Spruch:
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung
Die am 9.7.1980 geborene Claudia H*** und die am 16.10.1983 geborene Daniela H*** sind eheliche Kinder des Leopold und der Eva H***. Die Ehe der Eltern wurde mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 18.5.1987 aus dem gleichteiligen Verschulden der Ehegatten geschieden. In dem anläßlich der Scheidung geschlossenen Vergleich vereinbarten die Eltern unter anderem, daß die beiden Kinder in Pflege und Erziehung der Mutter verbleiben, der auch das Recht der gesetzlichen Vertretung und Vermögensverwaltung für die Kinder zukommt. Zugleich wurde eine Besuchsrechtsregelung für den Vater getroffen. Dieser Vergleich wurde mit Beschluß des Erstgerichtes vom 6.8.1987 pflegschaftsbehördlich genehmigt (ON 2). Der Vater beantragte in einer vom Bezirksjugendamt für den
21. Bezirk am 8.1.1988 aufgenommenen Niederschrift die Übertragung der elterlichen Rechte und Pflichten an ihn. Er begründete dies im wesentlichen damit, daß die Lage der Kinder bei der Mutter untragbar sei, weil diese weder für ihre ordentliche Pflege noch für deren Erziehung sorge. Sie bekämen zu Hause kein Frühstück und könnten sich nicht ordentlich waschen. Bis er eine ausreichend große Wohnung gefunden habe, könne er die Tochter Claudia zu sich nehmen und Daniela von seiner Schwester versorgen lassen (ON 10). Aufgrund der schriftlichen Stellungnahme des Bezirksjugendamtes für den 21.Bezirk (ON 6) und nach telefonischer Eihnholung von weiteren Berichten dieses Amtes am 13. und 15.1.1988 (ON 11, 12), aber ohne Anhörung der Mutter, entzog das Erstgericht mit seinem Beschluß vom 15.1.1988 vorläufig die Elternrechte der Mutter und übertrug diese vorläufig an den Vater allein. Zugleich ordnete es den sofortigen Vollzug an.
Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Der Vater hat die Kinder bereits vor der Scheidung größtenteils betreut, weil die Mutter als Serviererin tätig war und häufig erst in der Früh nach Hause kam. Er hat auch stets den Kontakt zur Schule gehalten und sich um die Angelegenheiten der Kinder gekümmert. Nach der Scheidung hielt der Vater zwar das Besuchsrecht in der vereinbarten Form nie ein, der intensive Kontakt zu seinen Töchtern blieb aber aufrecht. Er wurde von der Mutter bis September 1987 des öfteren zur Beaufsichtigung der Kinder herangezogen. Die Mutter arbeitet seit August 1987 als "Buffetier" mit Schichtarbeit. Sie übersiedelte Mitte September 1987 aus fianziellen Schwierigkeiten zu ihrer Schwester in den 18.Bezirk. Im Zeitpunkt der erstgerichtlichen Beschlußfassung wohnte sie jedoch wieder mit beiden Töchtern in der ehemaligen Ehewohnung in der Bubergasse. Es stand aber ihre Delogierung wegen Mietzinsrückstandes am 27.1.1988 bevor. Die Mutter hatte damals noch nicht einmal eine neue Wohnung in Aussicht. Es war ungewiß, wo sie die Kinder unterbringen würde. Die Mutter erklärte jüngst, sie werde mit den Kindern untertauchen oder sich und die Kinder umbringen, sollten diese ihr weggenommen werden. Sie war bereits einmal mit den Kindern einige Tage unbekannten Aufenthaltes und hat mit ihnen im Auto geschlafen. Laut Auskunft des Bezirksjugendamtes für den 21.Bezirk ist die Situation der Kinder bei der Mutter bereits untragbar. Die Kinder wären bei einem weiteren Verbleib gefährdet.
Claudia besucht derzeit die Schule, Daniela wird von der Mutter entgegen dem "Auftrag" des Bezirksjugendamtes nicht in den Kindergarten geschickt.
Der Vater wohnt derzeit noch bei seinem Bruder und kann Claudia zu sich nehmen. Daniela kann er solange bei seiner Schwester unterbringen, bis er eine ausreichende größere Wohnung gefunden hat. Der Vater ist für beide Kinder als wichtige Bezugsperson anzusehen und laut Auskunft des Bezirksjugendamtes für die Kinderbetreuung geeignet. Es konnte nicht "verifiziert" werden, daß er übermäßig dem Alkohol zuspricht.
In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht daraus, daß das Wohl der Kinder im Falle ihres weiteren Verbleibens bei der Mutter gefährdet wäre, zumal sie ohne die verfügte vorläufige Maßnahme ab 27.1.1988 der Obdachlosigkeit preisgegeben wären. Die Mutter könne derzeit den Kindern nicht die erforderliche Pflege und Sicherheit bieten. Auch sei ihre Drohung ernst zu nehmen, daß sie untertauchen oder sich und die Kinder umbringen werde. Vorläufig werde daher durch die verfügte Maßnahme für die Kinder ein geregelter Tagesablauf gesichert. Demgegenüber sei deren vorübergehende räumliche Trennung zu verantworten, weil ihr ein sonstiger Erziehungsnotstand gegenüberstünde.
Das Rekursgericht gab mit dem angefochtenen Beschluß dem aus den Anfechtungsgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobenen Rekurs der Mutter nicht Folge. Es traf aufgrund der zwischenzeitigen Angaben der Hermine H*** vom 19.1.1988 (ON 14) und der Mutter vom 19.1. und 22.1.1988 (ON 15 und 16) sowie der Stellungnahme des Bezirksjugendamtes für den 21.Bezirk vom 18.1.1988 (ON 17), weiters aufgrund der Angaben der mütterlichen Großeltern Kurt und Waltraud E*** vom 29.1.1988 (ON 18), des Befundes und Gutachtens des Psychologischen Dienstes der Magistratsabteilung 11 vom 29.1.1988 (ON 23), der Angaben der Eltern der Kinder vom 5.2.1988 (ON 21) und des Vaters vom 1.3.1988 (ON 25), sowie aufgrund des vom Erstgericht eingeholten Berichtes des Bezirksjugendamtes für den 10.Bezirk vom 16.3.1988 (ON 28) folgende ergänzende Tatsachenfeststellungen:
Sowohl der Vater als auch die Mutter der beiden Mädchen sind derzeit arbeitslos. Auf die Mutter trifft dies nach ihrer eigenen Angabe im Rekurs seit 2.12.1988 (richtig wohl: 1987) zu. Sie wurde am 27.1.1988 aus der früheren Ehewohnung in Wien 21., Bubergasse 2a/5/3, delogiert. Die Wohnung war infolge Strom- und Gasabsperrung im Jänner 1988 nicht mehr beheizbar. Daniela mußte daher an einem nicht mehr feststellbaren Tag im Auto der Mutter schlafen, während Claudia bei Hermine Holzer, einer Freundin der Mutter, nächtigte. Vorher waren die Kinder vorübergehend bei der Schwester der Mutter in Wien 18., untergebracht, hielten sich aber tagsüber und oft bis in die Nachtstunden beim "Schnitzellandstand" auf, wo die Mutter arbeitete. In der Folge nächtigte die Mutter mit den Kindern überwiegend in der stromlosen und unbeheizten früheren Ehewohnung. Nach dem Bericht des Bezirksjugendamtes für den
21. Bezirk gab die Mutter auf die Frage der Sozialarbeiterin, was nun (= nach der bevorstehenden Delogierung) geschehen werde, eine Übersiedlung nach Tirol oder Italien als Ausweg an; sie könne sich auch vorstellen, Prostituierte zu werden oder sich und die Kinder umzubringen (ON 17, AS 53).
Auch der Vater hat derzeit keine eigene Wohnung. Er fand bei seinem Bruder Georg H*** in Wien 10., Troststraße 8-16/4/5/22, vorübergehende Aufnahme. Diese Wohnung ist klein (sie besteht nur aus einem Zimmer, Küche und Nebenräumen: ON 28, AS 83). Seit 16.1.1988 ist dort auch Claudia bei ihrem Vater und Onkel untergebracht (für sie steht ein Klappbett im Wohnraum zur Verfügung: ON 28, AS 83). Daniela wohnt seit 16.1.1988 bei Kurt H***, einem anderen Bruder des Vaters, und dessen Frau Regina (in einer Dreizimmer-Wohnung in Wien 15., Clementinengasse 11-17/3/2/5:
ON 28, AS 84), die selbst drei Kinder (zwei Söhne im Alter von 12 und 8 Jahren und eine Tochter im Alter von 6 Jahren: ON 28, AS 84) haben.
Der Vater war eine wesentliche Bezugsperson der Kinder. Diese werden derzeit von der Mutter besucht und ordnungsgemäß wieder zurückgebracht. Die Eltern schlossen am 5.2.1988 vor dem Erstgericht einen Vergleich über das vorläufige Besuchsrecht der Mutter. Dabei vermittelten die Eltern insgesamt den Eindruck, als hätten sie ihren Ehekonflikt noch immer nicht abgeschlossen. Die Mutter war während der ganzen Verhandlung sehr laut und dem Vater gegenüber gehässig. Sie brüllte ihn wiederholt an und war ihm verbal deutlich überlegen. Gegen Schluß der Verhandlung steigerte sich die Mutter immer mehr in einen Wutanfall hinein, sprang schließlich auf und gab dem Vater eine Ohrfeige, der er nicht mehr ausweichen konnte. Der Vater machte keine Anstalten zur Gegenwehr und war auch im Gegensatz zur Mutter sofort bereit, das Zimmer zur Vermeidung eines weiteren Konfliktes zu verlassen (ON 21, AS 67).
Daniela wirkt derzeit durch ihre Lebensumstände irritiert, wobei aber nicht feststeht, ob dies entweder durch den unmittelbaren Kontakt mit der Mutter (bei Ausübung des Besuchsrechtes) oder durch das Zurückbringen in die Familie ihres Onkels ausgelöst wird. Claudia erscheint nicht beeinträchtigt und ist in der Schule unauffällig geblieben. Der Psychologische Dienst der Magistratsabteilung 11 befürwortet die Unterbringung der Kinder beim Vater in deren Interesse (ON 23, AS 73).
Mit Schriftsatz vom 5.4.1988, eingelangt beim Erstgericht am 6.4.1988, teilte die Mutter mit, daß sie nunmehr eine Wohnung mit "kompletter und funktionierender Einrichtung" in Wien 5., Reinprechtsdorferstraße 49/13, gefunden habe. Gemäß dem in Fotokopie angeschlossenen Untermietvertrag vom 23.3.1988 beginnt das Untermietverhältnis über die Zimmer-Küche-Wohnung am 1.4.1988 und wurde auf die Dauer von zwei Jahren abgeschlossen. Der Untermietvertrag ist jedoch nicht von dem als Vertragspartner genannten Untervermieter (Hauptmieter) Dr. Klaus S*** unterfertigt, sondern vom behördlich konzessionierten Gebäudeverwalter Franz Z*** (ON 32). Das Erstgericht übersandte diesen Schriftsatz dem Rekursgericht im Nachhang zu dem am 28.3.1988 vorgelegten Rekurs.
In rechtlicher Hinsicht folgerte das Gericht zweiter Instanz, die vorläufige Maßnahme des Erstgerichtes sei im Interesse des Kindeswohles gerechtfertigt gewesen. Der weitere Verbleib der Kinder bei der Mutter sei im Hinblick auf die Lebenssituation in der unbeheizten und stromlosen Wohnung und auf die häufigen nächtlichen Arbeitszeiten der Mutter nicht mehr tragbar gewesen. Der endgültige Verlust der Wohnung und schließlich der Verlust des Arbeitsplatzes der Mutter hätten die Verhältnisse gänzlich destabilisiert und die Aggressivität der Mutter noch gesteigert. Deren Erwägung, der Prostitution nachgehen zu wollen, stelle ihre Erziehungseignung weiter in Frage. Demgegenüber bedeute die Übergabe der Kinder an den Vater trotz dessen Arbeitslosigkeit und trotz Fehlens einer eigenen Wohnung eine wesentliche Besserung der Situation der Kinder. Wenn auch die Kinder nunmehr getrennt seien, so könnten doch beide in intakten Familien leben. Damit seien für sie zumindest ein - bei der Mutter nicht mehr gegebener - regelmäßiger Lebensablauf und eine regelmäßige Betreuung möglich. Das Vorbringen der Mutter im Schriftsatz vom 5.4.1988 sei für eine Rückführung der Kinder an sie noch nicht ausreichend, weil die Betreuungsmöglichkeiten noch geprüft werden müßten. Die Mutter könne sich den Kindern danach nur für die Dauer ihrer - allenfalls beschränkten - Arbeitslosigkeit ausreichend widmen.
Rechtliche Beurteilung
Der gegen diese Entscheidung des Rekursgerichtes aus den Anfechtungsgründen der offenbaren Gesetzwidrigkeit und der Nullität erhobene außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist im Sinne des § 16 Abs1 AußStrG unzulässig.
Als Nichtigkeit macht die Mutter geltend, es sei ihr durch die Nichtbeachtung ihres Vorbringens im Schriftsatz vom 5.4.1988 das rechtliche Gehör entzogen worden. Im übrigen sei die angefochtene Entscheidung offenbar gesetzwidrig, weil sie das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtigt habe. Dem ist jedoch folgendes entgegenzuhalten:
Im Rahmen des § 176 ABGB können auch vorläufige Maßnahmen als Provisorium bis zur endgültigen Entscheidung getroffen werden (Pichler in Rummel, ABGB, Rz 8 zu § 176), falls dies im Einzelfall zur Beseitigung einer akuten Gefährdung der Kinder geboten ist. Daraus folgt, daß im Falle der Gefährdung der Kinder eine solche vorläufige Maßnahme auch ohne Anhörung der Parteien und vor Abschluß sämtlicher Erhebungen getroffen werden kann. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Verfahren außer Streitsachen wird durchbrochen, wenn das Gericht - wie hier - eine dringende Verfügung mit lediglich provisorischem Charakter trifft (EFSlg38.428, 43.349 u. a.). Da das Kindeswohl eine ihrem Wesen nach eine einstweilige Verfügung darstellende vorläufige Anordnung über den Aufenthalt von Kindern in aller Regel nur dann notwendig und zulässig macht, wenn - abgesehen von der Gefahr der Verbringung ins Ausland, sofern dadurch unabänderlich eine nachteilige Erziehungssituation geschaffen werden kann (EFSlg45.901 u.a.) - die Belassung von Kindern in ihrer bisherigen Umgebung eine derart offenkundige Gefährdung ihres Wohles mit sich brächte, daß eine Sofortmaßnahme durch eine Änderung des bestehenden Zustandes dringend geboten erscheint (ÖA 1988, 23), kann die Nichtbeachtung von Neuerungen, die sich auf eine Änderung des Zustandes nach Erlassung der vorläufigen Maßnahme beziehen, nur dann einen Verfahrensmangel vom Gewicht einer Nullität begründen, wenn damit eine akute Gefährdung des Kindeswohles durch den im Wege der einstweiligen Verfügung geschaffenen Zustand selbst aufgezeigt würde. Mit ihrem Schriftsatz vom 5.4.1988 hat aber die Rechtsmittelwerberin lediglich behauptet, es sei einer der maßgeblichen Gründe für die angeordnete vorläufige Maßnahme weggefallen, weil sie nunmehr eine eigene Untermietwohnung angemietet habe. Wenn daher das Rekursgericht darauf nicht näher eingegangen ist, weil davon nicht die seinerzeitige Berechtigung der vorläufigen Anordnung berührt wird, sondern lediglich ein Umstand, der bei der endgültigen Entscheidung über den Antrag des Vaters gemäß § 176 Abs1 ABGB zu prüfen und allenfalls zu berücksichtigen sein werde, so kann darin nach dem bisher Gesagten keine Nichtigkeit erblickt werden.
Nach ständiger Rechtsprechung (SZ 51/136, SZ 53/142 u.a.) dürfen die einem Elternteil zugewiesenen Elternrechte nur dann auf einen anderen übertragen werden, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs1 ABGB vorliegen. So wie auch eine endgültige Entscheidung nach § 176 Abs1 ABGB weitgehend auf Ermessensübung beruht, hängt die Erlassung einer vorläufigen Maßnahme nach dieser Gesetzesstelle gleichermaßen von den Umständen des Einzelfalles ab, so daß darin im Regelfall keine offenbare Gesetzwidrigkeit liegen kann. Die Entscheidung könnte daher mit einem nach § 16 Abs1 AußStrG zu beurteilenden Rechtsmittel nur dann mit Erfolg bekämpft werden, wenn die Vorinstanzen das Wohl der Kinder vollständig außer Acht gelassen hätten und deshalb willkürlich vorgegangen wären (EFSlg44.660; 2 Ob 507/88; 1 Ob 511/88 u.a.). Nach den Verfahrensergebnissen kann von einer solchen Vorgangsweise keine Rede sein. Das Rekursgericht hat vielmehr eingehend erwogen, weshalb die vorläufige Maßnahme zur Hintanhaltung einer akuten physischen und psychischen Gefährdung der Kinder erforderlich war. Gerade weil das Kindeswohl im Vordergrund stand, hatte demgegenüber auch der Grundsatz der Kontinuität der Erziehung und des Vorzuges eines gemeinsamen Aufwachsens von Geschwistern vorübergehend zurückzutreten (vgl EFSlg51.286). Da die Rechtsmittelwerberin somit weder eine offenbare Gesetzwidrigkeit noch eine Nullität der Entscheidung des Rekursgerichtes aufzuzeigen vermochte, war der Revisionsrekurs als unzulässig zurückzuweisen.
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