OGH 4Ob46/06b

OGH4Ob46/06b20.4.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Griß als Vorsitzende und durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel, Dr. Jensik und Dr. Musger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Karin P*****, vertreten durch den Vater Bernhard P*****, dieser vertreten durch Mag. Maximilian Gutschreiter, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei A*****-GmbH, *****, vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wegen 8.000 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 24. November 2005, GZ 1 R 218/05v-50, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 22. August 2005, GZ 31 Cg 35/04p-43, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Begründung

Die am 27. 11. 1992 geborene Klägerin ist Schülerin. Sie wurde am 3. 10. 2003 bei Benützung ihres von der Beklagten importierten Trittrollers dadurch verletzt, dass die infolge eines Konstruktionsfehlers unterdimensionierte Lenkstange brach. Sie begehrte von der Beklagten Schmerzengeld und die Feststellung, dass die Beklagte für „sämtliche unfallskausale Folgen" hafte. Nach dem Gutachten (ON 32) sind Spät- oder Dauerfolgen des Unfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Das Erstgericht stellte fest, dass aus medizinischer Sicht keine Hinweise für Spätfolgen vorliegen. Es gab dem Zahlungsbegehren teilweise Folge und wies das Mehrbegehren ebenso wie das Feststellungsbegehren ab.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil infolge Berufung der Klägerin in seinem abweisenden Ausspruch über das Leistungsbegehren und änderte es dahin ab, dass es dem Feststellungsbegehren teilweise (Haftung für sämtliche zukünftige unfallskausale Folgen des Vorfalls) stattgab; es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands zwar 4.000 EUR, nicht aber 20.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision zur Klärung der Frage zulässig sei, ob es für die Bejahung des Feststellungsinteresses ausreicht, wenn Spätfolgen zwar mit einer der Gewissheit nahen Wahrscheinlichkeit nicht eintreten werden, jedoch nicht auszuschließen sind, oder ob das Feststellungsbegehren abzuweisen ist, wenn Spätfolgen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sind. Aufgrund der wechselseitigen Standpunkte sei es unstrittig, „dass der Eintritt von Spätfolgen zwar nicht mit Sicherheit, allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unterbleiben wird". Für die Verneinung des Feststellungsinteresses bedürfe es jedoch der Gewissheit, dass es zu keinen Folgeschäden kommen werde. Solange - wie im Anlassfall - auch nur die geringste Möglichkeit bestehe, dass dasselbe Rechtsverhältnis aufgrund von Spätfolgen wieder strittig werde, sei es aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und der Entscheidungsrichtigkeit nicht zu rechtfertigen, wenn der Kläger nach Verstreichen eines langen Zeitraums seinen Anspruch nur deshalb auch dem Grunde nach neuerlich unter Beweis stellen müsse, weil seinerzeit Spätfolgen nicht gesichert, sondern lediglich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen gewesen seien.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist unzulässig.

1. Die Frage, ob eine Tatsache als gegeben anzunehmen ist, wenn deren Vorliegen - etwa durch ein Sachverständigengutachten - als „höchstwahrscheinlich" bezeichnet wird, betrifft im Regelfall das Beweismaß (§ 272 ZPO) und ist damit nicht dem materiellen Recht, sondern dem Verfahrensrecht zuzuordnen (1 Ob 228/01p). In den Tatsachenfeststellungen eines Urteils muss jedenfalls eindeutig zum Ausdruck kommen, ob mit der für die Erbringung des Beweises erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit ein bestimmter, für die Entscheidung wesentlicher Umstand festgestellt wird, oder dass eine solche Feststellung nicht möglich ist, weil der Umstand nicht mit dieser hohen Wahrscheinlichkeit als erwiesen angenommen werden kann (2 Ob 185/98i auch zur Frage des Regelbeweismaßes; 3 Ob 314/97s; RIS-Justiz RS0110701 [T1]).

Von der Frage des Beweismaßes für die Feststellung einer Tatsache ist die Frage zu unterscheiden, wie wahrscheinlich ein künftiger Schaden sein muss, damit ein Feststellungsinteresse im Sinne des § 228 ZPO zu bejahen ist. Während es bei der ersten Frage um den vom Richter bei der Beweiswürdigung geforderten Überzeugungsgrad geht, betrifft die zweite Frage das rechtliche Interesse an der alsbaldigen gerichtlichen Feststellung eines Rechtes oder Rechtsverhältnisses, wie es die Feststellungsklage nach § 228 ZPO voraussetzt. Wenn es daher für die Feststellung der Schadensursache genügt, dass der Richter - wie es dem Regelbeweismaß der ZPO entspricht (s Rechberger in Fasching/Konecny² vor § 266 ZPO Rz 11) - die Überzeugung gewinnt, es bestehe (jedenfalls) eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass (wie hier) ein Produktfehler zu einem Unfall und dieser zu Schäden geführt hat, so kann daraus entgegen der Auffassung der Beklagten nicht folgen, dass auch das rechtliche Interesse an der Feststellung der Haftung für künftige Schäden nur bejaht werden dürfte, wenn für den Eintritt künftiger Schäden eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht.

2. Ein Feststellungsinteresse ist nach ständiger Rechtsprechung schon dann zu bejahen, wenn die Möglichkeit offen bleibt, dass das schädigende Ereignis auch künftig einen Schaden verursachen könnte (RIS-Justiz RS0038976 [T1]; 2 Ob 30/05h; 2 Ob 162/05w), insbesondere weil die Unfallfolgen noch nicht abgeklungen sind und eine weitere ärztliche Behandlung notwendig ist, weil Dauerfolgen bestehen oder weil die Möglichkeit von Spätfolgen nicht gänzlich mit Bestimmtheit ausgeschlossen werden kann (RIS-Justiz RS0038976 [T20]). Eine Feststellungsklage ist daher selbst dann begründet, wenn feststeht, dass „Dauerfolgen nicht zu erwarten" sind (2 Ob 29/05m = RIS-Justiz RS0038976 [T21]) oder dass mit zukünftig eintretenden unfallskausalen Schäden „nicht zu rechnen" sei (2 Ob 119/04w; 2 Ob 40/04b = RIS-Justiz RS0039018 [T20]), weil in solchen Fällen ein späterer Schaden nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

3. Die Beklagte macht geltend, dass es auch Entscheidungen gebe, die - wie die Entscheidung 2 Ob 2087/96t - auf eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit des Ausschlusses künftiger Schäden abstellten.

Das trifft insoweit zu, als die Entscheidung 2 Ob 2087/96t aus der - zutreffend wiedergegebenen - ständigen Rechtsprechung schließt, die Feststellungsklage setze voraus, „dass künftige, aus dem Unfall resultierende Schäden nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sind". Auch der zu 2 Ob 162/05w ergangene Zurückweisungsbeschluss lässt es für die Verneinung des Feststellungsinteresses genügen, dass Spätfolgen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sind.

Im vorliegenden Fall sind nach dem Gutachten des Sachverständigen Spät- oder Dauerfolgen des Unfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Sind künftige Schäden (bloß) nicht zu erwarten, so kann dies nicht dem Fall gleichgehalten werden, dass der Eintritt künftiger Schäden ausgeschlossen werden kann. In diesem Sinn hat die Rechtsprechung ein Feststellungsinteresse auch dann bejaht, wenn mit künftigen Schäden „nicht zu rechnen" war (2 Ob 119/04w; 2 Ob 40/04b). Gleiches muss naturgemäß auch dann gelten, wenn eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit besteht, dass keine weiteren Schäden eintreten werden.

4. Die Klägerin hat in der Berufung das Fehlen der Feststellung gerügt, dass Spätfolgen im Hinblick auf das Alter der Klägerin, ihr Wachstum und die Entwicklung des Knochenapparats nie zu 100 % ausgeschlossen werden könnten. Sie hat damit im Zusammenhang mit dem abgewiesenen Feststellungsbegehren einen rechtlichen Feststellungsmangel geltend gemacht, der der Rechtsrüge zuzuordnen ist (Kodek in Rechberger, ZPO² § 496 Rz 4); die Fehlbezeichnung als Tatsachenrüge schadet nicht (§ 84 Abs 2 letzter Satz ZPO). Das Berufungsgericht war aufgrund dieser Rechtsrüge - entgegen der Auffassung der Zulassungsbeschwerde - befugt, ausgehend vom unstrittigen Sachverhalt auch die rechtliche Beurteilung des Feststellungsbegehrens zu überprüfen. Der behauptete Mangel des Berufungsverfahrens liegt daher nicht vor.

Entgegen dem - den OGH nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) - Ausspruch des Berufungsgerichtes hängt die Entscheidung somit nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab. Die Kostenentscheidung beruht auf § 40, § 50 Abs 1 ZPO. Da die Klägerin in ihrer Revisionsbeantwortung nicht auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen hat, diente ihr Schriftsatz nicht der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung.

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