Klägerin noch keinen Haftpflichtprozess eingeleitet.
Die Klägerin begehrt wie im Spruch ersichtlich. Sie sei von der sehr aggressiven und schwer alkoholisierten Geschädigten bedrängt worden, worauf sie diese mit angemessener Kraft von sich gestoßen habe. Für die Klägerin habe es sich um eine Notwehrsituation gehandelt, sie habe weder mit Misshandlungs- noch mit Schädigungsvorsatz gehandelt. Es habe eine Gefahr des täglichen Lebens vorgelegen, weshalb die Beklagte Deckung zu gewähren habe.
Die Beklagte beantragt die Abweisung der Klage.Es liege kein Versicherungsfall vor, weil sich die Versicherung nach Art 16.1 EHVB 2012 nur auf Schadenersatzverpflichtungen „aus den Gefahren des täglichen Lebens“ erstrecke und auch der Risikoausschluss nach Art 7.2 AHVB 2012 vorliege, weil die Klägerin die schweren Verletzungen der Geschädigten billigend in Kauf genommen habe. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens sei lediglich im Zweifel erfolgt.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es traf Feststellungen zum Vorfall und bewertete ihn als Gefahr des täglichen Lebens. Auch ein vernünftiger Durchschnittsmensch könne durchaus in eine Notwehrsituation geraten, die eine Verletzung des Angreifers nach sich ziehe. Den Risikoausschluss der billigenden Inkaufnahme der schweren Verletzung der Geschädigten nach Art 7.2 AHVB 2012 habe die Beklagte nicht unter Beweis stellen können.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es behandelte die Beweisrügen zum Vorfall nicht. Im Deckungsprozess seien Feststellungen über Tatfragen, die Gegenstand des Haftpflichtprozesses seien, für die Frage der Deckungspflicht unbeachtlich. Soweit sich hier eine „Gefahr des täglichen Lebens“ für die Klägerin verwirklicht habe, sei die Beklagte zur Deckung verpflichtet, soweit es sich allerdings um einen ungerechtfertigten tätlichen Angriff der Klägerin gegenüber der Geschädigten handle, sei mangels Vorliegens einer „Gefahr des täglichen Lebens“ kein Deckungsschutz gegeben. Somit sei die Entscheidung des Erstgerichts, Deckungsschutz für den Schadensfall vom 31. 7. 2016 zu gewähren, nicht zu beanstanden.
Zur Frage, ob im Deckungsprozess der genaue Ablauf der Auseinandersetzung zwischen der Klägerin und der Geschädigten näher zu klären sei, um beurteilen zu können, ob ein Anwendungsfall des Art 16.1 AHVB 2012 („Gefahr des täglichen Lebens“) bzw Ausschließungsgründe nach Art 7.2 oder 7.3 AHVB 2012 vorlägen, sei die ordentliche Revision an den Obersten Gerichtshof zuzulassen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, das Klagebegehren abzuweisen, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.
1. Bei der Beurteilung des Wesens des Anspruchs des Versicherungsnehmers aus der Haftpflichtversicherung sind das Deckungs- und das Haftpflichtverhältnis zu unterscheiden. Der Versicherungsanspruch in der Haftpflichtversicherung ist auf die Befreiung von begründeten und die Abwehr von unbegründeten Haftpflichtansprüchen gerichtet. Unbeschadet dieser beiden Komponenten (Befreiungs- und Rechtsschutzanspruch) handelt es sich um einen einheitlichen Anspruch des Versicherungsnehmers. Er wird in dem Zeitpunkt fällig, in dem der Versicherungsnehmer von einem Dritten auf Schadenersatz wegen eines unter das versicherte Risiko fallenden Ereignisses oder einer sonstigen Eigenschaft in Anspruch genommen wird, unabhängig davon, ob die Haftpflichtforderung begründet ist, weil Versicherungsschutz auch die Abwehr unberechtigter Ansprüche in sich schließt (RS0080384, RS0081228, RS0080013, RS0080086).
Ab der Inanspruchnahme durch den Dritten steht dem Versicherungsnehmer (vorerst nur) ein rechtliches Interesse an der Feststellung des Versicherungsschutzes (der Deckungspflicht) zu, wenn der Versicherer die Deckung ablehnt (vgl RS0038928). Mit der bloßen Ablehnung der Deckung geht allerdings der primär nicht auf eine Geldleistung gerichtete Befreiungsanspruch des Versicherungsnehmers nicht (gleichsam automatisch) in einen Zahlungsanspruch über (7 Ob 145/17z mwN, 7 Ob 224/15i).
2. Der Versicherungsschutz umfasst nicht die Abwehr jeglicher Ansprüche, sondern nur jener, die grundsätzlich von der Deckungspflicht des Versicherers umfasst sind (7 Ob 31/16h, 7 Ob 145/17z). Das Haftpflichtversicherungsrecht ist damit vom Grundsatz der Spezialität der versicherten Gefahr beherrscht, wonach nur für solche Schadensfälle Versicherungsschutz besteht, die sich aus dem im Versicherungsschein (der Versicherungspolizze und ihren Nachträgen) umschriebenen „versicherten Risiko“ ableiten lassen (RS0081038, RS0081015). Der Versicherer haftet nur im Rahmen dieser von ihm übernommenen Gefahr, sohin innerhalb der örtlichen, zeitlichen und sachlichen Grenzen der Gefahrenübernahme (7 Ob 145/17z, 7 Ob 145/13v, 7 Ob 92/15b). Zwar umfasst der Versicherungsschutz in der Haftpflichtversicherung auch die den Umständen nach gebotenen gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten der Feststellung und Abwehr einer von einem Dritten behaupteten Schadenersatzpflicht, aber nur jene Ansprüche betreffend, die grundsätzlich von der Deckungspflicht des Versicherers umfasst sind. Die Kostendeckung für die Anspruchsfeststellung und -abwehr reicht daher nicht weiter als das materiell gedeckte Risiko (RS0132326).
3. Es herrscht das Trennungsprinzip. Die Frage der zivilrechtlichen Haftpflicht des Versicherungsnehmers ist im Haftpflichtprozess zwischen ihm und dem Geschädigten zu klären, während der Befreiungsanspruch des Versicherungsnehmers, wenn er strittig ist, zwischen ihm und dem Versicherer im Deckungsprozess geprüft werden muss (Schauer, Österreichisches Versicherungsrecht, 403). Die Frage, ob der Versicherer Versicherungsschutz zu gewähren hat, ist also von jener zu trennen, ob der Versicherungsnehmer dem Dritten Schadenersatz schuldet (Reisinger in Fenyves/Schauer VersVG § 149 Rz 44 u 47). Im Deckungsprozess sind deshalb Feststellungen über Tatfragen, die Gegenstand des Haftpflichtprozesses sind, für den Haftpflichtprozess nicht bindend, daher überflüssig und, soweit sie getroffen wurden, für die Frage der Deckungspflicht unbeachtlich. Im Deckungsprozess kommt eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung und des Ergebnisses des Haftpflichtprozesses bei Beurteilung der Erfolgsaussichten grundsätzlich nicht in Betracht (7 Ob 164/14i; RS0081927).
4. Einen Sonderfall bilden Tatsachen, die für die Beurteilung sowohl der Berechtigung des Deckungsanspruchs des Versicherungsnehmers als auch dessen Haftung entscheidungsrelevant sind. Zu entscheidungsrelevanten Tatsachen sind im jeweiligen Prozess Feststellungen zu treffen. Im Deckungsprozess ist das Bestehen des Deckungsanspruchs zu prüfen und es bedarf der dafür notwendigen Feststellungen, so etwa zur Beurteilung des Vorliegens der Gefahr des täglichen Lebens (vgl 7 Ob 145/17z = RS0131696).
5. Die Geschädigte machte einen Schmerzengeldanspruch geltend und stützte ihn (unstrittiges Anspruchsschreiben) auf den „Angriff“ der Klägerin und schloss sich dem Strafverfahren gegen die Klägerin wegen des Verdachts des Vergehens nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB, sohin einer Vorsatztat, als Privatbeteiligte an. Der geltend gemachte Anspruch fällt (unstrittig) unter den Risikoausschluss nach Art 7.2 AHVB 2012 und ist damit nicht gedeckt. Die Klägerin meint hingegen, sie habe die Körperverletzung der Geschädigten nicht vorsätzlich zugefügt, es liege daher kein Risikoausschluss vor. Entscheidend ist damit, welcher Sachverhalt der Beurteilung der Deckungspflicht zu Grunde zu legen ist. Gegenstand ist hier ein vorweggenommener Deckungsprozess, das heißt der Versicherungsnehmer begehrt die Feststellung der Deckungspflicht seines Haftpflichtversicherers bevor ein Haftpflichtprozess anhängig ist (vgl 7 Ob 105/18v, 7 Ob 164/14i).
6. In Deutschland wird zum vorweggenommenen Deckungsprozess – soweit ersichtlich überwiegend – vertreten, dass die für die Deckung relevanten Tatsachen ohne Bindung an die Behauptungen des Dritten auf ihr objektives Vorliegen oder Nichtvorliegen zu prüfen sind, wobei die Gefahr besteht, dass der Deckungsanspruch mit nicht korrigierbarer Wirkung abgelehnt wird, auch wenn sich im nachfolgenden Haftpflichtprozess infolge Bindungswirkung etwas Anderes ergeben sollte (vgl Lücke in Prölss/Martin 30 § 100 VVG Rn 17 mwN; Harsdorf‑Gebhardt in Späte/Schimikowski Haftpflichtversicherung² [2015], § 5 AHB Rn 73; Retter in Schwintowski/Brömmelmeyer,§ 100 VVG Rn 75; Baumann in BK § 149 Rn 201, Wussow AHB Kommentar, 1 89). Schneider in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechtshandbuch³ § 24 Rn 144a vertritt, dass dem vorweggenommenen Deckungsprozess der behauptete Anspruch zugrundezulegen ist.
7. Der erkennende Fachsenat vertritt Folgendes:
Grundsätzlich ist nach bisheriger Rechtsprechung der Deckungsanspruch des Haftpflichtversicherten durch das versicherte Risiko spezialisiert und von dem vom Geschädigten erhobenen Anspruch abhängig (7 Ob 145/17z; RS0081015) dh unter Zugrundelegung des vom Geschädigten behaupteten Sachverhalts. Von diesem Grundsatz ist (auch beim vorweggenommenen Deckungsprozess) nicht abzugehen, andernfalls hätte es der Versicherungsnehmer in der Hand durch bloße, dem Anspruch des Geschädigten widersprechende, Behauptungen Deckung zu erlangen. Grundlage für die Prüfung, ob ein gedeckter Versicherungsfall vorliegt, ist daher der geltend gemachte Anspruch ausgehend von den vom Geschädigten behaupteten Sachverhalt. Damit bedarf es im vorliegenden Fall nur der Feststellung, welchen Anspruch der Geschädigte geltend macht und der Prüfung, ob dieser vom Versicherungsvertrag gedeckt ist. Feststellungen zum Tathergang sind entbehrlich, weil nicht entscheidungsrelevant.
Da die Geschädigte ihren Schmerzengeldanspruch auf eine der Klägerin vorgeworfene Vorsatztat stützt, ist die Deckung nach Art 7.2 AHVB 2012 ausgeschlossen. Die Frage der Gefahr des täglichen Lebens ist zwar im Deckungsprozess zu klären und es sind dazu daher auch Feststellungen zu treffen. Darauf kommt es aber hier wegen des Risikoausschlusses nicht an.
8. Sollte in einem späteren Haftpflichtprozess die Geschädigte ihren Anspruch abweichend davon auf fahrlässige Körperverletzung stützen oder wäre dies das Ergebnis des Haftpflichtprozesses, so ist dies als neue (gesonderte) Anspruchserhebung gegenüber dem Haftpflichtversicherten zu werten, die vom Versicherer ohne Bindung an den vorliegenden Deckungsprozess zu prüfen ist. Im vorliegenden Verfahren wird nämlich nur die Deckung des von der Geschädigten erhobenen Anspruchs formal, ohne den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt, geprüft. Ergibt die Prüfung des Lebenssachverhalts im Haftpflichtprozess einen anderen Anspruch, so steht diesem der Ausgang des vorweggenommenen Deckungsprozesses nicht entgegen.
9. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 ZPO, im Rechtsmittelverfahren iVm § 50 Abs 1 ZPO.
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