European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1975:0040OB00059.75.1021.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 3.499,20 (einschließlich S 259,20 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin war durch 20 Jahre als Angestellte bei der beklagten Partei beschäftigt. Am 8. Oktober 1973 brachte sie ein totes Kind zur Welt. Am 17. November 1973 kündigte sie das Dienstverhältnis zum 31. Dezember 1973.
Sie behauptet, daß ihr die Abfertigung im vollem Ausmaß zustehe, weil diese gemäß Punkt VIII des Kollektivvertrages für die Angestellten der Gemeinnützigen Wohnungswirtschaft Österreichs dann gebühre, wenn eine Dienstnehmerin innerhalb von sechs Monaten nach der Niederkunft auf eigenen Wunsch des Dienstverhältnis löst.
Die beklagte Partei hat den Anspruch der Höhe nach nicht bestritten, machte aber geltend, daß die Abfertigung der Klägerin nicht zustehe, weil unter „Niederkunft“ nur die Geburt eines lebenden Kindes verstanden werden könne.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es ging davon aus, daß die Klägerin nach Inhalt des eingeholten ärztlichen Gutachtens am 8. Oktober 1973 von einem Kind entbunden worden sei, das infolge diabetes mellitus abgestorben war. Es habe sich um eine Frühgeburt in der 33. Schwangerschaftswoche gehandelt. Dies sei als „Niederkunft“ im Sinn der angeführten Bestimmung des Kollektivvertrages zu beurteilen, weil nur eine Fehlgeburt oder ein Abortus nicht diesem Begriff unterstellt werden könne. Daß der Zweck der angeführten Bestimmung des Kollektivvertrages der sei, der Mutter eine Versorgung und die Möglichkeit zu bieten, sich ganz dem Kind widmen zu können und der Anspruch nur dann zustehe, wenn dieser Zweck erreicht werde, könne dieser Bestimmung nicht entnommen werden.
Die Berufung der beklagten Partei blieb erfolglos. Das Berufungsgericht ging – allerdings, ohne daß eine Neudurchführung der Verhandlung gemäß § 25 Abs. 1 Z. 3 Arbeitsgerichtsgesetz aus dem Verhandlungsprotokoll ersichtlich ist – vom selben Sachverhalt wie das Erstgericht aus und teilte auch dessen Rechtsauffassung. Eine Vernehmung des Zeugen Dr. W*, der bestätigen sollte, daß anlässlich der Verhandlungen über die angeführte Kollektivvertragsbestimmung Klarheit darüber bestanden habe, daß sie nur für den Fall einer Lebendgeburt gelten soll, lehnte das Berufungsgericht mit der Begründung ab, daß Kollektivvertragsbestimmungen wie Gesetz gemäß §§ 6, 7 ABGB objektiv auszulegen seien. Dagegen, die erwähnte Kollektivvertragsbestimmung lediglich nach ihrem angeblichen Zweck auszulegen, der Mutter die Möglichkeit zu geben, das Dienstverhältnis unter Wahrung des Abfertigungsanspruches zu lösen, um sich ganz dem Kind widmen zu können, spreche auch die Überlegung, daß der Abfertigungsanspruch unbestrittenermaßen bestehen bleibe, wenn das Kind zwar lebend geboren wurde, aber nach kurzer Zeit, noch vor der Kündigung des Dienstverhältnisses, stirbt. Nach Punkt X lit. c gebühre auch die Fortzahlung des Entgeltes für einen Arbeitstag bei Niederkunft der Ehefrau ohne Rücksicht darauf, ob das Kind lebend oder tot geboren wird. Der Geburtsvorgang sei, wenn das Kind tot geboren wird, für die Frau ebenso beschwerlich wie bei der Geburt eines lebenden Kindes; die Geburt eines toten Kindes bringe vielmehr regelmässig größere seelische Belastungen mit sich. Daraus, daß später die angeführte Bestimmung des Kollektivvertrages dahin abgeändert wurde, daß anstatt des Ausdruckes „Niederkunft“ die Worte „Geburt eines lebenden Kindes“ gesetzt wurden, könne nicht abgeleitet werden, daß der Ausdruck „Niederkunft“ bereits vorher diesen Inhalt gehabt habe. Er sei vielmehr in der erwähnten Bestimmung des Punktes X beibehalten worden, worin eine bewußte Gegenüberstellung zum Begriff der „Geburt eines lebenden Kindes“ erblickt werden müsse. Der Klägerin sei daher mit Recht die begehrte Abfertigung zugesprochen worden.
Dagegen wendet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern oder es aufzuheben.
Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Die Revision wendet sich zunächst zu Unrecht gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß der normative Teil eines Kollektivvertrages gemäß den Bestimmungen der §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen ist. Es ist vielmehr richtig, daß für die Auslegung eines Kollektivvertrages maßgelblich ist, welchen Willen des Normengebers der Leser dem Text entnehmen kann. Die Vernehmung von Personen, die am Zustandekommen des Kollektivvertrages mitgewirkt haben, über ihre Absichten kommt daher nicht in Betracht (ArbSlg 9.200, 8.980, 8779, 7.174, 6.689, SZ 40/150 ua).
Gegenüber dem Gebot einer objektiven Feststellung des Inhaltes des normativen Teiles eines Kollektivvertrages versagt auch der Hinweis der Revision, daß dabei nicht wie bei Gesetzen Hilfsmittel (z.B. Erläuternde Bemerkungen und ähnliches) zur Verfügung stehen. Es wurde übrigens bereits wiederholt darauf verwiesen, daß ein Gesetz aus sich selbst auszulegen ist und mit seinem Wortlaut, seiner Systematik und seinem Zusammenhang mit anderen Gesetzen über der Meinung der Redaktoren steht (ArbSlg 6.622, JBl 1961 243 ua). § 6 ABGB bestimmt nämlich, daß einem Gesetz in der Anwendung kein anderer Verstand beigelegt werden darf, als der, welcher aus der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und der klaren Absicht des Gesetzgebers hervorleuchtet. Dies gilt auch für den normativen Teil eines Kollektivvertrages und somit auch für die Auslegung der mehrfach erwähnten Bestimmung des Kollektivvertrages, wonach eine Dienstnehmerin den Anspruch auf Abfertigung behält, wenn sie innerhalb von sechs Monaten nach, der „Niederkunft“ das Dienstverhältnis auf eigenen Wunsch löst.
Es mag durchaus zutreffen, daß mit dieser Bestimmung auch erreicht werden sollte, der Mutter die Möglichkeit, bei dem Kind zu bleiben, zu erleichtern. Wenn dies aber der alleinige Zweck gewesen sein und der Anspruch nur unter dieser Voraussetzung gebühren sollte, hätte dies zum Ausdruck kommen müssen, etwa in der Form, daß diese Möglichkeit zur Zeit der Kündigung oder der Beendigung des Dienstverhältnisses noch gegeben sein muß. Demgegenüber besteht aber kein Zweifel, daß die Dienstnehmerin den Anspruch auf Abfertigung nach dieser Bestimmung des Kollektivvertrages behält, wenn das Kind lebend geboren wurde, aber noch vor der Kündigung oder Beendigung des Dienstverhältnisses gestorben ist, und daher tatsächlich auch keine Möglichkeit besteht, daß die Dienstnehmerin beim Kind bleibt. Wenn für den Anspruch auf eine Abfertigung bei Lösung des Dienstverhältnisses wegen der Geburt eines Kindes durch die Dienstnehmerin einzig und allein der Zweck maßgeblich sein sollte, dieser die Möglichkeit zu geben, beim Kind zu bleiben, wäre es folgerichtig, ihr nur jenen Teil zuzubilligen, der in einem Zeitraum fällig wird, währenddessen sie tatsächlich das Kind pflegen und betreuen kann. Diese überspitzte Ausrichtung des Anspruches nach diesem Gesichtspunkt war aber offensichtlich nicht gewollt und ist vor allem dem Wortlaut der angeführten Bestimmung des Kollektivvertrages nicht zu entnehmen. Darnach kommt es nämlich nur darauf an, daß die Lösung des Dienstverhältnisses über Wunsch der Dienstnehmerin innerhalb von 6 Monaten „nach der Niederkunft“ erfolgt. Die Revision erkennt durchaus richtig, daß eine sinnvolle Regelung für die Lösung des Dienstverhältnisses unter Wahrung des Abfertigungsanspruches einen maßgeblichen Zeitpunkt festlegen muß, auch wenn dabei der gewiß angestrebte Zweck, der Mutter die Möglichkeit, beim Kind zu bleiben, zu erleichtern, nur regelmäßig, aber nicht immer erreicht werden kann. Als solcher Zeitpunkt wurde bei der Schaffung der Bestimmung des § 23 a AngGes und in der dieser offenbar folgenden Neuregelung der Kollektivvertragsbestimmung mit Zusatzvertrag vom 11. April 1974 die „Geburt eines lebenden Kindes“ gewählt. In der früheren, für den vorliegenden Fall noch maßgeblichen, Fassung des Kollektivvertrages wurde jedoch der Ausdruck „Niederkunft“ gebraucht. Darunter wird nach dem ärztlichen Gutachten auch eine Frühgeburt, wie sie die Klägerin hatte, verstanden; es kann nur bei einer Fehlgeburt oder einem Abortus nicht von einer „Niederkunft“ gesprochen werden. Die Gleichstellung der Ausdrücke „Geburt“ und „Niederkunft“ entspricht auch dem allgemeinen Sprachgebrauch. Es wird darunter der Vorgang verstanden, durch den die Leibesfrucht aus dem mütterlichen Körper an die Außenwelt gelangt (vgl. Brockhaus 17 Band 6 828). Dieser Ausdruck ist somit gegenüber dem Begriff der „Geburt eines lebenden Kindes“ der allgemeinere, der auch die Geburt eines toten Kindes miteinschließt. Dies zeigt gerade die im § 23 a AngGes und in der Neufassung des Kollektivvertrages vorgenommene Differenzierung, die entbehrlich gewesen wäre, wenn unter „Niederkunft“ ohnehin nur die Geburt eines lebenden Kindes zu verstehen wäre. Mit Recht hat das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, daß trotz der Neufassung des Punktes VIII des Kollektivvertrages der Ausdruck „Niederkunft“ im Punkt X beibehalten wurde. Wenn aber beide Ausdrucksweisen den selben Inhalt hätten, wäre nicht einzusehen, daß die bisherige Ausdrucksweise in einem Punkt geändert, im anderen aber beibehalten wird. Die dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechende Bedeutung des Ausdruckes „Niederkunft“ in dem Sinn, daß damit die Geburt eines Kindes ohne Rücksicht darauf verstanden wird, ob es tot oder lebend zur Welt kommt, muß zumindest als objektiver Inhalt der hier maßgeblichen Kollektivvertragsbestimmung angesehen werden. Gegenüber dem objektiven Sinn des Wortlautes dieser Bestimmung können rechtspolitische Überlegungen und Zweckmäßigkeitserwägungen schon deshalb nicht durchschlagen, weil diese Auslegung mit dem Zweck der Bestimmung keineswegs unvereinbar ist. Dieser Zweck ist nämlich, wie bereits dargelegt, nur regelmäßig, aber nicht ausschließlich und immer darin gelegen, der Mutter die Möglichkeit, beim Kind zu bleiben, zu erleichtern. Ein weiterer Grund, der Dienstnehmerin die Möglichkeit zu geben, das Dienstverhältnis von sich aus unter Wahrung des Abfertigungsanspruches zu lösen, kann auch darin gesehen werden, daß die Dienstnehmerin auch nach der Geburt eines toten Kindes wegen der damit verbundenen seelischen Belastungen und Folgen das Bedürfnis hat, die berufliche Tätigkeit aufzugeben. Es stand den Kollektivvertragsparteien durchaus frei, welche Ereignisse für die Möglichkeit der Dienstnehmerin, das Dienstverhältnisse ohne Verlust des Anspruches auf Abfertigung von sich aus zu lösen, als maßgeblich festlegten. Da der für die Umschreibung dieses Ereignisses gebrauchte Ausdruck „Niederkunft“ nach seinem Sinn im allgemeinen Sprachgebrauch auch die Geburt eines toten Kindes umfaßt und dies bei der Klägerin zutraf, ist der von ihr erhobene Anspruch auf Abfertigung berechtigt.
Der Revision war somit ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 41, 50 ZPO, wobei Barauslagen für die Revisionsbeantwortung nicht zuzusprechen waren, weil der Klägerin Verfahrenshilfe bewilligt worden ist (ON. 1).
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