OGH 6Ob134/19b

OGH6Ob134/19b24.10.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und gefährdeten Partei S*****, vertreten durch Freimüller Obereder Pilz RechtsanwältInnen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei und Gegner der gefährdeten Partei P*****, vertreten durch die Suppan/Spiegl/Zeller Rechtsanwalts OG in Wien, wegen Unterlassung, über den Revisionsrekurs der beklagten und Gegnerin der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 29. Mai 2019, GZ 5 R 43/19h‑9, womit die einstweilige Verfügung des Handelsgerichts Wien vom 6. März 2019, GZ 68 Cg 12/19z‑4, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0060OB00134.19B.1024.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahingehend abgeändert, dass sie zu lauten hat:

„Das Sicherungsbegehren, dem Gegner der gefährdeten Partei ab sofort aufzutragen, es zu unterlassen, über die gefährdete Partei zu behaupten, die gefährdete Partei befürworte Atomstrom und/oder gleichartige unwahre und kreditschädigende Behauptungen aufzustellen und/oder zu verbreiten, wird abgewiesen.

Die gefährdete Partei ist schuldig, dem Gegner der gefährdeten Partei die mit 1.639,80 EUR (darin enthalten 273,30 EUR USt) bestimmten Kosten des Provisorialverfahrens erster und zweiter Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die gefährdete Partei ist schuldig, dem Gegner der gefährdeten Partei die mit 2.834,64 EUR (darin enthalten 353,19 EUR USt und 715,50 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Revisionsrekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Die Klägerin und gefährdete Partei (in der Folge nur: Klägerin) ist eine politische Partei nach dem Parteiengesetz.

Der Beklagte und Gegner der gefährdeten Partei (in der Folge nur: Beklagter) ist der P*****.

Der Beklagte veröffentlichte am 18. 2. 2019 folgendes Inserat in der Tageszeitung „K***** Zeitung“:

 

 

 

In diesem Inserat behauptet der Beklagte, die Klägerin befürworte Atomstrom (formuliert als doppelte Verneinung). Spätestens am 22. Februar 2019 begann der Beklagte außerdem, Plakate mit einem gleichartigen Sujet in ganz Österreich aufstellen zu lassen.

Im Februar passierte eine abgeänderte Ökostrom‑Novelle mit einer limitierten Verlängerung der Förderung für maximal drei Jahre den Nationalrat. Die Stimmen der Regierungsparteien und der N*****s ergaben die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit. Im Bundesrat stimmten die Abgeordneten der Klägerin jedoch gegen die Novelle, sodass dort die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht erreicht werden konnte.

Das Ökostromgesetz förderte bislang nur Biogas‑Anlagen, nicht aber Anlagen für feste Biomasse, die in der Regel mit Holz arbeiten. Für die Förderung letzterer brauchte es eine gesetzliche Übergangslösung.

Im Nationalrat erklärten Vertreter der Klägerin, dass sie der Novelle nur im Punkt der Senkung des Ökostrom‑Beitrags zustimmen würden. Der Rest der Regelung sei völlig unsinnig, es würden nur unrentable Kraftwerke von Elektrizitätsunternehmen gefördert. Dies sei wirtschaftspolitisch ein Wahnsinn. Die Klägerin beharre auf einem Gesamtpaket für Ökostrom und sei dagegen, eine sogenannte Übergangslösung nach der anderen zu beschließen.

Vertreter des Beklagten betonten, dass Biomasse-Anlagen wichtig für die Energiewende seien. Die Förderung der Biomasse-Anlagen sei auch die richtige Antwort auf den großen Anfall an Schadholz in den österreichischen Wäldern im Jahr 2018 aufgrund von Unwettern und Borkenkäferbefall. Holzkraftwerke zu stärken sei wichtig, wenn man ernsthaft plane, von Atomstrom und Öl unabhängig zu werden; sie zu fördern sei auch ein Teil der Standortpolitik. Umweltministerin E***** (*****) unterstrich, dass die Bundesregierung alles unternehme, um die Energiewende herbeizuführen. Derzeit beziehe Österreich immer noch Atomstrom bzw Strom aus Kohle aus dem Ausland. Die Förderung der Biomasse-Anlagen sei ein volkswirtschaftliches und nationales Anliegen. An diesen Anlagen würden auch hunderte Arbeitsplätze hängen.

An dem Initiativantrag bemängelte die Klägerin vor allem auch die fehlenden Förderhöhen, deren konkrete Tarife die Regierung per Verordnung beschließen solle. Ein Abteilungsleiter der Wirtschaftskammer kritisierte in der Wiener Zeitung, dass jede kleine Anpassung des Ökostromgesetzes zig Millionen Euro binde, die für eine große Reform gebraucht würden. Der Biomasse‑Verband wiederum betonte, dass eine Reduktion der Biomasse‑Anlagen unweigerlich zu einem höheren Einsatz von fossilen Anlagen führen würde.

Die Klägerin befürwortet Atomstrom laut ihrem Grundsatzprogramm nicht.

Die Klägerin begehrte zur Sicherung ihres mit Klage geltend gemachten Unterlassungsanspruchs, der Beklagten mit einstweiliger Verfügung ab sofort zu gebieten, es zu unterlassen, über die Klägerin zu behaupten, diese befürworte Atomstrom und/oder gleichartige unwahre und kreditschädigende Behauptungen aufzustellen und/oder zu verbreiten. Die Behauptung, sie befürworte Atomstrom, sei falsch. Die Klägerin setze sich gegen die Energiegewinnung aus Atomkraft ein. Sie trete gegen Atomkraftwerke und Atomstrom auf und setze sich auf nationaler wie internationaler Ebene für einen Ausstieg aus der Atomkraft ein. Die Äußerung der Beklagten sei kreditschädigend, weil sie geeignet sei, das wirtschaftliche Fortkommen der Klägerin zu beeinträchtigen.

Der Beklagte wendete ein, die beanstandete Kampagne sei Bestandteil des laufenden politischen Wettbewerbs und beruhe letztlich auf einer „durch die Einschränkung der Alternativen“ im Ergebnis den Atomstrom fördernden Ablehnung der von Abgeordneten der Beklagten eingebrachten Ökostromgesetz‑Novelle durch die Klägerin im Bundesrat. Die inkriminierte Äußerung sei nicht kreditschädigend. Selbst wenn die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung wohl gegen Atomstrom eingestellt sei, seien in ganz Europa eine Vielzahl von Atomkraftwerken im Einsatz. Es müsse zwischen dem „Auftritt“ einer Partei auf der einen Seite und den konkreten Maßnahmen, die bei einer politischen Partei naturgemäß in deren Beschlussverhalten in Gesetzwerdungsprozessen zu sehen sei, auf der anderen Seite unterschieden werden. Das Aufzeigen eines konkreten Widerspruchs zwischen der Programmatik und dem tatsächlichen Handeln sei das Musterbeispiel einer zulässigen politischen Kritik. Die Äußerung sei als zulässiges Werturteil zu qualifizieren, die auf einem für den Rezipienten erkennbaren wahren Tatsachenkern, nämlich der Ablehnung der Ökostrom-Novelle, fuße.

Das Erstgericht erließ die begehrte einstweilige Verfügung. Es traf die wiedergegebenen Feststellungen und folgerte rechtlich, es liege eine unwahre kreditschädigende Tatsachenbehauptung vor. In Österreich seien die Wählerinnen und Wähler bekanntermaßen dem Atomstrom gegenüber grundsätzlich äußerst kritisch eingestellt. Wenn eine Partei Atomstrom befürworte, könne das den Verlust von Wählerstimmen nach sich ziehen.

Das Rekursgericht bestätigte mit dem angefochtenen Beschluss die Entscheidung des Erstgerichts und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu. Es billigte die dargestellte rechtliche Beurteilung des Erstgerichts.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der Abweisung des Sicherungsbegehrens.

Die Klägerin beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

Der Rechtsmittelwerber macht geltend, die angefochtene Entscheidung weiche von vergleichbaren Entscheidungen ab, wonach bei politischen Aussagen ein erhöhter, großzügiger Maßstab zugunsten von Werturteilen anzulegen sei. Die Aussage des Beklagten enthalte einen wahren Tatsachenkern (Ablehnung der Ökostromnovelle), es liege eine (zulässige) pointierte Kritik des Abstimmungsverhaltens von Mandataren der Klägerin vor, das von deren medial kommunizierten Grundwerten abweiche.

Rechtliche Beurteilung

Hierzu wurde erwogen:

1. Allgemeines

Wie der EGMR bereits im Fall Lingens gegen Österreich (EuGRZ 1986, 424) betont hat, besteht unter dem Aspekt des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK – das bereits auf der Tatbestandsebene in die Prüfung einzufließen hat – eine Wechselwirkung zwischen der Bedeutung des kritischen Anliegens und der Schärfe der Kritik, die bei der Einschätzung der politischen Kontroverse zu berücksichtigen ist (RS0123666).

Dabei sind die Grenzen der zulässigen Kritik bei Politikern und generell bei Personen des öffentlichen Lebens weiter zu ziehen als bei Privatpersonen (RS0082182). Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist großzügig auszulegen, wenn es um zur Debatte stehende politische Verhaltensweisen geht (RS0082182 [T7]). Im Interesse einer freien, demokratischen Diskussion muss Kritik erlaubt sein; sie muss allerdings in einer Form vorgebracht werden, die das absolut geschützte Recht auf Ehre nicht verletzt, und, sofern sie einen nachprüfbaren Tatsachenkern enthält, auch erweislich wahr sein (RS0082182 [T5]). Weil Politiker erhöhter Kritik unterworfen sind, soweit sie in öffentlicher Funktion handeln, genügt im Rahmen politischer Auseinandersetzung bereits ein „dünnes Tatsachensubstrat“ für die Zulässigkeit einer Wertung (RS0127027). Eine in die Ehre eingreifende politische Kritik auf Basis unwahrer Tatsachenbehauptungen verstößt aber gegen § 1330 ABGB (RS0082182 [T6]).

Die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern in Ausübung ihres öffentlichen Amts sind im Allgemeinen weiter gesteckt als bei Privatpersonen, weil sich Politiker unweigerlich und wissentlich der eingehenden Beurteilung ihrer Worte und Taten durch die Presse und die allgemeine Öffentlichkeit aussetzen. Politiker müssen daher einen höheren Grad an Toleranz zeigen, besonders wenn sie selbst öffentliche Äußerungen tätigen, die geeignet sind, Kritik auf sich zu ziehen (RS0115541).

In einer politischen Auseinandersetzung muss es den Opponenten in einer demokratischen Gesellschaft gestattet sein, wertende gegensätzliche Standpunkte auch in scharfer Form zu formulieren und Argumente, die für den eigenen Standpunkt sprechen, darzulegen. Eine politische Wertung, die nicht den Vorwurf eines persönlich unehrenhaften Verhaltens des politischen Gegners enthält, ist nicht tatbildlich im Sinne des § 1330 Abs 1 oder Abs 2 ABGB (6 Ob 2059/96d; 6 Ob 258/07w).

2. Vorliegender Fall

Die Äußerung ist im Gesamtkontext zu sehen: Für die Aussage „S***** sagt: Nein zu Ökostrom“ ist der Umstand, dass die Klägerin im Bundesrat gegen die Ökostrom‑Novelle stimmte, ausreichender Tatsachenkern. Davon ausgehend ist der Schluss, die Klägerin sei „nicht gegen“ Atomstrom, ein zulässiges Werturteil. Die zweite Zeile „Ganz Österreich ist gegen Atomstrom – nur die S***** nicht“ kann nicht isoliert betrachtet werden. Überdies macht es einen Unterschied, ob behauptet wird, die Klägerin sei „für Atomstrom“ oder „nicht gegen“ Atomstrom. Durch ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat kann zugespitzt argumentiert werden, dass sie sich dadurch nicht aktiv gegen Atomstrom eingesetzt hat bzw als einzige gegen die Novelle gestimmt hat. Die Aussagen wurden im engen Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte zur Ökostrom‑Novelle getroffen. Sie waren als politische Meinungsäußerung einer gegnerischen Partei erkennbar und auch nicht beleidigend. Auch für den durchschnittlichen Leser ist erkennbar, dass es sich bei den beiden weiteren Aussagen um Werturteile des politischen Gegners handelt, der einen anderen Standpunkt vertritt.

Im Bereich der „beleidigenden“ Werturteile wurden etwa Aussagen wie „Mietenmafia“ (15 Os 81/11t), „Trottel“ (EGMR 1. 7. 1997, Nr 47/1996/666/852, Oberschlick gegen Österreich II, MR 1997, 196) oder „Kellernazi“ (Scharsach und News Verlagsgesellschaft gegen Österreich, Nr 39394/98, ÖJZ 2004, 512) als zulässiges Werturteil mit teils dünnem Tatsachensubstrat erachtet (vgl weiters 6 Ob 159/06k; 6 Ob 218/08i; 6 Ob 265/09b ua). Im Sinne dieser Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und des EGMR ist die inkriminierte Aussage zulässig.

Die Kostenentscheidung für das Provisorialverfahren gründet sich auf die § 393 EO, §§ 41, 50 ZPO.

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