European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00051.23B.0517.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
[1] Die Obsorge für den Sohn kommt bisher der Mutter allein, für die älteren Zwillinge den Eltern gemeinsam zu.
[2] Die Mutter beantragte die Übertragung der Obsorge auch für die beiden älteren Kinder allein auf sie. Der Vater möchte dagegen deren gemeinsame Obsorge aufrechterhalten und strebt sie auch für den jüngeren Sohn an.
[3] Das Erstgericht wies die Anträge der Eltern jeweils ab und ließ die bisherigen Obsorgeverhältnisse unverändert.
[4] Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Vaters nicht Folge, änderte aber über den Rekurs der Mutter den Beschluss dahin ab, dass die Obsorge auch hinsichtlich der beiden Mädchen nunmehr alleine der Mutter zukomme. Es hielt die gemeinsame Obsorge für nicht zielführend, wobei es zugrundelegte, dass bei beiden Eltern die erforderliche Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit sowie die entsprechende Bereitschaft der Eltern nicht gegeben seien; eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern fehle und sei in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, und zwar auch nicht nach Einsatz der Mittel des § 107 Abs 3 AußStrG.
Rechtliche Beurteilung
[5] Der dagegen vom Vater erhobene und von der Mutter beantwortete außerordentliche Revisionsrekurs ist, weil er das Fehlen einer ausreichenden Tatsachengrundlage für die Beurteilung der (Teil‑)Übertragung der Obsorge und damit eine erhebliche Rechtsfrage aufzeigen kann, zulässig und im Sinne des in eventu gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt:
[6] 1. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Elternteile setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit zwischen ihnen voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinne des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist also eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob bereits jetzt eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (vgl RS0128812).
[7] 2. Auch wenn zutrifft, dass die Beurteilung, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden oder in absehbarer Zeit mit einer solchen zu rechnen ist (RS0128812), nur nach den Umständen des Einzelfalls erfolgen kann, weshalb sie im Regelfall keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG begründen kann (RS0128812 [T5, T15, T19]), setzt die Entscheidung über die Obsorge doch immer als Ausgangsbasis eine ausreichend klare Tatsachengrundlage voraus. Die zukunftsbezogene Rechtsgestaltung durch eine Obsorgeentscheidung kann nämlich nur dann sachgerecht sein, wenn sie nicht nur auf einer aktuellen, sondern auch auf einer ausreichenden Sachverhaltsgrundlage beruht (RS0106312; vgl 5 Ob 97/21g zum Obsorgeentzug ohne Tatsachengrundlage; 4 Ob 205/21g) und überdies bei einem Obsorgewechsel eine Zukunftsprognose über dessen Einfluss auf das Kind beinhaltet (RS0048632; 4 Ob 205/21g).
[8] 3. Das Erstgericht hat zwar beide Elternteile einvernommen, es vermischt aber in seiner Darstellung des Sachverhalts bruchstückhaft angeführte Tatsachen mit bloßen Angaben des jeweiligen Elternteils, der Kinder oder „des Jugendamts“ derart, dass sich diesem Teil des Beschlusses – gerade zur Gesprächsbasis – nicht eindeutig entnehmen lässt, inwieweit das Erstgericht von Fakten ausgeht oder inwieweit nur subjektive Ansichten des jeweiligen Elternteils wiedergegeben werden sollen. An 14 Stellen ist angeführt: „[der Vater oder die Mutter] ist der Ansicht“ bzw „der Meinung“ (etwa auch in der Form: „ihrer Ansicht nach“; „fühlt sich […]“, „gab an […]“ oder „führte aus“). Darüber hinaus finden sich dort auch die Formulierungen: „Laut dem Jugendamt sei fraglich […]“; „das Jugendamt führte aus, […]“; „der Kinder- und Jugendhilfeträger sprach sich für […] aus“. Beispielsweise ist bloß festgehalten, was die Mutter darüber mitteilte, was ihr der Vater gesagt habe, was er wolle, oder es ist überhaupt schlicht das Vorbringen der Eltern wiedergegeben.
[9] Gerade zur besonders entscheidungswesentlichen Kommunikationsbasis der Eltern hält das Erstgericht (bloß) fest: „Der Vater ist der Meinung, dass die Kommunikation mit der Kindesmutter wieder besser funktioniert. Die Kindesmutter ist der Ansicht, dass die Kommunikation recht gut funktioniert, solange sie zurücksteckt…“ oder etwa: „Die Kindesmutter ist der Ansicht, dass der Kindesvater ein schwieriger Mensch ist, wenn nicht passiere, was er sich vorstelle, mache er ihr das Leben schwer“.
[10] 4. Das Rekursgericht beschäftigte sich zwar ausführlich mit dem im erstinstanzlichen Beschluss als Sachverhalt bezeichneten Teil, es geht aber letztlich – was der Revisionsrekurs zutreffend aufzeigt – bei seinen daraus gezogenen Schlüssen über das tatsächlich als solches festgehaltene Tatsachensubstrat hinaus und trifft damit ohne Beweiswiederholung ergänzende Feststellungen.
[11] 5. Da ohne tragfähige Tatsachenbasis über die Kommunikationsbasis und Kooperationsbereitschaft oder die Erfolgsaussichten von Mitteln des § 107 Abs 3 AußStrG eine Entscheidung über die gemeinsame Obsorge der drei Kinder nicht getroffen werden kann, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben.
[12] Das Erstgericht wird besonders zur Frage der Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit der Eltern und zu ihrer Bereitschaft, beispielsweise an einer Familien-, Eltern- oder Erziehungsberatung teilzunehmen, sowie zu den Erfolgsaussichten, damit in absehbarer Zeit eine gemeinsame Kooperationsbasis herstellen zu können, eine Sachverhaltsgrundlage festzustellen haben, die – neben dem punktuellen Festhalten einzelner Vorfälle – über die Wiedergabe von subjektiven Ansichten (vor allem der Mutter und des Vaters) hinausgeht.
[13] 6. Soweit der Revisionsrekurs Verfahrensmängel des erstinstanzlichen Verfahrens aufwirft, sei festgehalten, dass diese vom Rekursgericht nach ausführlicher Auseinandersetzung verworfen wurden und daher im Revisionsrekursverfahren nicht mehr geltend gemacht werden können (RS0030748 [T22]).
[14] Vielmehr fällt es in die Beurteilung des Erstgerichts, ob es die bisherigen Beweiserhebungen als ausreichend erachtet, um die notwendigen Feststellungen treffen zu können, oder ob ihm dafür die Verbreiterung des Beweisverfahrens notwendig scheint.
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