European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130134
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen in Verbindung mit dem eigenen Vorbringen des Antragsgegners, dem Vater der minderjährigen Eslem, lebte die Familie ursprünglich in Österreich. Im Sommer 2018 fuhr sie gemeinsam auf Urlaub in die Türkei, wo die Antragstellerin, die Mutter von Eslem, dem Vater eröffnete, dass sie sich scheiden lassen wolle. Daraufhin kehrte der Vater mit dem Bruder von Eslem nach Österreich zurück, während Eslem und ihre ältere Schwester zunächst bei der Mutter in der Türkei blieben. Letztere kehrte in weiterer Folge ebenfalls nach Österreich zurück, Eslem blieb jedoch in der Türkei, wobei der Vater zu diesem Zeitpunkt keinerlei Handlungen setzte, um Eslem wieder nach Österreich zurück zu holen; vielmehr widersetzte er sich dem Entschluss der Mutter, sich scheiden zu lassen und Eslem „für sich zu behalten“, nicht, sondern akzeptierte und respektierte diesen Entschluss und ließ Eslem bei der Mutter, wiewohl ihm dies selbst schwer fiel. Entgegen der im außerordentlichen Revisionsrekurs vertretenen Auffassung kann bei diesem Sachverhalt nicht davon ausgegangen werden, die Mutter hätte im Sommer 2018 Eslem widerrechtlich im Sinn des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 512/1980, (HKÜ) in der Türkei zurückgehalten; die Zustimmung kann auch stillschweigend erfolgen (Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019] Art 13 HKÜ Rz 8).
2. Damit hat aber der Vater seinerseits widerrechtlich in die (Mit‑)Obsorgerechte der Mutter eingegriffen, als er im Sommer 2019 in die Türkei reiste und am 9. 8. 2019 mit Eslem nach Wien zurückkehrte, wobei nicht feststeht, dass die Mutter ihm Eslem mit den Worten übergeben hätte, er solle sich um diese kümmern, weil sie selbst dazu nicht in der Lage sei (zur Behauptungs‑ und Beweislast des entführenden Elternteils, der andere habe dem Vorbringen zugestimmt vgl Nademleinsky aaO). Sein Versuch, diese Feststellungen der Vorinstanzen im Revisionsrekursverfahren zu bekämpfen, ist unzulässig; der Oberste Gerichtshof ist keine Tatsacheninstanz (RS0006737).
3. Nach Art 12 HKÜ ordnet das Gericht die sofortige Rückgabe des Kindes an, wenn dieses widerrechtlich verbracht wurde und der Rückführungsantrag nach dem HKÜ binnen einer Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen gestellt wurde. In einem solchen Fall besteht kein Ermessensspielraum, und es spielt auch keine Rolle, ob sich das Kind zwischenzeitlich im Fluchtstaat eingelebt hat; dieser Umstand steht der Rückführung nicht per se entgegen (2 Ob 291/00h; Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht Art 12 HKÜ Rz 1), es sei denn es lägen die Voraussetzungen der Art 13 oder 20 HKÜ vor (Nademleinsky aaO; vgl auch 5 Ob 47/09m iFamZ 2009/216 [Fucik]).
4. Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ, auf den sich der Antragsgegner auch noch im Revisionsrekursverfahren beruft, ist das Gericht im Fluchtstaat, ungeachtet des Art 12 HKÜ, nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes (unter anderem dann) anzuordnen, wenn die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (s bloß 5 Ob 47/09m) ist der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ eng auszulegen und deshalb auf besondere Sachverhalte zu beschränken. Berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst das Ziel des HKÜ nicht griffe. Der bloße Wunsch des Kindes, in der bisherigen Umgebung zu bleiben, ist jedoch nicht derart gravierend, dass bei Nichterfüllung eine Kindeswohlgefährdung im Sinn des Übereinkommens zu bejahen wäre. Und schließlich schließt eine gelungene Integrierung eines Kindes in seine neue Umgebung eine Rückführung nur dann (jedenfalls) aus, wenn der Rückführungsantrag mehr als ein Jahr nach dem Verbringen des Kindes gestellt wurde (was hier eben gerade nicht der Fall war). Ob die Voraussetzungen dieser Ausnahmebestimmung gegeben sind, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist (RS0112662); sie ist nicht von der von § 63 AußStrG geforderten Qualität, es sei denn den Vorinstanzen wäre eine krasse Fehlbeurteilung des konkreten Sachverhalts unterlaufen, wovon im vorliegenden Fall jedoch nicht ausgegangen werden kann:
Der Antragsgegner beruft sich in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs auf einen (neuerlichen und traumatisierenden) Wohnortwechsel Eslems, wobei er allerdings feststellungswidrig davon ausgeht, die Antragstellerin habe der Verbringung Eslems nach Österreich im Sommer 2019 zugestimmt gehabt, und auf deren psychische Gefährdung durch die (nochmalige) Trennung von ihren Geschwistern, die beim Vater in Österreich leben. Hiefür finden sich jedoch in dem von den Vorinstanzen festgestellten Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte.
Dies gilt auch für die Behauptung des Antragsgegners, „die Motivation der [Antragstellerin liege] ausschließlich im Finanziellen und [wolle die Antragstellerin] Eslem als Druckmittel verwenden“, woraus er schließt, dass die Antragstellerin „in launischer Haltung nach Erreichen ihrer Zwecke [Eslem] wiederum emotional zerreißen [könnte], ohne auf [deren] Wohl zu achten“. Zum Beweis hierfür beruft er sich darauf, dass die Antragstellerin Unterhaltsexekution hinsichtlich der Geschwister Eslems führe, obwohl diese im Haushalt des Antragsgegners leben. Das Erstgericht hat in diesem Zusammenhang jedoch lediglich festgestellt, im Zuge des Ausverhandelns eines Scheidungsfolgenvergleichs sei auch der Verbleib Eslems beim Antragsgegner als Grund für eine höhere Ausgleichszahlung an die Antragstellerin „ins Spiel gebracht“ worden.
Dass Eslem nur in der Türkei einer Ansteckungsgefahr mit COVID-19 ausgesetzt wäre, womit „aktuell“ eine Gefährdung vorliege, nach Ansicht des Antragsgegners in Österreich jedoch offensichtlich nicht, widerspricht der gerichtsbekannten Tatsache stark erhöhter Corona-Infektions-Zahlen (auch) in Österreich jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt.
Und schließlich ist auch nicht ersichtlich, weshalb ein Wechsel Eslems in die Türkei deren Bildungsweg plötzlich abbrechen und ihr dadurch eine zukunftssichere Bildungschance genommen werden sollte, geht doch Eslem derzeit in Österreich (lediglich) in den Kindergarten und besucht eine Kindergruppe; dass eine Schul- und Ausbildung Eslems in der Türkei unmöglich, zumindest aber nicht gewährleistet wäre, legt der Antragsgegner nicht näher dar, desgleichen auch nicht die Bedeutung eines (angeblichen) Umzugs der Antragstellerin von einer türkischen Stadt in eine andere.
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