OGH 6Ob55/21p

OGH6Ob55/21p20.10.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden, die Hofrätinnen und Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny, Dr. Faber und Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und widerbeklagten Partei B*, vertreten durch Dr. Stefan Gloß und andere, Rechtsanwälte in St. Pölten, gegen die beklagte und widerklagende Partei M*, vertreten durch Mag. Werner Tomanek, Rechtsanwalt in Wien, wegen Ehescheidung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 13. Jänner 2021, GZ 23 R 3/21w‑26, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts St. Pölten vom 4. November 2020, GZ 2 C 52/19f, 2 C 74/19s‑19, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:E133462

 

Spruch:

 

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, sodass sie insgesamt zu lauten haben:

1. Die zwischen den Parteien am * geschlossene Ehe wird aus dem gleichteiligen Verschulden geschieden.

2. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 371,50 EUR an Barauslagen bestimmten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

3. Die beklagte Partei ist dem Grunde nach zum Ersatz der halben Pauschalgebühr erster Instanz verpflichtet, von deren Entrichtung die klagende Partei vorläufig befreit ist.

4. Im Übrigen werden die Kosten gegeneinander aufgehoben.

Die beklagte Partei ist dem Grunde nach zum Ersatz der halben Pauschalgebühren im Rechtsmittelverfahren zweiter und dritter Instanz verpflichtet, von deren Entrichtung die klagende Partei vorläufig befreit ist.

Im Übrigen werden die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gegeneinander aufgehoben.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Streitteile waren seit Juli 2013 verheiratet, ihrer Beziehung entstammen zwei Söhne (geboren 2011 und 2014).

[2] Im Juni 2016 verursachte der damals 34-jährige Beklagte auf dem Heimweg von einem Feuerwehrfest in alkoholisiertem Zustand auf regennasser Fahrbahn mit einem Moped, mit dem er keine Fahrpraxis hatte, einen Verkehrsunfall. Er erlitt schwerste Verletzungen an Becken und Wirbelsäule, die zunächst seine Mobilität völlig einschränkten, zu einer langfristigen Impotenz und zu einer dauerhaften Stuhl- und Harninkontinenz führten.

[3] Der Beklagte war sechs Wochen im Krankenhaus und danach monatelang auf Rehabilitation. Die damals 24‑jährige Klägerin besuchte ihn täglich im Spital und regelmäßig in der Reha. Danach pflegte sie ihn zu Hause. Zusätzlich hatte sie ihren schwerkranken Bruder und ihre schwerkranke Mutter zu betreuen. Mit der Zeit war sie durch die Pflege ihrer kranken Familienangehörigen, der alleinigen Haushaltsführung und der überwiegenden Betreuung der beiden Kinder so belastet, dass sie ihre Berufstätigkeit aufgeben musste.

[4] Die Mutter und der Bruder der Klägerin starben 2017 bzw im August 2018. Im Oktober 2018 starb ein Firmpate der Klägerin, im Dezember 2018 beging ihr anderer Firmpate Selbstmord. Die Klägerin litt aufgrund dieser körperlichen und psychischen Belastungen vermehrt an Schlafstörungen. Dennoch unterstützte der Beklagte sie in dieser Zeit überhaupt nicht, sondern forderte auch noch die Mithilfe der Klägerin im Haushalt seiner Herkunftsfamilie ein, dies etwa am Tag nach dem Begräbnis ihrer Mutter.

[5] Bei einer Weihnachtsfeier 2017 tauschte die Klägerin alkoholisiert Zärtlichkeiten mit einem anderen Mann aus. Nach dem Tod ihrer Mutter ging sie wiederholt bis spät in die Nacht aus. Im November 2018 wollte die Klägerin erstmals aus der Ehewohnung ausziehen, nahm aber nach Selbstmorddrohungen des Beklagten davon Abstand.

[6] Ab Anfang Jänner 2019 war dem Beklagten mit medikamentöser Unterstützung wieder Geschlechtsverkehr möglich. Die Klägerin empfand es jedoch als lusttötend, dass der Beklagte davor erst seine Windeln ablegen und duschen musste.

[7] Seit Mai 2019 hatte die Klägerin eine außereheliche Beziehung. Im Juni 2019 zog sie endgültig aus der Ehewohnung aus, weil die Ehe für sie unrettbar verloren war.

[8] DieKlägerin begehrte die Scheidung aus dem Alleinverschulden des Beklagten. Dieser habe den Verkehrsunfall grob fahrlässig herbeigeführt und damit auch das Ende der ehelichen Geschlechtsgemeinschaft als Unfallfolge zu verantworten. Die Betreuung ihres Ehemanns habe sie sowohl psychisch als auch physisch überbeansprucht. Die Ehe sei durch die mangelnde Konfliktfähigkeit des Beklagten schon vor dem Unfall belastet gewesen. Nach dem Unfall hätten sich die Eheleute völlig auseinandergelebt. Die Klägerin habe dem Beklagten deshalb bereits im Sommer 2017 erklärt, dass sie die Ehe für beendet ansehe. Im Juni 2019 sei sie mit den Söhnen ausgezogen. Der Beklagte setze sein selbstgefährdendes Verhalten im Straßenverkehr fort und habe so im Dezember 2019 wegen Alkohol am Steuer seinen Führerschein verloren, sodass er nun nicht mehr mobil sei.

[9] DerBeklagte erhob Widerklage und begehrte die Scheidung aus dem Alleinverschulden der Klägerin. Sie versuche, sich ihrer ehelichen Beistandspflicht zu entziehen, die vor allem die katholische Ehe präge. Die Klägerin habe aufgrund der Todesfälle in ihrer Familie psychische Probleme bekommen und zwei Seitensprünge unternommen. Zwar habe sie dem Beklagten wiederholt mit Scheidung gedroht und schon seit Mitte 2018 eine außereheliche Beziehung geführt, jedoch habe sie erst im Juni 2019 die endgültige Trennung ausgesprochen und sei ohne Zustimmung des Beklagten mit den beiden Kindern ausgezogen.

[10] Das Erstgericht schied die Ehe aus dem überwiegenden Verschulden der Klägerin. Selbst eine grob fahrlässige Selbstschädigung eines Ehepartners sei bei der Scheidung nicht als Verschulden zu werten. Nach dem Unfall sei die Ehe von wechselseitiger Lieb- und Interesselosigkeit gekennzeichnet gewesen. Dem Beklagten sei die unterlassene Unterstützung der Klägerin und seine fehlende Konfliktfähigkeit als Eheverfehlung anzulasten, der Klägerin dagegen deren ehewidrigen Beziehungen und das Verlassen der Ehewohnung.

[11] Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung und ließ die Revision nicht zu. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass aus dem Verkehrsunfall kein Verschulden am Scheitern der Ehe abzuleiten sei. Die Klägerin habe schon vor der Zerrüttung der Ehe außereheliche Beziehungen aufgenommen. Dem Beklagen seien dagegen eine Verletzung der Pflicht zu anständiger Begegnung und mangelndes Verständnis für die Mehrfachbelastung der Klägerin vorzuwerfen.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist zulässig, weil der Verschuldensausspruch der Vorinstanzen korrekturbedürftig ist; sie ist daher auch berechtigt.

[13] 1. Der Ausspruch, dass die Schuld eines Gatten gemäß § 60 Abs 2 EheG überwiegt, ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann zulässig, wenn dessen Verschulden erheblich schwerer ist als das des anderen (RS0057821 [T2]), also das Verschulden des anderen fast völlig in den Hintergrund tritt (RS0057821 [T1]; RS0057858 [T11]). Dabei kommt es nicht allein auf die Schwere der Verfehlung an sich, sondern auch darauf an, in welchem Umfang die Verfehlung zu der schließlich eingetretenen Zerrüttung der Ehe beigetragen hat (RS0057821; RS0057057).

[14] 2. Gemäß § 49 EheG liegt eine schwere Eheverfehlung insbesondere dann vor, wenn ein Ehegatte die Ehe gebrochen hat (vgl auch RS0056538 [T7]). Trotzdem hat auch im Fall eines Ehebruchs eine Verschuldensabwägung stattzufinden (RS0057821 [T3]). Dabei sind alle Umstände zu berücksichtigen und in ihrer Gesamtheit gegenüberzustellen (RS0057303), sodass auch ein Ehebruch nicht immer zum überwiegenden Verschulden des ehebrechenden Teils führen muss (RS0057303 [T5]; RS0057202). Vielmehr kann die Frage der Gewichtung auch eines Ehebruchs beim Schuldausspruch nur nach den Umständen des Einzelfalls gelöst werden (RS0056538 [T9]).

[15] 3.1. Im vorliegenden Fall wurden beide Eheleute bereits in jungen Jahren von schwersten Schicksalsschlägen getroffen. Aus dem Sachverhalt lassen sich jedoch eklatante Unterschiede sowohl im Hinblick auf die Vermeidbarkeit dieser Ereignisse als auch im Hinblick auf die Reaktion des jeweils anderen Ehepartners erkennen.

[16] Der Beklagte führte seine massiven Verletzungen mit schweren Dauerfolgen durch rechtswidriges und grob schuldhaftes Verhalten selbst herbei. Dies traf nicht nur ihn; vielmehr hatte sich seine gesamte Familie mit einer völlig veränderten Lebenssituation zu arrangieren. Dennoch kam die Klägerin nach den Feststellungen ihrer Beistandspflicht aufopferungsvoll nach, und zwar trotz und neben ihrer Sorge für ihre anderen schwerkranken Familienangehörigen und die beiden minderjährigen Kinder der Eheleute.

[17] Dagegen konnte die Klägerin nach dem – von ihr nicht beeinflussbaren – Tod von zwei engsten Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilie sowie ihrer Firmpaten nicht auf den Beistand ihres Ehepartners zählen. Der Beklagte unterstützte sie nach den Feststellungen überhaupt nicht und forderte trotz ihrer enormen körperlichen und psychischen Belastungen zusätzliche Hilfsdienste für seine Herkunftsfamilie ein. Dass die Klägerin – wie alle Menschen – nicht unbegrenzt belastbar ist, wirft er ihr im Scheidungsverfahren sogar noch als Eheverfehlung vor.

[18] 3.2. Vor dem Hintergrund der gehäuften Todesfälle ihrer Vertrauenspersonen und der fehlenden emotionalen Stütze in ihrer Ehe wiegen die Zärtlichkeiten mit einem andern Mann und die außereheliche Beziehung der Klägerin deutlich weniger schwer.

[19] Die Einschätzung der Vorinstanzen, dass die Klägerin ein überwiegendes Verschulden am Scheitern der Ehe treffe – mit anderen Worten: das Verschulden des Beklagten fast völlig in den Hintergrund trete (RS0057821 [T1], RS0057858 [T11]) –, ist daher unzutreffend.

[20] 3.3. Das von der Klägerin behauptete überwiegende Verschulden des Beklagten liegt jedoch ebenfalls nicht vor.

[21] Der Beklagte stand der Klägerin anlässlich der Todesfälle in ihrem Umkreis zwar nicht bei. Nicht außer Acht gelassen werden darf jedoch, dass er sich damals selbst noch in einer sehr belastenden Situation befand, weil er seine durch die Dauerfolgen seines Verkehrsunfalls stark veränderte Lebenssituation erst körperlich und seelisch verwinden musste.

[22] Außerdem war nach den Feststellungen die Ehe aus Sicht der Klägerin erst im Juni 2019 nicht mehr zu retten. Der Beginn ihrer außerehelichen Beziehung im Mai 2019 war daher keine Folge einer bereits durch den Verkehrsunfall des Beklagten oder sein darauf folgendes egoistisches Verhalten ausgelösten Ehezerrüttung.

[23] 3.4. Bei Gegenüberstellung aller Umstände in ihrer Gesamtheit ist somit davon auszugehen, dass die von beiden Eheleuten begangenen Eheverfehlungen sich in ihrer Schwere nicht so deutlich unterscheiden, dass das Verschulden eines von ihnen fast völlig in den Hintergrund treten würde.

[24] Der außerordentlichen Revision der Klägerin war somit Folge zu geben und – in Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen – die Ehe der Streitteile gemäß §§ 49, 60 EheG aus deren gleichteiligem Verschulden zu scheiden.

[25] 4. Deshalb war die Kostenentscheidung für alle Instanzen neu zu fassen. Sie gründet sich auf § 43 Abs 1 iVm § 50 ZPO. Der Ausspruch gleichteiligen Verschuldens führt zur Kostenaufhebung bei den Vertretungskosten (6 Ob 98/20k); die Barauslagen sind nach § 43 Abs 1 letzter Satz iVm § 50 ZPO verhältnismäßig zuzusprechen. Die verfahrensbeholfene Klägerin war in allen Instanzen von der Zahlung der Pauschalgebühr befreit, sodass ein Ausspruch nach § 70 Satz 2 ZPO zu treffen war.

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