European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129074
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Die Obsorge über das achtjährige Kind L* steht beiden Eltern gemeinsam zu. L* hat drei Halbschwestern im Alter von 16, 13 und 7 Jahren, die – so wie auch L* bisher – bei der Mutter wohnen. Aufgrund von Mängeln in der Erziehung und Versorgung der Kinder durch die Mutter sowie wegen hygienischer Probleme in deren Haushalt wurde eine sozialpädagogische Familienbegleitung angeordnet. Die Mutter pflegt einen vernachlässigenden Erziehungsstil und droht den Kindern immer wieder mit einer Heimunterbringung. Die Betreuung von L* erfolgt zumeist durch seine älteste Halbschwester, zu der er eine gute Bindung hat. Zu den beiden anderen Halbschwestern besteht kein gutes Verhältnis; von der jüngsten Halbschwester wird er immer wieder geschlagen, wobei die Mutter ihm die Schuld an den Streitigkeiten gibt und mit ihm oft schreit. Die Mutter zeigte den Kindern im Zusammenhang mit Beziehungsproblemen mehrfach verstörende, beängstigende und nicht kindgerechte Videos.
L* hat Defizite beim Sprechen. Ab Sommer 2018 hat er immer wieder in seine Hose eingekotet. Auf diesen Zustand reagierte die Mutter erst über Intervention des sozialpädagogischen Betreuers.
Der Vater wohnt in einer kindgerechten Mietwohnung. Er weist die notwendigen Fähigkeiten auf, um L* zu fördern. Er ist auch bestrebt, das Kind zu unterstützen und ihm weiterhin Kontakte zur Mutter und seinen Halbschwestern zu ermöglichen. Er ist auch damit einverstanden, dass L* weiterhin die bisherige Volksschule besucht, weil er sich in die Klassengemeinschaft gut integriert hat.
Der Vater stellte den Antrag, die hauptsächliche Betreuung für L* an ihn zu übertragen, weil das Kind zu Hause geschlagen und dort auch viel geschrien werde, was zu einem problematischen Zustand bei L* geführt habe.
Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus.
Das Erstgericht gab dem Antrag des Vaters statt und sprach aus, dass die hauptsächliche Betreuung für L* dem Vater obliege, bei dem auch der hauptsächliche Aufenthalt des Kindes festgelegt werde. Nach dem festgestellten Sachverhalt lägen gewichtige Gründe für eine Änderung des hauptsächlichen Aufenthalts des Kindes vor. Der Vater könne dem Kind eine stabile emotionale Betreuung bieten.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Mutter weise erhebliche Defizite in ihrer Erziehungsfähigkeit auf, weshalb ihre Form der Betreuung von L* nicht dem Kindeswohl entspreche. Demgegenüber weise der Vater bessere Voraussetzungen auf, um dem Kind eine stabile emotionale Betreuung zu bieten.
Rechtliche Beurteilung
Mit ihrem gegen diese Entscheidung erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine erhebliche Rechtsfrage auf:
1. Die geltend gemachten Verfahrensmängel, die die Mutter in der Nichteinholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zum körperlichen und geistigen Zustand des Kindes sowie zum psychosomatischen Zustand des Vaters erblickt, liegen – wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat – nicht vor.
1.1 Die behaupteten Mängel betreffen das erstinstanzliche Verfahren. Auch im Pflegschaftsverfahren gilt, dass ein vom Rekursgericht verneinter Mangel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund bildet, sofern eine Durchbrechung dieses Grundsatzes nicht aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist (RS0050037 [T4]; RS0030748 [T18]; 4 Ob 246/18g).
Die Voraussetzungen für eine solche Ausnahme sind hier nicht gegeben. Entgegen der Ansicht der Mutter besteht kein genereller Grundsatz dahin, dass das Pflegschaftsgericht in einem die Obsorge betreffenden Verfahren einen Sachverständigen beizuziehen hätte (vgl RS0006319 [T7]). Gelangen die Vorinstanzen zum Ergebnis, dass die Stellungnahme eines Psychologen der Familiengerichtshilfe im Zusammenhang mit den anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bildet, so ist die Frage, ob im Einzelfall zusätzlich ein Sachverständigengutachten erforderlich ist, vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbar, weil die Frage, ob zur Gewinnung der erforderlichen Feststellungen noch weitere Beweise notwendig sind, die Beweiswürdigung betrifft (RS0108449 [T4]; RS0115719 [T10]; vgl auch RS0043414).
Die Vorinstanzen haben sich mit den umfassenden Erhebungen und fachpsychologischen Schlussfolgerungen der Familiengerichtshilfe gewissenhaft auseinandergesetzt und diese als ausreichende Entscheidungsgrundlage qualifiziert. Entgegen den Ausführungen der Mutter ist den Entscheidungen der Vorinstanzen auch klar zu entnehmen, von welcher Sachverhaltsgrundlage sie ausgehen. Von einer „mangelhaften Begründung wegen undifferenzierter und wörtlicher Übernahme der Ausführungen der Familiengerichtshilfe“ kann keine Rede sein.
1.2 Zu dem von der Mutter monierten Sachverständigengutachten zum psychosomatischen Zustand des Vaters hat das Rekursgericht auf das Neuerungsverbot verwiesen. Richtig ist, dass im Obsorgeverfahren trotz des im Rechtsmittelverfahren herrschenden Neuerungsverbots relevante aktenkundige Entwicklungen und Umstände, die die Tatsachengrundlage wesentlich verändern, im Interesse des Kindeswohls grundsätzlich zu berücksichtigen sind (RS0122192; RS0006893; 4 Ob 246/18g).
Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass die Voraussetzungen für eine Durchbrechung des Neuerungsverbots mangels Relevanz für die Tatsachengrundlage nicht gegeben seien, weicht von den Rechtsprechungsgrundsätzen nicht ab. Die Mutter macht zum behaupteten psychosomatischen Zustand des Vaters keine näheren Ausführungen und stellt auch keinen Bezug zur Kinderbetreuung her. Ihre pauschalen Behauptungen sind nicht geeignet, die Voraussetzungen für die Durchbrechung des Neuerungsverbots darzulegen.
2. In rechtlicher Hinsicht führt die Mutter aus, das Rekursgericht habe die Grenzen und Kriterien des ihnen zustehenden Ermessensspielraums missachtet.
Die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, welchem Elternteil bei beiderseitiger Obsorge die hauptsächliche Betreuung zukommt, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und bildet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage; ausschlaggebend ist die Orientierung am Kindeswohl (vgl RS0115719; RS0007101; RS0087024).
Das Rekursgericht ist auch von diesen Grundsätzen nicht abgewichen. Die behauptete Verletzung leitender Grundsätze der Rechtsprechung, die die Mutter gar nicht näher spezifiziert, liegt nicht vor. Die Vorinstanzen haben ihren Entscheidungsspielraum nicht überschritten.
3. Insgesamt gelingt es der Mutter mit ihren Ausführungen nicht, eine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen.
Der außerordentliche Revisionsrekurs war daher zurückzuweisen.
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