OGH 6Ob45/05v

OGH6Ob45/05v17.3.2005

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber, Dr. Prückner, Dr. Schenk und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Nils Laurin E*****, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsfürsorge für den 2. Bezirk, 1020 Wien, Karmelitergasse 9, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 19. März 2002, GZ 44 R 106/02t-12, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom 24. Jänner 2002, GZ 17 P 124/00p-5, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der minderjährige Antragsteller ist unehelicher Sohn des deutschen Staatsangehörigen Ingo E*****. Das Kind ist österreichischer Staatsbürger und lebt im Haushalt der obsorgeberechtigten Mutter in Wien. Der Vater - er hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt gleichfalls in Österreich begründet - wurde am 7. 6. 2000 in Österreich in Untersuchungshaft genommen. Dem Kind wurde darauf beginnend mit 1. 6. 2000 bis 31. 5. 2003 ein monatlicher Unterhaltsvorschuss nach § 4 Z 3 Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) gewährt. Der Vater verbüßte die über ihn verhängte Freiheitsstrafe zunächst in der Justizanstalt Garsten in Österreich. Am 19. 12. 2001 wurde er zur weiteren Strafvollstreckung in seinen Heimatstaat Deutschland überstellt (Haftanstalt D-22335 Hamburg).

Das Erstgericht stellte daraufhin die Unterhaltsvorschüsse mit Ablauf des Monats Dezember 2001 ein. Die Voraussetzungen für die Gewährung der (Haft-)Vorschüsse seien weggefallen, weil sich der Vater im Ausland in Haft befinde.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Voraussetzung für die Gewährung eines Unterhaltsvorschusses nach § 4 Z 3 UVG sei die Verbüßung der Haft im Inland. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes seien Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG Familienleistungen nach Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Daraus ergebe sich, dass in Österreich wohnende Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der EU, für die diese Verordnung gelte, gleichermaßen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen haben. Dies gelte auch dann, wenn ein österreichisches Kind in einem anderen Mitgliedstaat der EU wohne und der Unterhaltsschuldner Arbeitnehmer, Selbständiger oder als Arbeitssuchender gemeldet sei. Die zitierte Verordnung gelte jedoch nur für Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, nicht jedoch auch für Strafgefangene, deren Arbeitspflicht öffentlich rechtlicher Natur sei. Damit widerspreche aber § 4 Z 3 UVG nicht dem Gemeinschaftsrecht.

Gegen diese Entscheidung erhob das Kind Revisionsrekurs. Die Überstellung des Unterhaltsschuldners in eine Haftanstalt eines anderen Mitgliedstaates der Gemeinschaft führe nicht zur Einstellung der Unterhaltsvorschüsse. Die in § 4 Z 3 UVG angeführte Haftanstalt im Inland sei einer Haftanstalt im gesamten EU-Raum gleichzusetzen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Gemäß § 4 Z 3 UVG idF UVG-Novelle 1980, BGBl 1980/278, sind vom Bund (von der Republik Österreich) Vorschüsse auf den gesetzlichen Unterhalt minderjähriger Kinder auch zu gewähren, wenn "dem Unterhaltsschuldner aufgrund einer Anordnung in einem strafgerichtlichen Verfahren länger als einen Monat im Inland die Freiheit entzogen wird und er deshalb seine Unterhaltspflicht nicht erfüllen kann". Danach besteht kein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dieser Gesetzesstelle, wenn die Haftstrafe nicht in Österreich, sondern in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft verbüßt wird. Nach den Gesetzesmaterialien zur UVG-Novelle 1980 sei die Einbeziehung der Kinder Strafgefangener in den Leistungskatalog des UVG nicht nur rechts- und sozialpolitisch geboten, sondern auch rechtssystematisch und rechtsdogmatisch vertretbar. Auch sie seien unschuldige Opfer der begangenen Straftaten, die Fürsorge und Beachtung verdienten. Den Staat treffe daher schon nach dem Gesichtspunkt der im obliegenden Pflicht zur Unterhaltssicherung auch die Pflicht, entweder für eine entsprechende Entlohnung der im Strafvollzug arbeitenden Strafgefangenen oder dafür zu sorgen, dass sie auf andere Weise ihre Unterhaltspflicht genügen könnten. Diese Überlegungen machten es notwendig, die Regelung auf die Kinder solcher Strafgefangener zu beschränken, die sich in einer Einrichtung des Strafvollzuges im Inland befinden. Ausgesprochener Wille des Gesetzgebers war es daher, den Haftvorschuss nach § 4 Z 3 UVG nur bei Freiheitsentzug im Inland zu gewähren.

Der in Österreich strafgerichtlich verurteilte unterhaltspflichtige Vater wurde unter Anwendung des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen samt Erklärungen der Republik Österreich, BGBl 1986/524 und des § 76 Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz (ARHG, BGBl 1979/529) zum Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe nach Deutschland, seinem Heimatstaat überstellt. Nach den Erwägungsgründen dieses von den Mitgliedern des Europarates unterzeichneten Übereinkommens liegt der Zweck einer derartigen Überstellung in der Förderung der sozialen Wiedereingliederung verurteilter Personen. Dieses Ziel erfordere es - so das Übereinkommen - "Ausländern, denen wegen der Begehung einer Straftat ihre Freiheit entzogen ist, Gelegenheit zu geben, die gegen sie verhängte Sanktion in ihrer Heimat zu verbüßen"; dieses Ziel könne am Besten dadurch erreicht werden, dass sie in ihr eigenes Land überstellt werden.

§ 76 ARHG regelt das bei der Überstellung anzuwendende innerstaatliche Verfahren. Er trägt den in der Präambel angesprochenen Zwecken des Übereinkommens Rechnung und sieht vor, dass ein Ersuchen um Übernahme der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe (von einem anderen hier nicht relevanten Fall abgesehen) zulässig ist, wenn die Vollzugszwecke durch die Vollstreckung (oder weitere Vollstreckung) im ersuchten Staat besser erreicht werden können.

Nach § 44 des österreichischen Strafvollzugsgesetzes ist jeder in Österreich inhaftierte, arbeitsfähige Strafgefangene grundsätzlich verpflichtet, Arbeit zu leisten. Auch das deutsche Strafvollzugsgesetz (§ 41) enthält eine vergleichbare Arbeitspflicht des Strafgefangenen.

Unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien hat der Oberste Gerichtshof Vorschüsse nach § 4 Z 3 UVG bisher nur bei Freiheitsentzug im Inland gewährt (SZ 67/100; 2 Ob 112/97b = ZfRV 1997/57; 7 Ob 186/98y). Einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot hat die Rechtsprechung bisher aus der Überlegung verneint, dem § 4 Z 3 UVG liege die Fiktion eines Verhältnisses von Leistung (dh Arbeit in der Haft) und Gegenleistung (Unterhaltsvorschuss) zugrunde. Die Arbeit, die anlässlich einer Haft im Ausland geleistet werde, komme aber nicht dem österreichischen Staat zugute.

Angesichts der durch die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in den Vorabentscheidungsverfahren Rs C-85/99 - Offermanns und Rs C-255/99 - Anna Humer erweckten Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung stellte der Senat am 11. 7. 2002 zu 6 Ob 132/02h ein Vorabentscheidungsersuchen und legte dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

„Ist Art 12 EG iVm Art 3 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, so auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegen steht, die Gemeinschaftsbürger bei Bezug eines Unterhaltsvorschusses benachteiligt, wenn der unterhaltspflichtige Vater eine Strafhaft in seinem Heimatstaat und (nicht in Österreich) verbüßt und wird daher das in Österreich lebende Kind eines deutschen Staatsangehörigen dadurch diskriminiert, dass ihm ein Unterhaltsvorschuss deshalb nicht gewährt wird, weil sein Vater eine in Österreich verhängte Freiheitsstrafe in seinem Heimatstaat (und nicht in Österreich) verbüßt?".

Zur Begründung seines Ersuchens wies der Senat auf eine mögliche versteckte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit hin. Diese könnte darin gesehen werden, dass die (fremde) Staatsangehörigkeit regelmäßig dafür ausschlaggebend sei, ob ein in Österreich verurteilter unterhaltspflichtiger Vater seine Freiheitsstrafe in seinem Heimatstaat, somit im Ausland, verbüße. Damit sei die Staatsangehörigkeit des Vaters aber auch unmittelbar dafür ausschlaggebend, ob das unterhaltsberechtigte Kind des Verurteilten einen Anspruch auf Vorschuss nach § 4 Z 3 UVG geltend machen könne. Es bestehe daher Anlass zur Annahme, § 4 Z 3 UVG könnte eine gegen Art 12 EG und Art 3 der Verordnung Nr 1408/71 verstoßende versteckte Diskriminierung im dargestellten Sinn verwirklichen. Die Rechtfertigung einer allfälligen Diskriminierung sei zweifelhaft.

In seinem Urteil vom 20. Jänner 2005 in der Rechtssache C-302/02 hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften für Recht erkannt:

„Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, die darin bestehen, dass sich ein Arbeitnehmer im Sinne von Art 2 Abs 1 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EG) Nr 1386/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 als Strafgefangener in seinen Herkunftsmitgliedstaat überstellen ließ, um dort den Rest seiner Strafe zu verbüßen, sind nach Art 13 Abs 2 dieser Verordnung im Bereich der Familienleistungen die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats anzuwenden. Weder die Bestimmungen der genannten Verordnung, insbesondere ihr Art 3, noch Art 12 EG stehen den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, die in einem solchen Fall die Gewährung von Familienleistungen der im österreichischen Bundesgesetz über die Gewährung von Vorschüssen auf den Unterhalt von Kindern (Unterhaltsvorschussgesetz) vorgesehenen Art an die Familienangehörigen eines solchen Gemeinschaftsbürgers davon abhängig machen, dass er im Gebiet dieses Mitgliedstaats in Haft bleibt."

Die auf § 4 Z 3 UVG gegründete Verweigerung des Unterhaltsvorschusses für ein in Österreich lebendes Kind eines deutschen Staatsangehörigen, der eine in Österreich verhängte Strafe im Staat seiner Herkunft (im Heimatstaat und nicht in Österreich) verbüßt, steht daher mit den Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71, insbesondere mit dessen Art 3 ebenso im Einklang wie mit Art 12 EG und verwirklicht keine (mittelbare) Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit.

Die bisherige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu § 4 Z 3 UWG, wonach „Haft"vorschüsse nach § 4 Z 3 UVG nur bei Freiheitsentzug im Inland gewährt werden (SZ 67/100; 2 Ob 112/97b = ZfRV 1997/57; 7 Ob 186/98y; RIS-Justiz RS0076288), wird daher aufrecht erhalten.

Dem unberechtigten Revisionsrekurs des Kindes wird nicht Folge gegeben.

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